Am 27. Juni kam der 17-jährige Nahel ums Leben, getötet durch den Schuss eines Polizisten während einer Verkehrskontrolle. Vor ihm verstarb am 14. Juni der 19-jährige Alhoussein Camara, der auch bei einer Verkehrskontrolle durch den Schuss eines Polizisten wegen „Nichtbefolgens einer Anordnung“ getötet wurde. Und sie sind nicht die einzigen. Der Tod dieses jungen Guineers, der 2018 nach Frankreich kam und in Angoulême (Stadt in der Dordogne) lebte und arbeitete, wurde in der nationalen Presse unter den Teppich gekehrt. Warum dieses Schweigen in den Medien: Niemand auf der Straße, der die Szene mit seinem Handy filmt!

Alhoussein ging wie jeden Tag zur Arbeit und verließ um 4 Uhr morgens das Wohnheim, in dem er lebte. Er starb um 4:50 Uhr. Umgehend wird die Version der Polizei, die den jungen Mann beschuldigt, als absolute Wahrheit angesehen: „Das ist ein jugendlicher Straftäter, der versucht hat, einen Polizisten zu überfahren“.

Seitdem hat sich die Situation weiterentwickelt, die Staatsanwältin hat weitere Auskünfte gegeben. Seine Papiere waren in Ordnung und er hatte sich gerade ein Auto gekauft, sein Strafregister war sauber. Weder Alkohol noch Drogen im Innenraum, alle toxikologischen Untersuchungen stellten sich als negativ heraus. Sie legt dar, dass die Verfolgungsgeschwindigkeit „ ein relativ niedriges Tempo“ hatte und dass er an einer roten Ampel angehalten hat. Wie lässt sich unter diesen Umständen ein Nichtbefolgen einer Anordnung mit Unfallflucht begründen? Er hatte keinen Grund, vor der Polizei zu fliehen.

Es waren nicht ein, sondern zwei Polizeifahrzeuge, die ihn vorläufig festnehmen wollten. Im Morgengrauen allein auf der Straße, wie kann man keine Angst haben, wenn man jung ist, dunkle Hautfarbe hat, in der Nähe einer Stadt und die Sonne noch nicht aufgegangen ist? Die Ermittlungen sind noch im Gange, gegen den Polizisten wurde Anklage wegen „Totschlags“ erhoben, damit „weitergehende Untersuchungen“ durchgeführt werden können. Heute ist er frei unter richterlicher Aufsicht, ohne das Recht, eine Waffe zu gebrauchen noch tragen zu dürfen.

Die Tatsache, die noch mehr Fragen aufwirft, ist, dass die vom Polizisten getragene Körperkamera die Bilder nicht aufgezeichnet hat. Den Polizisten zufolge war „die Aufladung der Batterie zum Zeitpunkt der Tat nicht ausreichend, um die Aufzeichnung der Bilder zu ermöglichen“. Was den Motorradpolizisten betrifft, der Nahel getötet hat, trug dieser nicht einmal eine Körperkamera und in der ersten Version der Polizei hieß es, dass er „ein Rowdy“ sei.

Wie entgegenkommend für die Polizei: für den einen reicht die Batterieladung nicht aus, um zu filmen, für den anderen ist sie weder angemessen noch zweckmäßig. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, mit ihrem Innenminister Gérard Darmanin, der es seit 2020 geschafft hat, weder das Tragen der Körperkamera durch seine Polizei durchzusetzen, noch das Tragen der RIO, der individuellen Identifikationsnummer, die Polizisten und Gendarmen unbedingt sichtbar auf der Uniform anbringen müssen.

In Frankreich hält sich die Polizei weder an behördliche Richtlinien noch an Verpflichtungen ihrer höchsten Hierarchie, des französischen Staatsoberhauptes Emmanuel Macron. Eine Polizei im Freilauf, die ihre eigenen Gesetze macht.

Es genügt, die Pressemitteilung vom 30. Juni zu lesen, die auf der Website der Gewerkschaft Nationale Polizei-Allianz und UNSA Polizei veröffentlicht wurde, um dies zu begreifen. Sie folgte auf die städtischen Unruhen-Revolten nach dem Tod von Nahel. In dieser Mitteilung drohen sie der Regierung mit nichts weniger als Aufruhr. Sie rufen, wenn sie von Jugendlichen in Städten sprechen, „zum Kampf“ gegen „Schädlinge“ und „wilde Horden“ auf und stellen klar: „Heute sind die Polizisten im Kampf, denn wir befinden uns im Krieg“, „sämtliche Mittel müssen eingesetzt werden, um so schnell wie möglich den Rechtsstaat wiederherzustellen“ und „morgen werden wir im Widerstand sein und die Regierung wird sich dessen bewusst werden müssen.“

Die Polizeigewalt ist in Frankreich nicht mehr zu übersehen. Diese institutionelle und systemische Gewalt wird von zahlreichen NGOs angeprangert, wie beispielsweise von der LDH ( Liga der Menschenrechte), deren Vorsitzender Patrick Baudoin im März dieses Jahres erklärte: „Das autoritäre Abrutschen des französischen Staates, die Brutalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch seine Polizei, Übergriffe aller Art und die Straffreiheit sind ein riesiger Skandal“. Wenige Tage nach Nahels Tod erklärte die Sprecherin des Büros des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte: „Dies ist der Zeitpunkt für das Land, die tiefgreifenden Probleme des Rassismus und der Rassendiskriminierung unter den Sicherheitskräften ernsthaft anzupacken.“ Paris hält die Äußerungen für „völlig unbegründet“.

Seit den Gelbwesten Ende 2018, über den jüngsten Kampf gegen die Rentenreform bis hin zu Sainte-Soline, einer Umweltdemonstration, setzt die Regierung weiterhin extreme Gewalt gegen jede Form des Widerspruchs ein, sei er sozial oder ökologisch.

Wir sind von der gewissenlosen Rechten mit Nicolas Sarkozy (rechte Partei), Präsident der Republik von 2007 bis 2012, der nicht davor zurückschreckte, Menschen zu beleidigen – man erinnere sich an das „Verpiss dich, du blöder Idiot“, das er jemandem entgegen schleuderte, weil derjenige sich weigerte, ihm die Hand zu schütteln, oder der über die Siedlungen redete und versprach „sie mit dem Kärcher zu reinigen“ oder der die Jugendlichen der Siedlungen mit dem Wort „Abschaum“ verknüpfte – zum maßlosen Kapital von Emmanuel Macron in seiner zweiten Amtszeit als Präsident übergegangen, der, im Namen des Finanzwesens, Menschen und soziale Errungenschaften ruiniert und zerschlägt, und das alles dank des Königswegs, den ihm Francois Hollande, Präsident der Republik (der angeblich linken sozialistischen Partei) von 2012 bis 2017, eröffnet hat, der selber 2017 Urheber des Gesetzes für öffentliche Sicherheit war, welches der gesamten Polizei mehr Freiheit für den Einsatz ihrer Schusswaffen gibt und somit eine gewissenlose Polizei hervorbringt. Er hatte auch arme Menschen als „Zahnlose“ bezeichnete. Das Ergebnis ist, dass seit fünf Jahren fünfmal mehr Menschen wegen Nichtbefolgens einer Anordnung von der Polizei erschossen wurden.

Dieses Gesetz von 2017 sollte abgeschafft werden, es ist in der gegenwärtigen Form ein „Recht zu töten“, unkontrollierbar und unkontrolliert.

Der Klassenkampf hat niemals aufgehört, er wird seit jeher von den Nachwehen des Kolonialismus begleitet. Es gibt diejenigen, die misshandelt, vergewaltigt und getötet werden können, und es gibt die anderen, die als die „auf der richtigen Seite“ angesehen werden.

Bereits bevor sie einfach nur jung sein können, werden sie durch die Sichtweise, die die Gesellschaft ihnen gegenüber hat, stigmatisiert. Sie sind in erster Linie jugendliche Schlägertypen aus den Siedlungen, mit Migrationshintergrund. Dieses Bild, das ihnen anhaftet, eröffnet ihnen keine Zukunft. Sie sind zu lebenslang verurteilt, weil sie auf der falschen Seite geboren wurden. Diese institutionelle Gewalt hat schließlich Auswirkungen, darüber sollte man sich nicht wundern.

Nahels Tod war eine Trennlinie, ein Auslöser. Eine junge Frau hatte den Mut, das von ihr gedrehte Video in den sozialen Netzwerken zu posten, um damit die Unwahrheit der Polizei unter Beweis zu stellen. Wenn es diese Bilder nicht gegeben hätte, wäre Nahels Tod nur eine Randnotiz gewesen. Darauf folgten sechs Tage der kollektiven Katharsis. All das Leid angesichts des Todes einer der ihren, all die aufgestaute Wut, diese Verzweiflung, diese Angst, dass man morgen selbst oder ein Freund oder eine Freundin, die Nachbarin von nebenan dran sein könnte, weitete sich in einen Akt des Vandalismus, des Aufruhrs, der Rache aus. Dazu kamen diejenigen, die einfach, weil sie vom Gruppeneffekt erfasst wurden, bei der Verbotsverletzung mitgemacht haben, ohne die Tragweite ihrer Taten wirklich zu erfassen. Es musste raus!

Zerstören, Läden plündern, das worauf man kein Anrecht hat, all diese Dinge bilden die Werte dieser Gesellschaft ab: Geld, das wichtiger ist als ihr eigenes Leben. Ebenso das Plündern von Schulen und Bibliotheken: für einige der erste Ort der Ausgrenzung, wo man angefangen hat, sie auf die Seite zu schieben, in die hintere Ecke des Klassenzimmers. Ein Leben in Unterdrückung, in Diskriminierung, wenn man nur wegen seiner Hautfarbe, seiner Wurzeln überwacht wird….wenn die Gesellschaft, obwohl man in Frankreich geboren ist, einen als Ausländer betrachtet.

Und ist es überraschend, dass das überschwappt? Die Unruhen werden wieder von vorne beginnen, weil nichts für die Arbeiterviertel getan wird. Der Staat bestreitet weiterhin Gewalttätigkeiten durch die Polizei. Macrons Lösungsweg: Bestrafung der Eltern. „Es sollte möglich sein, beim ersten Verstoß die Familien finanziell und ohne Weiteres zu belangen. Eine Art Mindestgebühr vom ersten Unsinn an“. Außerdem möchte er den Zugang zu den sozialen Netzwerken bei Folgen „städtischer Gewalttaten“ einschränken oder sogar kappen. Ein Präsident, der nur auf Geld und Bestrafung schwört.

Für Politiker und die verschiedenen Regierungen, die sich abgelöst haben, sind die Jugendlichen aus den Arbeitervierteln nicht von Interesse, sie sind nicht ihre Wählerschaft. Die Geschäftsgrundlage all dieser Machthaber ist die Sicherheit, das gute Leben unter sich. Den guten Bürger beschützen, der die richtige Seite wählt. Die Arbeiterviertel sind nur dazu da, diese Sicherheitspolitik besonders hervorzuheben. Die Polizei im Dienste des Staates ist nur dazu da, die Schranken aufrechtzuerhalten und zu zeigen, was geschieht, wenn man sich auf die „falsche Seite“ stellt. Die Macron-Regierung weigert sich, die Gewalttaten der Polizei einzugestehen. Ihre Macht ist von eben dieser Polizei abhängig.

Im Anschluss an Festnahmen, seit den ersten Vorladungen, wurden Strafen verhängt und sie sind hart. Sechzig Prozent der Jugendlichen, die verurteilt wurden, sind nicht vorbestraft. Viele der zu Haftstrafen Verurteilten sind oft junge Erwachsene. Es werden Haftbefehle bei geringfügigen Taten verhängt. Sie werden sofort in Haftanstalten gebracht, die für kurze Strafmaßnahmen vorgesehen sind, in die, die am stärksten überfüllt und unhygienisch sind.

Vandalismus wird normalerweise nie mit Gefängnisstrafe für das erste Vergehen geahndet. Die Unabhängigkeit der Justiz tendiert dazu, hinter politischen Anordnungen zu verschwinden. Wir unterstützen eine Justiz im Dienste der Politik.

Was die Minderjährigen angeht, forderte Justizminister Eric Dupond-Moretti die Richter auf: „Sie werden für eine Orientierung sorgen, die an die Persönlichkeit des Minderjährigen, seine Vorstrafen sowie an den Schweregrad der begangenen Taten angepasst ist“, stellte aber klar, dass „die strafrechtliche Verfolgung hart, prompt und systematisch bleiben muss“. Ein Justizminister, der selbst wegen „illegaler Interessenahme“ strafrechtlich verfolgt wurde.

Die Zerkleinerungsmaschine wird ihre Arbeit tun, manche werden mit noch mehr Wut und Gewalt herauskommen, weil sie Gewalt erfahren haben, andere werden mit Kriminalität in Kontakt kommen und beim Freikommen Straftaten begehen. Alle werden durch diese Erfahrung geprägt sein, sie wird der Ablehnung dieser Gesellschaft, die sie ohnehin ablehnt, Raum geben.

Die erste Gewalt geht vom Staat aus, daran dürfen wir nicht eine einzige Sekunde lang zweifeln. Es ist unsere Pflicht, sie anzuprangern und zu bekämpfen. Diese Gewalt zerstört die Zukunft, tötet das Lebende, Planeten und Menschen und vertieft weiterhin die Ungleichheiten. Sie ist viel schwerwiegender und sollte uns empören, anwidern. Ist das der Fall?

Die Übersetzung aus dem Französischen wurde von Doris Fischer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!