Mehrere Mitglieder des Europäischen Parlaments, darunter die deutsche Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini, haben in einem Brief an Hugo Motta, Präsident der brasilianischen Abgeordnetenkammer, ihre Besorgnis über das Ende Mai im Kongress eingebrachte Allgemeine Gesetz zur Umweltlizenzierung (PL 2159/2021) geäußert.
Das Gesetz steht kurz vor der Verabschiedung und sieht vor, Umweltgenehmigungen durch vereinfachte Online-Erklärungen zu ersetzen, Pufferzonen zu indigenen Gebieten zu verkleinern und Großprojekte ohne Beteiligung betroffener Gemeinschaften zuzulassen.
Kritiker, darunter auch Brasiliens Umweltministerin Marina Silva, warnen vor schwerwiegenden ökologischen Folgen. Dazu zählen eine mögliche Zunahme der Abholzung im Amazonasgebiet, Eingriffe in indigene Gebiete sowie ein Rückschritt für internationale Klima- und Biodiversitätsziele. Das Gesetz wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen auch als „Devastation Bill“ (Verwüstungsgesetz) bezeichnet.
Die Abgeordneten fordern die brasilianische Legislative auf, den Gesetzentwurf nicht zur Abstimmung zu bringen, um das bisherige Niveau des Umweltschutzes in Brasilien aufrechtzuerhalten.
Auswirkungen innen- und außenpolitisch
Die Auswirkungen, die das Gesetz haben könnte, sind durchaus vielfältig. Innenpolitisch würde ein solches Gesetz die ohnehin einflussreiche und wenig umweltfreundliche Agrarlobby und damit auch Teile der konservativen Fraktionen stärken.
Umweltministerin Marina Silva hat sich klar gegen das Gesetz positioniert – was nicht der grundsätzlichen Richtung der gesamten Regierung entspricht. Ihr Widerstand könnte zu Spannungen innerhalb der Regierung führen, die ohnehin einen politischen Balanceakt zwischen Umweltschutz und wirtschaftlichen Interessen vollziehen muss und bereits jetzt weit hinter ihren Ankündigungen aber auch den Erwartungen zurückbleibt. Silva wirkt in ihrer zweiten Amtszeit als Umweltministerin in einer von Lula-Geführten Regierung ohnehin zurzeit zunehmend isoliert und alleingelassen. Die aktuelle Situation erinnert an ihre erste Amtszeit (2003-2008). Damals hatte sie sich entschieden gegen den Bau des umstrittenen und – wie sich inzwischen herausgestellt hat – überdimensionierten Staudamm Belo Monte am Fluss Xingu bei Altamira eingesetzt – erfolglos. Der Staudamm wurde gebaut, Silva verließ daraufhin enttäuscht die Regierung.
Eine Verabschiedung des Gesetzes ohne die Beteiligung indigener und zivilgesellschaftlicher Gruppen würde das Vertrauen in die Regierung Lulas weiter erodieren lassen. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte zu Beginn der Amtszeit eigens ein Ministerium für die Belange indigener Bevölkerungsgruppen eingerichtet – erstmals in der Geschichte Brasiliens.
Negatives Signal vor der UN-Klimakonferenz in Belém
Auch außenpolitisch könnte die Reputation Brasiliens leiden. Mit Blick auf die bevorstehende UN-Klimakonferenz im kommenden November in Belém würde ein widersprüchliches Signal gesendet: einerseits reklamiert Präsident Lula gerne internationale Führungsansprüche im Klimaschutz, andererseits würde die Deregulierung von Umweltstandards im Inland diese Ansprüche untergraben. Eine Schwächung der Umweltlizenzierung könnte auch die Fähigkeit Brasiliens, Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen oder dem Kunming-Montreal-Abkommen zur Biodiversität einzuhalten, untergraben.
Denkbar auch, dass ein solches Gesetz erneut die Verhandlungen im geplanten Freihandelsabkommen zwischen EU und Mercosul weiter belasten und verzögern könnte. Umweltauflagen spielen bei den Verhandlungen aus europäischer Sicht eine durchaus zentrale Rolle.
Viele Organisationen und Verbände in Brasilien sehen den Gesetzentwurf ebenfalls kritisch.
Breite Kritik aus der Zivilgesellschaft
Die Bundesstaatsanwaltschaft (MPF) hatte dem Senat vor der Einbringung des Gesetzes ein offizielles Dossier übergeben, in dem sie darauf hinweist, dass das Gesetz den Einfluss von Fachbehörden wie FUNAI (Indigenen Fragen) und des Nationalen Instituts für Kolonisierung und Agrarreform INCRA nur beratend regelt und nicht bindend. Außerdem ignoriere es nicht-homologierte indigene Gebiete und potenzielle Umweltfolgen für angrenzende Regionen. (MPF entrega a senadores documento com alerta sobre projeto de lei que enfraquece o licenciamento ambiental — Procuradoria-Geral da República)
In einer Stellungnahme vom 5. Juni bezeichnet der Bundesrat für Soziale Arbeit (CFESS) das Gesetz als „monumentalen Rückschritt“. Es kritisiert die Schwächung von Umweltprüfungen und demokratischen Kontrollorganen – insbesondere in Hinblick auf Mega-Mining und Energieprojekte. (CFESS | CFESS divulga nota de repúdio ao Projeto de Lei da Devastação (PL 2159/2021).
Als „ernsten Rückschritt“ bezeichnet auch die brasilianische Bischofskonferenz (Conferência Nacional dos Bispos do Brasil (CNBB)) den Gesetzentwurf. Dieser hebe demnach das Umweltlizenzverfahren de facto auf. Insbesondere die Aussetzung öffentlicher Anhörungen und Pufferzonen zu Schutzgebieten könnten wiederholte Katastrophen wie Brumadinho nach sich ziehen.
Ein Dammbruch an einem Abwasserbecken im Erzbergbau in der Kleinstadt Brumadinho in Minas Gerais hatte im Januar 2019 eine Schlammlawine mit 11,7 Millionen Kubikmetern Schlamm und Geröll ausgelöst. Diese zerstörte Gebäude und Einrichtungen auf dem Minengelände sowie Häuser in Siedlungen nahe der Stadt und tötete mindestens 270 Menschen. (Brazil’s dam disaster – BBC News)
Die Menschenrechtsorganisation Transparency International bezeichnet die Einführung der „Licença Ambiental Especial“ als „Einfallstor für Korruption“ und bezeichnete das Gesetz als „größter Rückschritt“ seit 40 Jahren in puncto öffentlicher Einflussnahme auf Genehmigungsverfahren. (PL 2159/2021: maior retrocesso ambiental dos últimos 40 anos e porta aberta para a corrupção |)
Quellen:
Die Recherche zu diesem Thema war KI-interstützt
Press release on the General Environmental Licensing Bill, PL 2159/2021 – Anna Cavazzini
Brazil’s dam disaster – BBC News
CFESS | CFESS divulga nota de repúdio ao Projeto de Lei da Devastação (PL 2159/2021)
Brasilien: Der umstrittene Staudamm Belo Monte – Die ganze Doku | ARTE