Vor acht Jahren trat der EU-Türkei-Deal in Kraft, mit dem Flucht in die Europäische Union verhindert werden sollte. Obwohl der Deal bis heute zu massivem Leid von Schutzsuchenden führt, halten sich falsche Behauptungen und der Mythos einer »Erfolgsgeschichte« hartnäckig. PRO ASYL kritisierte den Deal von Anfang an und setzt Fakten dagegen.

Der EU-Türkei-Deal wird in aktuellen Debatten, in deren Zentrum die Forderung nach einer weiteren Asylauslagerung steht, regelmäßig als Blaupause für Abkommen mit weiteren außereuropäischen Staaten angeführt. Trotz der massiven humanitären Katastrophe, die der EU-Türkei-Deal verursacht hat, behaupten Politiker*innen sowie Vertreter*innen von Think Tanks unermüdlich, der Deal von März 2016 sei ein Erfolgsmodell.

Dabei ist der Deal ursächlich für gravierende Menschenrechtsverletzungen von Geflüchteten in Griechenland und der Türkei: Für bislang mehr als 100.000 Schutzsuchende bedeutete und bedeutet er bis heute jahrelange Entrechtung, Gewalt und Perspektivlosigkeit in griechischen Elendszeltlagern. Gegen die fürchterlichen Auswirkungen des Deals kämpfen PRO ASYL und die Partnerorganisation in Griechenland, Refugee Support Aegean (RSA), seit über acht Jahren. Bereits vor 2016 waren die Zustände in griechischen Flüchtlingslagern unerträglich, der Deal hat diese jedoch noch verschärft.

Für bislang mehr als 100.000 Schutzsuchende bedeutete und bedeutet der Deal bis heute jahrelange Entrechtung, Gewalt und Perspektivlosigkeit in griechischen Elendszeltlagern.

Doch der Deal ist auch an seinen selbst gesteckten Zielen gescheitert. Anders, als in öffentlichen Debatten häufig behauptet, lässt sich der Rückgang der Ankunftszahlen von Schutzsuchenden in Griechenland nicht auf den EU-Türkei-Deal zurückführen. Auch, dass weniger Tote in der Ägäis zu beklagen sind, geht nicht auf den Deal zurück. Und während der Deal vorgibt, Schleuser-Netzwerke bekämpfen und damit Geflüchtete schützen zu wollen, bringt er im Gegenteil die Schutzsuchenden durch seine Abschottungsmaßnahmen in noch größere Gefahr.

Auch der EU-Bevölkerung erweisen Modelle wie der EU-Türkei-Deal einen Bärendienst, denn sie nähren die unerfüllbare Erwartung, dass Migration und Flucht durch »Managementmaßnahmen« reduzierbar seien. Dieses Versprechen kann jedoch nicht eingelöst werden und bildet damit den Nährboden für den weiteren Aufstieg von Rechtsextremen in Europa.

MYTHEN ÜBER AUSLAGERUNGSMODELLE AM BEISPIEL DES EU-TÜRKEI-DEALS

Befürworter*innen des Deals führen fälschlicherweise an, dass wegen des Deals weniger Schutzsuchende in Griechenland und damit in der EU ankämen: Der Deal habe einen Abschreckungseffekt. Da es zu weniger Überquerungen der Ägäis von der Türkei nach Griechenland komme, gebe es zudem weniger Tote. Manch einer vertritt auch die These, mit dem Deal werde das Geschäft der Schleuserei effektiv bekämpft, was letztlich Geflüchtete schütze. Nicht zuletzt ist auch das Narrativ stark, nur durch eine »Kontrolle« (sprich: Reduktion) von Flucht und Migration könne man den Rechtsruck in Europa aufhalten und das Asylrecht verteidigen.

Keine dieser Behauptungen ist zutreffend. Inmitten überhitzt geführter populistischer – und in großen Teilen rassistischer – Debatten werden solche faktenfreien Aussagen jedoch häufig unhinterfragt übernommen.

1. KEIN ABSCHRECKUNGSEFFEKT: ANKUNFTSZAHLEN SANKEN BEREITS VOR DEM DEAL

Schon vor dem EU-Türkei-Deal begannen die Ankunftszahlen von Schutzsuchenden in Griechenland über die Ägäisroute zu sinken. Nach einem sprunghaften Anstieg der Ankunftszahlen ab dem Frühjahr 2015 wurde laut UNHCR-Angaben im Oktober 2015 der bisherige Höhepunkt erreicht (211.663 Ankünfte). Danach kamen jeden Monat stetig weniger Schutzsuchende in Griechenland an. Der Rückgang der Ankünfte geht der Unterzeichnung des EU-Türkei-Deals am 18. März 2016 also voraus und folgt nicht auf diesen.

Es ist zudem nicht ersichtlich, dass sich dieser rückläufige Trend nach dem 20. März 2016, dem Stichtag des Abkommens, verstärkt hat. Thomas Spijkerboer, Professor für Migrationsrecht an der Vrije Universiteit Amsterdam, kam deshalb bereits im September 2016 zu dem Ergebnis, dass der EU-Türkei-Deal keinen erkennbaren Einfluss auf die insgesamt rückläufige Zahl der Überfahrten in der Ägäis hatte.

Im Gegenteil könnte der vorübergehende Anstieg der Ankünfte in den Wochen kurz vor dem Abschluss des Abkommens damit erklärt werden, dass ein »Jetzt-oder-nie«-Effekt eingetreten ist – also Menschen, die von dem Abkommen gehört haben, die Ägäis noch kurz vor Abschluss des Deals zu überqueren versuchten. Damit hätte der Deal kurzfristig sogar das Gegenteil von dem erreicht, was er bezweckte.

2. FLUCHT UND MIGRATION SIND KOMPLEX, VEREINFACHTE ERKLÄRUNGSMODELLE POPULISTISCH

Den EU-Türkei-Deal als einzige, also monokausale Erklärung für weniger werdende Ankünfte anzuführen, greift zudem viel zu kurz und offenbart ein grundlegendes Missverständnis von Flucht- und Migrationsdynamiken. Flucht und Migration sind äußerst komplexe Phänomene, die von vielen Faktoren beeinflusst werden. Individuelle Entscheidungen zu gehen oder zu bleiben werden in einem größeren geografischen und zeitlichen Kontext getroffen, der von unterschiedlichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen geprägt ist. Sie lassen sich durch einzelne restriktive Maßnahmen, wie etwa Grenzkontrollmaßnahmen, nicht einfach steuern – dies legen viele der aktuell prominent diskutierten restriktiven Maßnahmen wie etwa die Einführung von Bezahlkarten oder die Kürzungen von Sozialleistungen jedoch nahe. Diese Vorstellung basiert auf wissenschaftlich längst widerlegten Modellen zu vermeintlichen Push- und Pull-Faktoren.

Der Einfluss des Deals ist, soweit überhaupt vorhanden, mindestens sehr begrenzt. In der Wissenschaft kursieren andere Erklärungsversuche für den Rückgang der Ankunftszahlen ab Herbst 2015, etwa sich ändernde Migrationsrouten, Grenzkontrollen auf der Westbalkanroute sowie das Anfang 2016 in der Türkei gewährte Recht auf Arbeit für Syrer*innen. Andere verweisen auf die russische Intervention in Syrien, die Ende September 2015 begonnen hat und durch die Fluchtwege in die Türkei abgeschnitten worden seien, auf »saisonale Effekte« oder darauf, dass viele Syrer*innen in der Türkei zu diesem Zeitpunkt aus anderen Gründen nicht mehr nach Europa weiterwandern wollten.

PRO ASYL hat die sich verändernden Fluchtbewegungen in den Jahren 2015/2016 in Echtzeit beobachtet, beschrieben und zum Teil rechtlich interveniert. Bereits im Vorfeld des EU-Türkei-Deals hatten EU-Länder eine ganze Reihe Abschottungsmaßnahmen installiert, um Schutzsuchende von der Einreise in die EU abzuhalten: Grenzschließungen, Pushbacks und Visa-Verschärfungen erschwerten bis verunmöglichten vielen Schutzsuchenden die Flucht. Am 8. März 2016 wurde der sogenannte humanitäre Korridor auf der »Balkanroute« faktisch geschlossen. Dieses Datum markierte zugleich den Beginn für die systematische Ausweitung von meist brutalen Pushback-Praktiken in ganz Europa.

Klar ist: Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, warum Menschen sich (nicht) auf den Weg machen. Eine Evidenz dafür, dass der EU-Türkei-Deal einen Abschreckungseffekt – andere sprechen zynischerweise von »Entmutigung« – für schutzsuchende Menschen haben könnte, lässt sich wissenschaftlich nicht herstellen.

3. DER EU-TÜRKEI-DEAL RETTET KEINE LEBEN

Ein weiterer Mythos über den EU-Türkei-Deal lautet, dass er dazu geführt habe, dass weniger Menschen sterben, da weniger Menschen die Überfahrt gewagt hätten. Diese Behauptung basiert bereits auf der falschen Annahme, dass wegen des Deals weniger Menschen in Griechenland ankommen. Dennoch ist dieses Narrativ gefährlich, denn es verleiht der Forderung nach einer weiteren Auslagerung des Flüchtlingsschutzes einen humanitären Anstrich.

In der Tat kamen im Jahr des Abschlusses des EU-Türkei-Deals nach UNHCR-Angaben auf der östlichen Mittelmeerroute deutlich weniger Menschen ums Leben (441) als noch im Jahr 2015 (799). Die Zahl der Toten im Jahr 2016 ist jedoch mit den Zahlen aus dem Jahr 2014, also noch vor dem Deal, vergleichbar (405). Einen Beleg dafür, dass die Entwicklung der Todeszahlen seit 2016 mit dem EU-Türkei-Deal in Verbindung gebracht werden könnte, gibt es nicht.

In den letzten Jahren sind die Grenzen tödlicher geworden: Vor dem Deal im Jahr 2015 starb laut UNHCR-Angaben eine von rund 1.000 Personen, die die Überfahrt nach Griechenland wagte – im Jahr 2022 bereits eine von etwa 55 Personen. 2023 war das tödlichste Jahr seit langem, wie im Jahr 2015 wurden 799 Tote und Vermisste durch den UNHCR in der Ägäis gezählt. Die UNHCR-Angaben sind ungenau, von einer hohen Dunkelziffer muss ausgegangen werden.

Es ist Populismus zu behaupten, mit Modellen wie dem EU-Türkei-Deal könnten Menschenleben gerettet werden, denn es gibt keinen erkennbaren Gesamteffekt des Deals auf die Todeszahlen.

Der Grund: Die Gewalt in der Ägäis hat massiv zugenommen. Gewaltsame Pushbacks durch griechische Behörden, die auch einen Anteil an der Reduktion der Ankünfte haben dürften, sind inzwischen Teil des Systems geworden – toleriert von der EU. Selbst das Erreichen einer Insel garantiert nicht, vor einem Pushback verschont zu bleiben. Und die türkische Küstenwache fängt, finanziert durch die EU, fliehende Menschen auf dem Meer ab.

Es ist Populismus zu behaupten, mit Modellen wie dem EU-Türkei-Deal könnten Menschenleben gerettet werden, denn es gibt keinen erkennbaren Gesamteffekt des Deals auf die Todeszahlen. Mit dieser Begründung für ein Modell zu werben, das für massives Leid und die Verweigerung von Schutz für Tausende Geflüchtete in Griechenland und der Türkei verantwortlich ist, ist überaus zynisch. Wer aufrichtig wünscht, dass niemand auf der Flucht sterben muss, der setzt sich für sichere und legale Fluchtwege sowie für Seenotrettung ein.

4. ABSCHOTTUNGSMASSNAHMEN MACHEN SCHUTZSUCHENDE ANFÄLLIGER FÜR AUSBEUTUNG

Der Ansatz dieser und ähnlicher Abkommen mit Nicht-EU-Staaten, Fluchtrouten möglichst zu schließen, führt erwiesenermaßen häufig dazu, dass fliehende Menschen andere und oftmals gefährlichere (und teurere) Routen nehmen (so auch zum Beispiel Niger oder Großbritannien). Ein tragisches Beispiel dafür ist das Schiffsunglück vor der italienischen Stadt Crotone, bei dem 2023 mehr als 94 Menschen starben. Das Boot fuhr in der Nähe der türkischen Küstenstadt Izmir los. Die griechischen Ägäis-Inseln sind von dort nicht weit, jedoch wählen immer mehr Schutzsuchende die längere und damit gefährlichere Route nach Italien, um den Pushbacks durch Griechenland zu entgehen.

Wenn Schutzsuchende aus Angst vor einer Rückführung in die Türkei noch gefährlichere Wege wählen, um nicht entdeckt zu werden, erhöhen sich jedoch die Gefahren und das Risiko für Ausbeutung. Solange es keine sicheren und legalen Fluchtwege gibt, sind Schutzsuchende dabei zudem leider weiter auf Dienstleistungen von Schleuser*innen angewiesen, die man mit solchen Abkommen zu bekämpfen vorgibt. Doch solche sicheren Fluchtwege will die EU nicht schaffen. Und so gibt es im Kontext des syrischen Bürgerkriegs, der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan oder der Gewalt gegen die Frauenrevolution im Iran für viele Betroffene auch weiterhin keine andere Lösung, als mit Hilfe von Schleuser*innen das Land zu verlassen, auf der Suche nach Schutz und Sicherheit.

5. POLITIK DER VERANTWORTUNGSVERWEIGERUNG STÄRKT RECHTE UND RECHTSEXTREME KRÄFTE

Abschottungsmaßnahmen suggerieren einfache Lösungen für die komplexen Herausforderungen, die mit der Ankunft von Schutzsuchenden entstehen. Forderungen nach weiteren Modellen der Verantwortungsauslagerung nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals nähren dabei die falsche Erwartung, dass es möglich sein könnte, Migration und Flucht zu unterbinden.

Dieses unrealistische Kontroll-Versprechen kann jedoch nicht erfüllt werden und spielt denen in die Hände, die Flüchtlingsschutz und Menschenrechte weiter untergraben wollen. Durch Abschottungsforderungen stärken Befürworter*innen das Narrativ, dass Migration und Flucht bedrohlich und zu verhindern seien. Sie tragen dazu bei, die gesellschaftliche Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland und Europa weiter zu untergraben. Durch die Normalisierung rechter Positionen erhalten zudem rechtspopulistische und ‑extreme Kräfte in Deutschland und in der EU weiteren Aufwind.

Abkommen mit Nicht-EU-Staaten nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals sind keine »Zauberformel« für die aktuellen Herausforderungen. Ganz im Gegenteil tragen solche Forderungen dazu bei, dass zahlreiche neue Probleme entstehen!

Abkommen mit Nicht-EU-Staaten nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals sind keine »Zauberformel« für die aktuellen Herausforderungen. Ganz im Gegenteil tragen solche Forderungen dazu bei, dass zahlreiche neue Probleme entstehen, etwa wenn die EU sich durch Deals mit Autokraten wie Recep Tayyip Erdoğan erpressbar macht. Seit dem Putschversuch in der Türkei wenige Monate nach Unterzeichnung des Deals schreitet der autoritäre Staatsumbau in dem Land voran. Seit 2023 ist die Türkei das zweitstärkste Herkunftsland von Asylsuchenden in Deutschland, besonders Kurd*innen suchen hier Sicherheit. Doch die Bundesregierung sowie die Europäische Union halten sich mit Kritik an staatlicher Verfolgung sowie den Menschenrechtsverletzungen des Erdoğan-Regimes, etwa in Nordsyrien oder dem Nordirak, auffallend zurück – denn sie haben sich abhängig gemacht von einem Land, das paradoxerweise tagtäglich weitere Geflüchtete »produziert«.

Die Beschäftigung mit Scheinlösungen à la Abschottung, Abschreckung und Auslagerung bindet in großem Umfang Ressourcen und hält Deutschland und die EU davon ab, die Ursachen von Flucht anzugehen, soziale Infrastruktur auszubauen sowie Asyl- und Aufnahmesysteme zu verbessern.

(hk, wr)

Der Originalartikel kann hier besucht werden