Irgendwie tendieren wir dazu, vom Preis eines Produktes auf seinen Wert zu schließen. Das ist der Grund, weshalb Hersteller ihre Produkte immer verlockender verpacken. Aber ein Ei bleibt nun mal ein Ei, egal, wie ich es verpacke. Preise sind im besten Fall okay, im schlimmsten Fall irreführend, wenn wir aus einem hohen Preis auf einen hohen Wert rückschließen. Und der Kaufmann dahinter? Ja, der ist auch nur ein Mensch wie du und ich.

Lang ist’s her, also noch zu D-Mark- und Pfennig-Zeiten, als ich mit meinem Bruder und einem griechischen Geschäftspartner an einem Stand der Münchner Modewoche griechische Silberwaren anpries. Heute heißt die Veranstaltung „Supreme Women & Men München“ (was natürlich viel cooler klingt), doch an den Praktiken hat sich garantiert nichts verändert. Versprochen.

Unsere Kunden waren hochwertige Modeschmuckläden bzw. alle Händler, die Echtschmuck zwischen 20 und 180 Mark verkauften. Da es immer noch Menschen gibt, die den Unterschied zwischen EK (Einkaufspreis) und VK (Verkaufspreis) nicht kennen: Der EK war der Preis, den die Händler an uns bezahlten, und der VK war der Preis, den sie für das Produkt in ihrem Laden anschließend verlangten.

Unsere übliche Kalkulation sah damals so aus: Eine Silberbrosche kostete z. B. bei uns 19 Mark (der EK), der Händler verkaufte sie dann für 38 Mark oder etwas mehr. 100 Prozent Aufschlag vom EK zum VK war so etwas wie der Goldstandard. Abzüglich aller Kosten wie Raummiete, Personalkosten, Heizung, Strom, Versicherungen, Pkw etc. blieben dem Händler von den 100 Prozent Aufschlag vielleicht 20 Prozent Gewinn. Reich werden konnte er davon in der Regel nicht, aber ordentlich leben, wenn das Geschäft einigermaßen lief.

Aber zurück zur Münchner Modewoche, wo Händler bei Großhändlern einkauften. Vorab muss ich ein wenig um Geduld und Mitdenken beim folgenden Vorspann bitten, damit Sie das wahre Ausmaß meines Themas nachvollziehen können.

Vorspann

Uns gegenüber auf der Messe stand eine indische Firma, geben wir ihr einmal den Namen Singh, was so viel heißt wie „Löwe“. Mister Singh war DER Modeschmuck-König. Sein Stand war ungefähr zehnmal so groß wie unserer, etwa 20 laufende Meter lang und 6 Meter breit. Mister Singh war nicht nur enorm erfolgreich, sondern auch enorm sparsam. Beispielsweise beschäftigte er an seinem Stand nur zwei Inderinnen, eine an der Kasse und die zweite zur Kundenbetreuung. Die Dekoration bestand aus zwei mannshohen Postern, mehr war nicht nötig, denn Mister Singh war bekannt. Der Stand war extrem einfach aufgebaut. Es gab drei ca. 18 Meter lange und ca. 1 Meter breite Tische, dazwischen zwei Laufgänge für die Kunden. In die Spanplatten der Tische waren ca. 60 x 60 Zentimeter breite, graue Plastikwannen eingelassen. Und in jeder der Wannen befand sich eine Sorte Modeschmuck. Jede Wanne war mit einer Farbe markiert, etwa einem grünen Punkt. Dieser Punkt stand für einen Standardpreis, also zum Beispiel 15 Pfennig. Die Ohrhänger in dieser Wanne kosteten dann je 15 Pfennig.

Als Kundin – meistens waren es Frauen – konnte ich mir am Standeingang mehrere kleine Einkaufswannen mitnehmen, z. B. eine grüne (für die 15-Pfennig-Produkte), eine gelbe (für die 25-Pfennig-Produkte) und eine rote (für die 1-Mark-Produkte). Damit ging ich durch die drei Gänge und nahm mir aus den Verkaufswannen so viele (unverpackte) Produkte, wie ich wollte, zum Beispiel eine große Handvoll Ohrhänger für je 15 Pfennig. Das waren dann ca. 40 Ohrhänger für einen Gesamtpreis von 6 Mark. Am Ende meines Einkaufs ging ich mit meinen Einkaufswannen zur Kasse. Dort wurden meine Modeschmuckartikel nicht etwa gezählt – das hätte unrentabel lange gedauert –, sondern meine Wannen wurden auf eine Waage gestellt und aus dem Gewicht der Preis errechnet. Was superschnell ging.

Ein satter Gewinn

Wir beobachteten mit Neid und Staunen die Geschäftsvorgänge gegenüber. Mister Singhs Stand boomte. 20 bis 30 Kundinnen pro Stunde waren normal, am Samstagnachmittag gab es Gedränge, während wir über drei Kundinnen pro Stunde hoch erfreut waren. Ein paar Wochen später, an einem schönen Samstagvormittag, bummelte ich durch die Würzburger Innenstadt und blieb vor einem Modeschmuckladen stehen. Vor dem Laden waren Verkaufsgestelle platziert, an denen Modeschmuck hing, der mir bekannt vorkam. Und siehe da, ich entdeckte einen Ohrhänger von Mister Singh, der bei ihm 15 Pfennig gekostet hatte. Hier kostete er 18 Mark. Und hätte ich nicht um den Einkaufspreis gewusst, hätte ich das für einen angemessenen Preis gehalten. Die Kupfer-Zink-Legierung dieses Ohrgeschmeides sah verblüffend golden und edel aus. Die 18 Mark erschienen da beinahe schon günstig.

Gegenüber dem einstigen Goldstandard (Aufschlag von 100 Prozent) hatte der Händler hier 11.900 Prozent aufgeschlagen. Da für einen solchen Aufschlag unsere Phantasie kaum mehr ausreicht, hier ein Vergleich: Ich würde ein Goldnugget von 15 Gramm mit einem EK von 1.363,05 Euro (beim gegenwärtigen Goldpreis von 90,87 Euro pro Grammi.) einkaufen und für 163.573,40 Euro verkaufen, von denen ich mir weitere 120 Nuggets zulegen würde, die ich …

Wofür es den „ehrbaren Kaufmann“ braucht

Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb wir die Vorgänge am Stand gegenüber mit einem gewissen Neid beobachteten. Zugegeben ist Neid kein lobenswertes Gefühl, aber Gier ist es ebenso wenig. Wir könnten unseren Gedankengang an dieser Stelle abbrechen, denn schließlich leben wir in einer freien Marktwirtschaft, in der jeder Händler für seine Produkte so viel verlangen kann, wie er will. Wenn es da nicht die besonders in Deutschland hochgehaltene Idee des „ehrbaren Kaufmanns“ gäbe. Die lief mir erst gestern wieder über den Weg, als sich ein Freund über einen überzogenen Preis aufregte (konkret wurde ein E-Bike-Akku, der vorher 790 € gekostet hatte, wenig später für 350 € verkauft). „Mein Lieber“, antwortete ich, „ein Händler verlangt für sein Produkt genau so viel, wie der Kunde bereit ist zu bezahlen.“ „Aber das ist doch unverschämt!“, rief er aus. Ich stimmte ihm zu, aber Scham spielt in diesem Zusammenhang nun wirklich keine Rolle. Viel wichtiger ist es, den Glauben hochzuhalten, es würde ehrbare Kaufleute geben. Mit einer solchen Mär halten wir nämlich Preise für tendenziell angemessen und sind viel eher bereit, sie zu bezahlen. Deshalb legen die Deutschen zum Beispiel für einen VW Golf ca. 2.000 Euro mehr auf den Tisch als die Spanier – bei gleicher Ausstattung.

Der Kaufmann ist auch nur ein Mensch

Vorhin habe ich die beiden moralinhaltigen Wörter „Neid“ und „Gier“ benutzt. Von einer solchen Sicht möchte ich gerne ablassen und lieber auf die psychologisch-soziologische Ebene überwechseln.

Fangen wir vielleicht mit der soziologischen an: Weshalb sollte ich mich als Kaufmann an unausgesprochene Regeln der Moral halten, wenn die Menschen, mit denen ich zu tun habe: 1. mir völlig fremd sind, 2. mir völlig egal sind und 3. sich vermutlich ebenso wenig moralisch verhalten wie ich? Verantwortungsgefühl kann ja nur aus einer Haltung der Zuständigkeit heraus entstehen. Ich fühle mich für meine Kinder verantwortlich, aber nicht für die Kinder von irgendwem. Die gehen mich (zumindest) theoretisch nichts an, was der Grund dafür ist, dass verwundete oder sterbende Menschen in Fußgängerzonen in der Regel nur bewirken, dass die Passanten einen kleinen Umweg machen, aber nicht helfen. Der Mitmensch ist längst durch den Mitkonsumenten ersetzt, der mir möglicherweise beim Discounter ein Schnäppchen wegschnappt. Die für „primitive“ Gesellschaften einzig richtige Gegenseitigkeit wurde durch Obrigkeit ersetzt: „Dafür ist doch der Staat zuständig.“ Und wenn der Staat sich nicht in meine Produktkalkulation einmischt, weshalb sollte ich mich da als Kaufmann anständig verhalten? Ist doch meine Sache.

Freilich lässt sich die soziologische von der psychologischen Ebene kaum trennen. Zumindest überschneiden sie sich. Verantwortungsgefühl ergibt sich aus der Zuständigkeit, aber auch aus der Transparenz. Wenn ich mit Ihnen, sagen wir mal, Marzipan teilen würde und ich Ihnen ein dreimal vier Zentimeter großes Stück gäbe, wären Sie mir vielleicht sogar dankbar (natürlich nur, wenn Sie Marzipan so gerne mögen wie ich). Wenn Sie aber wüssten, dass ich die restlichen 18 Zentimeter im Verborgenen für mich alleine futtere, dann hätte sich das mit dem Dankbarkeitsgefühl schnell erledigt. Umgekehrt würde ich mich bei Teilen anders verhalten, wenn Sie wüssten, wie viel ich wovon abgebe. So viel zur Transparenz. Ein noch stärkeres Motiv meines Handelns ist die Bedürftigkeit. Zum einen bin ich vielleicht ein seelisch instabiler Mensch, der viel äußere Bestätigung braucht. Dann werde ich mich umso besser fühlen, je mehr ich aus einem „Deal“ herausschlage. Zum anderen habe ich möglicherweise einen hohen Lebensstandard, der hoher Einnahmen bedarf; dann muss ich eben mehr verlangen als jemand, der mit wenig auskommt. Dann füge ich mich einfach den Sachzwängen, wie das schließlich jeder von uns tut. – Sie müssen das jetzt nicht lesen. – Ein gutes Beispiel, wie wenig Moral und Sachzwänge miteinander zu tun haben, lieferten uns die Tausenden von Aufseherinnen in Konzentrationslagern. Die meisten waren ursprünglich arme Fabrikarbeiterinnen, die sich von der guten Bezahlung in den KZs überzeugen ließen. So landen wir bei der völlig moralfernen Aussage: Der Kaufmann ist auch nur ein Mensch, weshalb Preis, Angemessenheit und Wert in der Regel wenig bis nichts miteinander zu tun haben.

Fazit

Unsere nur mit 100 Prozent Aufschlag arbeitende Firma hat irgendwann Pleite gemacht. Ein uns damals gut bekannter, gewitzter Echtschmuck-Hersteller hatte in Sri Lanka fertigen lassen, so dass er mit einem Aufschlag von 300 Prozent arbeiten konnte, wie er uns stolz erzählte, während seine halb bekleidete asiatische Gespielin auf seinem Schoß herumturnte (im Ernst). Er ist bis heute erfolgreich und hat längst zahlreiche Einzelhandels-Filialen gegründet, wo er aus den ursprünglichen 100 Prozent mühelos 600 Prozent macht. Im Vergleich zu jenen 11.900 Prozent noch lächerlich wenig.

Mein Vater, geboren 1924, pflegte zu sagen: „Handel ist legaler Betrug.“ Das ist zwar scharf formuliert, aber inzwischen finde ich: Da ist schon was dran, oder nicht?!