Leben und Töten – beides lässt sich moralisch begründen

Viele Menschen, wenn nicht gar die meisten, halten ihre Meinung für die Wahrheit. Ich will gar nicht behaupten, mir ginge es nicht manchmal ebenso. Beispielsweise bin ich anfällig für Sätze wie „Das war ein gutes Essen“. Die funktionieren so lange, wie ich von beifällig Nickenden umgeben bin. Erst wenn jemand sagt: „Na ja, ich fand’s eher mittelmäßig“, falle ich aus meinen Wahrheitswolken, bin kurz irritiert, bis ich begreife, dass mein Satz so hätte lauten sollen: „Das hat mir richtig gut geschmeckt.“

Wenn es aber schon bei so eher banalen Angelegenheiten irritierend wirkt, wenn meine Sicht der Dinge angezweifelt wird, wie ergeht es einem dann bei „ernsthaften“, also glaubenssatzfundierten Sätzen wie „Die Deutschen sind gute Demokraten“ oder „Es gibt nur zwei Geschlechter“ oder, noch radikaler: „Man darf Kinder nicht schlagen“ oder „Männer sind Schweine“?

Haben diese Behauptungen bei Ihnen sofort moralische Lichter angeknipst? Es wäre kein Wunder. Nun, hier geht es nicht darum, den Wahrheitsgehalt solcher Sätze zu diskutieren, geschweige denn die Frage zu stellen, ob es überhaupt „die Wahrheit“ gibt, sondern um die Frage der Moral, also letztlich darum: Was berechtigt mich zu urteilen und verurteilen?

Vom Stammtisch zum Schreibtisch

Lassen wir uns erst einmal ein paar kluge Sprüche dazu auf der Zunge zergehen:

Grillparzer meinte beispielsweise: „Moral, ein Maulkorb für den Willen“; die österreichische Schriftstellerin Marie Ebner von Eschenbach: „Es stünde besser um die Welt, wenn die Mühe, die man sich gibt, die subtilsten Moralgesetze auszuklügeln, an die Ausübung der einfachsten gewendet würde“; der französische Philosoph Marquis de Vauvenargues befand: „Strenge Moral vernichtet die Kraft des Geistes“, während Oscar Wilde zusammenfasste: „Die Moral ist immer die letzte Zuflucht der Leute, welche die Schönheit nicht begreifen.“

Solche Überlegungen können Pforten der inneren Wahrnehmung öffnen und Horizonte weiten. Sie sind ungeeignet für Moralistinnen, die am Stammtisch Moralin verspritzen, statt am Schreibtisch sitzend in Ruhe nachzudenken; etwa über die faktischen Grundlagen der Moral, aus der sich dann sinnvolle Forderungen ableiten lassen. Während also der Stammtischmoralist zum Beispiel urteilt: „Die Ökos sind alles Faulenzer; die sollen erst mal arbeiten, bevor sie ihr Maul aufreißen“, überlegt sich die Frau am Schreibtisch (oder auf dem Sofa), dass eine Menschheit ohne intakte Natur nicht überleben kann; ihre moralische Ableitung könnte dann lauten: „Zuerst kommt die Natur, dann kommt die Ökonomie.“ Am Stammtisch könnte ihr das den Ruf einer „Öko“ eintragen. Was aber geschieht in einem Land, wo Stammtischparolen immer häufiger ins Parlament wandern, um in neue Gesetze und Verordnungen gegossen zu werden?

Moral ist gut für Faule

Moral ist etwas für Faule. Sie gibt ein fertiges Gerüst vor, das einem das eigene Urteil erspart. Ein junger Mann, der im Bus einem alten Herrn nicht seinen Platz anbietet, wird kopfschüttelnd missbilligt: „So ist sie eben, die Jugend!“ Aber vielleicht ist der junge Mann sterbenskrank und der alte Herr kommt eben vom Fitnesstraining? Ein Mann, der mit einer jungen Frau schläft, die erst 5.475 Tage alt ist, handelt unmoralisch, drei Tage später drückt „man schon mal ein Auge zu“. Moralisch ist, was das Gesetz lehrt, die Moralistin glaubt an ewige Gesetze, auch wenn sie erst letztes Jahr erlassen wurden. Sie ahnt nicht, dass die Wirklichkeit fluide ist und das Ergebnis historischer sozialer und ökonomischer Prozesse, ausnahmslos und sie eingeschlossen. Ein Moralist weiß, was und wer gut und böse ist und ist überzeugt, auf der Seite der Guten zu stehen. Er fühlt sich aufgehoben, denn er denkt, was das Myzel der Masse denkt, deren Pilzkörper er ist.

Die Geschichte der einsamen Fußgängerampel

Vor zwei Tagen fuhr ich mit dem Fahrrad morgens gegen neun Uhr auf einer zweispurigen Innenstadtstraße durch Würzburg. Mein Rad war das einzige Verkehrsmittel weit und breit, 100 Meter vor und hinter mir weder Bus noch Auto oder Moped. Ein Stück vor mir, an einer Fußgängerampel, stand ein junger Mann, mit einer saloppen Kunststoffjacke zu dünn für die 3 °C gekleidet; in seiner Linken, lässig baumelnd, eine Getränkedose, die er gelegentlich an den Mund führte. Frierend stand er eine ganze Weile, von einem Bein aufs andere tretend, vor dem roten Licht, während ich auf ihn zufuhr; dann schaltete die Fußgängerampel auf Grün und er überquerte zügig die Straße – ein vorbildlicher Moralist. Was sind das für junge Leute, die in einer weit und breit leeren Straße frierend auf das grüne Ampelmännchen warten und sich dabei an ihrem Getränk festhalten? Ich will mich eines moralischen Urteils enthalten, aber zweifellos ist bzw. wird dieser Bursche ein guter Staatsbürger, fest verankert auf dem Boden des Grundgesetzes. Für die Würde des Menschen wird er mit Hurra in den Krieg ziehen, solange es Getränkedosen für Soldaten gibt.

Moral ist ein trefflicher Autopilot

Nun könnte leicht der Eindruck entstehen, ich sei jeglicher Moral abgeneigt. Das muss ich allein schon deswegen zurückweisen, damit mir morgen kein SEK die Wohnung stürmt (es gab schon geringere Anlässe). Nein, nein, manchmal schelte ich mich selbst einen Moralisten und ziehe mich an den Ohren; nein, nein, Moral ist ein trefflicher Autopilot, sofern die Richtung stimmt. Mit letzterem Zusatz möchte ich u. a. daran erinnern, dass ein Staatsanwalt im Jahr 1993 noch moralisch handelte, wenn er einen Mann wegen homosexueller Handlungen ins Gefängnis brachte und dies 1994 nicht mehr tat, nachdem der Paragraph 175 abgeschafft war.

Wir haben also drei hochmoralistische Zielgruppen identifiziert: die Denkfaulen, die Soldaten und die Staatsanwälte sowie deren Untertanen, die Polizisten mit und ohne Uniform. Richter befinden sich in einer vergleichbaren Situation. Als der Blutrichter Roland Freisler am 22. Februar 1943 im Schwurgerichtssaal des Justizpalastes in München Hans und Sophie Scholl „im Namen des Volkes“ zum Tode verurteilte, handelte er streng moralisch nach Recht und Gesetz. Sein moralischer Ton ist überliefert: „Schluss mit denen, die unsere Frauen und Kinder als Geisel für sich haben wollen, die unseren Führer vergiften wollten! Es muss ausgerottet werden mit Stumpf und Stiel, was ungesund ist. Die Säuberung hat schon begonnen, wer sehen will, kann es sehen.“ Ein Nazirichter konnte noch 1945 Todesurteile aussprechen und wenige Jahre später in der Bundesrepublik Ministerpräsident werden. Die Moral ist eben ein Chamäleon und richtet sich nach den Machtverhältnissen.

Gewissen – eine zweischneidige Sache

Wie aber bin ich handlungsfähig ohne moralische Vorgaben? Kann ich das überhaupt? Was tun Indigene ohne geschriebene Verfassung, ohne Bürgerliches Gesetzbuch und ohne Staatsanwalt? „Nun“, sagt man üblicherweise, „diese Wilden leben nach dem Gesetz des Dschungels“, oder etwas Ähnliches. Solange sie solche Gesetze nicht haben – und befolgen –, können sie nicht modern sein, „entsprechen nicht unserem hohen, zivilisatorischen Standard“. Vor Kurzem verbrachte ich, ganz unmoralisch, einige Wochen in Guatemala, wo 90 Prozent der Bevölkerung Indigene sind. Auf der anderen Seite des Lago Atitlán hatte einer von ihnen ein schweres Verbrechen begangen. Er wurde von der Polizei gefasst und bis zum bevorstehenden Prozess hinter Gitter gebracht. Ein paar Tage später stürmten Angehörige des Opfers das Gefängnis, schnappten sich den Mann und hängten ihn auf. So sind sie eben, die „Wilden“.

Aber vielleicht sind sie ja menschlicher als wir Moralisten; vielleicht ist ihnen ein Mord oder eine Vergewaltigung ein so starker Einbruch in ihr Weltverständnis, dass solche Untaten nur mit Blut zu heilen sind? Vielleicht gibt es Gewissen als eine Art natürliche Instanz, ganz unabhängig von Paragrafen; Gewissen als eine Stimmgabel zur Feinabstimmung der Welt? Vielleicht existiert in kleinen Gruppen so etwas wie ein intakter sozialer Körper, der als unverletzlich gilt und bewahrt werden muss, eine Art Naturmoral, die in Massengesellschaften wie der unseren durch eine anonyme, menschenferne Moral ersetzt werden muss? Allzu oft hat unser „Gewissen“ einen imperialen Touch nach dem Motto: Nur ein westliches Gewissen ist ein gutes Gewissen. Schlägt es nicht nach unserem Takt, ist es ein schlechtes Gewissen.

Moral ist eine zweischneidige Sache und Moralin eine bittere, in hoher Dosis oft tödliche Medizin. Moral wächst aus den trüben Sümpfen des Unbewussten, verankert sich als Gewissen und lässt sich leicht missbrauchen. Und wird leicht missbraucht – gestern, heute und morgen. Nicht immer, aber doch meistens folgt unser Gewissen Moralgesetzen und entlastet uns bei allen nur erdenklichen, aber gesetzlich gedeckten Untaten; und sei es nur dabei, Bäume umzusägen, die laut Gesetz kein Gegenstand von Moral sind, sondern nur „Dinge“, denen bestenfalls als verkäufliche „Festmeter Holz“ ein Wert zuwächst. Gewissen veranlasst aber auch Menschen, sich an ebendiesen Bäumen festzuketten, weil ihnen deren Leben heilig ist.

Was soll ich sagen?

Ich habe lange und immer wieder über diese Themen nachgedacht und bin zu keinem abschließenden Urteil gekommen – vielleicht auch deswegen, weil Urteilen etwas Selbstgerechtes anhaftet und mir die Verurteilten meist mehr am Herzen liegen als die Richter (es sei denn, diese würden verurteilt). Spontan will mir recht erscheinen, was Leben bewahrt und schützt; aber auch diese Faustregel kompliziert sich schnell: Wollen nicht auch Abtreibungsgegner Leben schützen? Soldaten glauben das auch zu tun. Wonach aber richtet sich der Glaube eines Soldaten? Der gute Wille ist kein Schutz vor bösen Handlungen. Vielleicht bin ich nur dann einigermaßen vor dem Schlimmsten gefeit, wenn ich vom schützenswerten Lebensinteresse des Opfers meiner Taten her denke: Ist das, was ich tue, lebensförderlich für Baum oder Strauch, für Russe oder Ukrainer, für Palästinenser oder Jude, für Mücke oder Mensch? Sophie Scholl hatte zweifellos recht: „Man muss etwas machen, um selbst keine Schuld zu haben. Dazu brauchen wir einen harten Geist und ein weiches Herz. Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur suchen wir sie zu wenig.“ Vor ihrer Hinrichtung sagte sie: „Die Sonne scheint immer noch.“ Was für ein Maßstab, was für ein Trost!? Es bleibt schwierig.