Mit diesem Roman ist ein sehr gutes Rundum-Bild einer relativ progressiven Stadt wie Portland gelungen, die sich von einer alternativen, hippen, woke-toleranten Stadt durch das drängende und eskalierende Obdachlosenproblem in einen großflächigen Problembezirk verwandelt. Dabei werden sehr viele Sichtweisen beleuchtet.

Erstens die Probleme der Wohnungslosen, die durch das amerikanische Turbokapitalismussystem ohne Krankenversorgung und soziale Absicherung bei Notfällen plötzlich ins Prekariat auf der Straße gerutscht sind. Dieses Milieu wird durch die Protagonisten Katie und John und ihre wohnungslosen Freunde beleuchtet. Dabei sind die beiden durchaus nicht aus der ungebildeten Unterschicht, sondern durch besondere Umstände wie Depression und partnerschaftliche Gewalt inklusive Stalking in diese Situation gerutscht.

Einen weiteren Blickwinkel auf die Stadt und ihre Probleme bietet die linke bildungsbürgerliche Klasse, die von Helen und Richard verkörpert wird. Sie haben sehr viel Empathie mit den Armen der Stadt, agitieren als Journalisten in einer relativ linken Zeitung auch für mehr Toleranz gegenüber den Obdachlosen, sind aber dennoch verängstigt, wenn dieselben „lieben Leute“, für die man unbedingt Verständnis zeigen soll, vor der eigenen Wohnungstür herumliegen. Da hört sich die theoretisch gelebte Toleranz nämlich auf, wenn diese Penner praktisch und real ins Leben der linken BOBO-Milieus einbrechen und die Kapital-Werte der mit harter Arbeit erworbenen Häuser in den Boden fallen lassen. Natürlich ist das immer mit ein bisschen Scham und schlechtem Gewissen verbunden, denn so wie diese anderen rechten Socken möchte man dann ja doch nicht sein, man ist ja so intellektuell und progressiv.

Hier zeichnet Eske Hicken ein großartiges Bild von Figuren und Personen aus beiden Gruppen, die überhaupt nicht schablonenhaft konzipiert sind, im Gegenteil, irgendwann entwickelt sich Katie weiter, aus ihrer Obdachlosigkeit heraus und bekommt Probleme mit John und Richard rutscht politisch ein bisschen zu den Republikanern, da er von den Problemen direkt vor der Haustür betroffen ist. In beiden Beziehungen, die ordentlich kriseln, werden die unterschiedlichen Positionen sehr interessant thematisiert, diskutiert und im Rahmen von heftigen Konflikten neu ausverhandelt. Das hat mir ausnehmend gut gefallen.

Ach ja, die letzte Gruppe der erzkonservativen rechten Recken, kommt natürlich auch nicht zu kurz, da gibt es einen Nachbarn von Richard und Helen, eine politische Initiative, die hetzt und agitiert und die Wohnungslosen in einem Überschwemmungsgebiet außerhalb der Stadt ghettoisieren und sich selbst überlassen möchte und einen irren Mörder, der des Nachts Jagd auf Obdachlose macht, sie angreift, ihre Zelte mit Spiritus überschüttet und sie alle verbrennen will. Ein paar Todesfälle hat es auch schon gegeben.

Ihr seht also, auch im Plot tut sich auch einiges, gesellschaftlich, journalistisch und auch politisch, denn es wird sehr gut und spannend thematisiert, dass der Straftäter, der aus dem rechten Milieu zu kommen scheint, durchaus auch bei der Polizei arbeiten könnte und von den Kollegen gedeckt wird. Diese und andere Missstände decken Helen und ein paar Kollegen bei der Zeitung auf, die sich übrigens auch gerade in einem Umbruch befindet, was die Figurenentwicklung von Richard enorm vorantreibt.

Zudem wird großartig beschrieben, wie Obdachlose ihren Tag verbringen (müssen), ständig auf der Suche nach einer Dusche, nach Essen und Schlafplätzen, quer durch die Stadt fahrend, da die unterschiedlichen Einrichtungen so weit voneinander entfernt an der Peripherie sind. Da ist schnell der gesamte Tag ausgefüllt, sich die grundlegenden Bedürfnisse zu organisieren. Katie hat ja anfangs noch einen Job, der ihr aber nicht das nötige Geld für eine Unterkunft sichert. Sie ist somit Working poor und verliert diese letzte Stütze, als nach und nach herauskommt, dass sie obdachlos ist und teilweise eben keine Möglichkeit zum Duschen findet. Das war extrem erhellend und spannend, wie sehr dieser Stress an den Leuten nagt und dann noch zusätzlich der mangelnde Schlaf dazukommt, da es auf der Straße und in den Unterkunfts-Einrichtungen auch sehr laut und gefährlich ist.

Ein Aspekt des Romans hat mir weniger gefallen. Um möglichst ein breites Stimmungsbild der Stadt zu präsentieren, wendet die Autorin Szenenwechsel und Figurenwechsel inflationär wie mit dem Stroboskop an. Der Text ist sehr kleinteilig fragmentiert, manchmal nur ein paar Zeilen oder nur zwei Absätze. Dadurch erscheinen die handelnden Personen über weite Strecken sehr oberflächlich, aber irgendwann bekommen sie durch die kleinen Schnipsel, die von der Rezeption her mühsam zusammengesetzt werden müssen, gegen Ende des Romans ordentlich Tiefe und Entwicklungspotenzial. Vielleicht war ich da zu Beginn ein bisschen zu streng, aber ich habe hier immer Derry von Stephen King als Qualitätsstandard im Sinn, der mich trotz der vielen Szenenwechsel schon von der ersten Seite an bezüglich Lokalkolorit der Stadt und Figurentiefe gepackt hat. Bei diesem Roman dauerte es bei mir bis mehr als über die Hälfte, bis sich hier eine Beziehung zu den Figuren aufbauen konnte.

Fazit: Trotz der kleinen Schwächen zu Beginn ob der häufigen Szenen- und Figurenwechsel ein Roman, den ich wärmstens empfehlen kann, weil er im Finale alles auflöst, was er zu Beginn verspricht: Eine differenzierte, intensive politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem von Armut und Obdachlosigkeit. Spannungen zwischen mehreren gesellschaftlichen Milieus, nicht nur an der Oberfläche gekratzt und thematisiert, sondern tiefergehend mit vielen Facetten analysiert, ein sehr interessanter packender Plot und das Sittenbild einer modernen alternativen hippen Großstadt, die arg an ihrer Armutsproblematik krankt.

Homeless von Eske Hicken ist im Westend Verlag unter Edition W als Hardcover erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.

Rezension von 

 

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