Joachim Gauck und Juli Zeh diskutieren über ein erschüttertes Deutschland, Patriotismus und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Tim Guldimann für die Online-Zeitung INFOsperber

Red. Der frühere Schweizer Diplomat Tim Guldimann fasst sein Podcast-Gespräch zusammen. Diesmal mit dem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck und der Autorin und Verfassungsrechtlerin Juli Zeh.

Krieg in Europa, schwächelnde Wirtschaft, gefährdeter Wohlstand, marode Infrastruktur, eine scheinbar blockierte Regierung: Deutschland ist derzeit mehreren Erschütterungen ausgesetzt. Das überfordert viele Menschen. Ihr Vertrauen in den Staat schwindet. Der nicht aufzuhaltende Erfolg der Rechtspopulisten gefährdet Rechtsstaat und Demokratie und spaltet die Gesellschaft.

Joachim Gauck stellt klar, dass er «den apokalyptischen Grundton» meines provokativen Eingangsstatements so nicht teile. «Wenn man die Angst zu einer Nationalkultur erhebt, wie es in Deutschland einige tun, dann ist Zukunft weit weg», sagt Joachim Gauck. Gauck ortet ein Problem bei den «Menschen, die Angst haben, nicht mehr beheimatet zu sein, dort, wo sie leben. Dann entstehen Suchbewegungen, und dann geht es nach rechts aussen, wo diese Ängste bewirtschaftet werden.»

Juli Zeh ergänzt: «Wo viele Leute anfangen, sich un-beheimatet zu fühlen, setzt eine Art Erosion ein.» Der Versuch, sehr komplexe Dinge mit «konkurrierenden Apokalypseerzählungen einfach zu machen», dürfe aber nicht die Antwort darauf sein. «Die ganz Rechten haben ihre eigene Erzählung, die heisst dann ‹Überfremdung›, ‹Umvolkung›, oder von liberaler Seite: ‹Die Freiheit ist zu Ende›.»

Es brauche «eine positive Erzählung», so Zeh, um den Menschen wieder klarzumachen: «Guck doch, wir sind doch eine Rechtsgemeinschaft, und es gibt Bedrohungen. Wir müssen uns zusammenschliessen, wir müssen das verteidigen.»

Er sei stolz auf dieses Deutschland, das nach tiefstem Fall zu einer beeindruckenden Form von Rechtsstaatlichkeit gefunden habe, sagt Joachim Gauck und verweist auf die Rechtstreue der Bürger, die Menschenrechte, die Friedenspolitik, die Schaffung von Wohlstand.

Ein stolzer Verfassungspatriot also?

«Ja», sagt Gauck, doch er relativiert: Verfassungspatriotismus sei für intellektuelle Menschen zwar ganz wesentlich, doch daneben müssten die Menschen auch eine emotionale Verbundenheit mit ihrem Land spüren. Gauck spricht von einer «politischen und einer persönlichen Beheimatung» und zitiert dazu Tucholsky: «Es gibt Situationen, da sagst du DU zu dem Ort, wo du bist.»

Für dieses Verbundenheitsgefühl genügten «Bäume, Felder und die Meere nicht», wendet Juli Zeh ein. Es müsse eine «ungeschriebene Vereinbarung hinzukommen, die eben nicht in der Verfassung niedergelegt ist, sagt Juli Zeh. Es sei so etwas wie «eine stumme Einverständniserklärung, dass wir als Bürger dieses Landes ein sich selbst verwaltendes Kollektiv sind, das irgendwie zusammengehört». Man habe zu wenig gearbeitet am ideellen Wert der Dinge, sagt Gauck, und sich stark darauf verlassen, «dass das Wachstumsversprechen genug Bindungswirkung und Strahlkraft hat».

Wir müssten «uns erlauben, einfach mal zu sehen, was gut ist», sagt Juli Zeh. Für diese positive Erzählung müsse man das Zeitfenster grösser fassen. Entscheidend sei nicht der ökonomische Fortschritt der letzten Jahrzehnte sondern der humanistische, der sich über 200 oder 300 Jahre erstreckt. Tatsächlich sei so vieles besser geworden, und es stehe nirgendwo geschrieben, dass wir jetzt am Endpunkt angelangt seien. Und Juli Zeh weiter: «Es ist ein narzisstischer Reflex zu sagen, wir sind aber die letzten, nach uns kommt nichts mehr. Es kann nicht mehr besser werden als das, was wir waren.»

«Debatte zu Dritt»

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