Nach 60 Jahren Ölförderung hinterlässt Shell in Nigeria grosse Umweltschäden und tausende offene Umweltklagen.

Daniela Gschweng für die Online-Zeitung INFOsperber

Vor zwei Jahren kündigte Shell an, die Onshore-Ölförderung in Nigeria nach mehr als 60 Jahren einzustellen. Seit 1958 bohrt der Öl-Multi an der Mündung des Niger nach Öl. Der englisch-niederländische Konzern hinterlässt im Niger-Delta eines der am stärksten verschmutzten Gebiete der Welt und tausende offene Umweltklagen.

Das Niger-Delta ist etwa so gross wie die Schweiz und besteht zu grossen Teilen aus Wasseradern, Inseln und Mangrovenwald. Was eine der grössten ökologischen Nischen der Welt sein könnte, wurde durch die Ölförderung zu einem Umweltdesaster. Korruption, Diebstahl, Sabotage und veraltete Anlagen verursachen ein permanentes Lecken der Öl-Pipelines, bei dem Rohöl ins Wasser gelangt.

Die Gesundheit der grösstenteils armen Bevölkerung hat sich dadurch drastisch verschlechtert. 2011 berichtete das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), dass die schlechte öffentliche Gesundheit «Notfallmassnahmen» erforderlich mache. Würde Shell mit der Sanierung der Schäden sofort beginnen, dauerte sie 30 Jahre, schätzte das UNEP.

Um die Verantwortung für die Umweltschäden wird gestritten

Shell und sein nigerianisches Tochterunternehmen Shell Petroleum Development Company (SPDC) mussten bereits mehrfach für Umweltschäden geradestehen. 2015 etwa musste das Unternehmen nach dem Urteil eines britischen Gerichts 68 Millionen Dollar Kompensation an Einwohner des Niger-Deltas bezahlen. Dazu wurde der Konzern zur bisher grössten Sanierung eines Mangrovenwalds verurteilt.

2020 berichtete «Amnesty International», die Sanierung komme nicht voran und inzwischen habe sich die Situation verschlimmert. Das Wasser in einigen Regionen ist laut dem «Intercept» so verschmutzt, dass die Einwohner es weder trinken noch darin baden können.

«Es ist, als ob wir in der Wüste lebten, obwohl wir von Wasser umgeben sind.»

Chief Bennett Dokubo, Gemeindevorsteher in Bille, zum «Intercept»

Die Probleme halten seit Jahrzehnten an. In Ogale, einer Region mit etwa 40’000 Einwohnern, ist das Wasser braun und riecht nach Schwefel. In Bille, einer Gegend, die aus etwa 45 Inseln und zahlreichen Wasserläufen besteht, gibt es keinen Fisch mehr. Öliges Wasser laufe in die Häuser der Anwohner, die meist Fischer sind.

Wer es sich leisten könne, kaufe abgefülltes Wasser. «Es ist, als ob wir in der Wüste lebten, obwohl wir von Wasser umgeben sind», sagt Chief Bennett Dokubo, ein Gemeindevorsteher in Bille.

Shell geht, die Klagen bleiben

Ob und wann die betroffenen Gemeinden mit Sanierungen rechnen können, ist unklar und wird es noch mindestens einige Jahre bleiben.

Beim Londoner High Court sind 13’650 Klagen offen. Davon 11’300, die Ende Januar von Einzelpersonen aus Ogale eingereicht wurden, sowie 17 von lokalen Organisationen aus Ogale. Mehr als 2000 bestehende Klagen aus Bille kommen dazu. Ob das alle sind, ist unklar. Insgesamt gibt es hunderte betroffene Dorfgemeinschaften.

In den meist langwierigen Gerichtsverfahren gab es zuletzt Erfolge für die Kläger: 2021 entschied ein niederländisches Gericht, dass Royal Dutch Shell für die Öl-Verschmutzung in Nigeria verantwortlich ist und Entschädigung zahlen muss. Geklagt hatten vier nigerianische Bauern mit Unterstützung der Organisation Friends of the Earth. Dem Argument von Shell, dass die Verschmutzung durch Sabotage entstanden war, folgte das Gericht nicht. Chima Williams, dem Anwalt der Klägerseite, wurde 2022 der afrikanische Goldmann-Umwelt-Preis für seine Arbeit zugesprochen.

Im Februar 2021 urteilte das Höchste Gericht Grossbritanniens, dass Shell als Muttergesellschaft der in Nigeria aktiven Shell Petroleum Development Company zur Verantwortung gezogen werden kann. Der Fall der nigeranischen Dörfer wird also weiter verhandelt.

Im November 2021 stritten Shells Anwälte dabei jede Verantwortung ab. Ansprüche müssten innerhalb von fünf Jahren nach einem Ölunfall gestellt werden, argumentierten sie. Ausserdem hätte sich darum die zuständige nigerianische Behörde kümmern müssen. Der voraussichtliche Verhandlungsbeginn ist 2024.

Geld wäre da – Shell wehrt sich weiter

Shell könnte sich die Sanierung der Schäden im Niger-Delta durchaus leisten. 2022 brachten die nigerianischen Ölfelder dem Konzern 30 Milliarden Dollar Gewinn ein. UNEP schätzte die Sanierungskosten 2017 auf eine Milliarde Dollar in den ersten fünf Jahren.

Der Öl-Multi wehrt sich trotz bestehender Urteile weiterhin gegen Kompensationszahlungen und versucht die Verantwortung abzuwälzen. Die Mehrzahl der Öl-Unfälle in Bille und Ogale beruhten auf Sabotage und Diebstahl und seien nicht von Shell, sondern von Dritten verursacht worden, sagte eine Sprecherin von Shell. Trotzdem saniere Shell seit Jahrzehnten betroffene Gebiete.

Es könnte also noch dauern, bevor Mensch und Natur geholfen wird. So schnell wird der Konzern seine Anteile in Nigeria auch nicht loswerden. Im Juni 2022 bestätigte das oberste Gericht Nigerias ein Urteil, das Shell daran hindert, seine Vermögenswerte in Nigeria zu verkaufen. Zunächst müsse über eine Klage aus dem Jahr 2019 über zwei Milliarden Dollar Schadensersatz entschieden werden.