Vor US-Besuch von Kanzler Scholz deuten Berichte einen Kurswechsel des Westens im Ukraine-Krieg an: Kiew soll mit Moskau verhandeln. Hintergrund: Stimmungsumschwung in den USA.

Vor dem heutigen Gespräch zwischen US-Präsident Joe Biden und Kanzler Olaf Scholz deuten Berichte einen möglichen Kurswechsel des Westens im Ukraine-Krieg an. Hintergrund sind unter anderem die Erkenntnis, dass die Zahl der Kriegstoten für die ukrainische Gesellschaft „untragbar“ werden könne, und die kontinuierlich schrumpfende Zustimmung in der US-amerikanischen Bevölkerung zur Kriegspolitik der Biden-Administration; letztere könnte möglicherweise Bidens Wiederwahl gefährden. Berichten zufolge hat Biden den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kürzlich bei seinem Besuch in Kiew darauf hingewiesen, die Mittel, die Washington bereitstellen könne, seien begrenzt. Wie es heißt, haben Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron es Selenskyj bei dessen Besuch in Paris nahegelegt, zu „beginnen, Friedensgespräche mit Moskau in Betracht zu ziehen“. Die Ukraine soll nicht in die NATO aufgenommen, aber mit westlichen Waffen aufgerüstet werden. Ein ähnliches Resultat stand bereits Ende März 2022 zur Debatte, wurde aber vom Westen sabotiert. Freilich könnten ukrainische Erfolge auf dem Schlachtfeld die Stimmung im Westen erneut wenden.

Stimmungsumschwung in den USA

Vor dem heutigen Gespräch zwischen US-Präsident Joe Biden und Kanzler Olaf Scholz deutet die bestens vernetzte Frankfurter Allgemeine Zeitung einen möglichen Kurswechsel der Biden-Administration an. Hintergrund ist ein Stimmungsumschwung in den Vereinigten Staaten, dem das Weiße Haus mit Blick auf die Präsidentenwahl im kommenden Jahr einige Bedeutung beimisst. So zeigt eine aktuelle Umfrage, dass der Anteil derjenigen, die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, von gut 60 Prozent der US-Bevölkerung im Mai 2022 auf 48 Prozent zurückgegangen ist.[1] Nur noch 37 Prozent billigen eine direkte finanzielle Unterstützung für die ukrainische Regierung, während 38 Prozent sie ablehnen. Auch der Anteil derjenigen, die Sanktionen gegen Russland befürworten, ist von 71 Prozent auf 63 Prozent zurückgegangen; 59 Prozent sagten zugleich, Sanktionen dürften nicht auf Kosten der US-Wirtschaft gehen. Setzt sich die Entwicklung weiter fort – und dies gilt als wahrscheinlich –, dann verschlechtert der Ukraine-Krieg die Chancen von Präsident Biden auf die Wiederwahl. Hinzu kommt, dass die Vereinigten Staaten den Machtkampf gegen China immer mehr zuspitzen. Manche im US-Establishment warnen bereits seit einiger Zeit davor, sich in Osteuropa gegen Russland allzu sehr zu verkämpfen; dies koste, heißt es, Energien, auf die man in der Asien-Pazifik-Region angewiesen sei.[2]

„Realistisch bleiben“

Vor diesem Hintergrund schildert die Frankfurter Allgemeine Zeitung Interna aus dem Gespräch, das Biden am 20. Februar in Kiew mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj führte. Der Inhalt unterschied sich demnach deutlich von den demonstrativ entschlossenen Tönen, die Biden in offiziellen Stellungnahmen anschlug. So twitterte Biden am 20. Februar, er sei in die ukrainische Hauptstadt gereist, um „unsere unerschütterliche Verpflichtung für die Demokratie, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine“ zu bekräftigen. „Intern“ aber, heißt es, habe er Selenskyj „darauf hingewiesen …, wie viel Geld des amerikanischen Steuerzahlers Washington inzwischen investiert habe“.[3] Zwar „versteh[e]“ Biden, „dass Kiew mehr verlangt“. Doch sei er „als Präsident angetreten, um Amerika zu heilen, was kräftige Investitionen“ erforderlich mache. Zwar werde er Selenskyj nicht öffentlich „auffordern, an einem bestimmten Punkt … auszutesten, ob es nicht zu Verhandlungen kommen könne“. „Dennoch gibt es in Teilen der Regierung die Hoffnung, dass der ukrainische Präsident realistisch bleibt“. Den zeitlichen Rahmen für die Wende zum „Realismus“ steckt dabei mutmaßlich der Präsidentschaftswahlkampf in den Vereinigten Staaten.

„Schwierige Entscheidungen treffen“

Den Andeutungen, Washington könne die Weichen neu stellen, entspricht ein Bericht, den das Wall Street Journal Ende vergangener Woche publizierte. Demnach setzt sich in Europa inzwischen die Überzeugung durch, die Ukraine werde „nicht in der Lage sein, die Russen aus der Ostukraine und von der Krim zu vertreiben“.[4] „Wir wiederholen ständig, Russland dürfe nicht gewinnen“, wird ein französischer Regierungsmitarbeiter zitiert; doch dauere der Krieg „lange genug in dieser Intensität an“, würden „die Verluste der Ukraine untragbar“. Dem Bericht zufolge erklärten Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Scholz Selenskyj bei dessen Besuch in Paris am Abend des 8. Februar, er müsse „beginnen, Friedensgespräche mit Moskau in Betracht zu ziehen“. Macron habe Selenskyj zunächst als „großen Anführer im Krieg“ gelobt, ihn dann aber mitgeteilt, er müsse letzten Endes „zu einem politischen Staatsmann werden und schwierige Entscheidungen treffen“. In ähnlicher Weise hat sich der neue Präsident Tschechiens, Petr Pavel, inzwischen auch öffentlich geäußert. Pavel, ein General, wies darauf hin, die Rückeroberung von Teilen des ukrainischen Territoriums könne „mehr Menschenleben kosten, als für die Gesellschaft zu ertragen sein wird“. „Die Ukrainer“ müssten dann „beginnen, über ein anderes Ergebnis nachzudenken“.

Absatzmarkt für die westliche Rüstungsindustrie

Laut dem Wall Street Journal haben Großbritannien, Frankreich und Deutschland bereits begonnen, Vorbereitungen für diesen Fall zu treffen. Dabei handelt es sich um Maßnahmen, die der Ukraine Sicherheit vor einem weiteren russischen Überfall verschaffen sollen. Wie die Zeitung schreibt, ist dabei die NATO-Mitgliedschaft des Landes nicht vorgesehen.[5] Auch die Stationierung von NATO-Truppen auf dem Territorium der Ukraine ist demnach nicht geplant, ebensowenig eine Beistandsgarantie in Form einer Ausdehnung von Artikel 5 des Nordatlantikvertrags auf das Land. Vielmehr gehe es darum, Kiew mit militärischen Mitteln auszustatten, die es ihm gestatteten, etwaige russische Angriffe eigenständig abzuwehren. Konkret ist davon die Rede, dass die ukrainischen Streitkräfte mit Waffen aus westlicher Produktion aufgerüstet bzw. „eng in die Versorgungskette der westlichen Rüstungsindustrie integriert“ werden sollen. Deutschland etwa habe bereits die Bereitschaft erkennen lassen, Luftabwehrsysteme, Kampfpanzer, schwere Artillerie und Munition zu liefern. Großbritannien denke über die Lieferung von Kampfjets nach. Dazu passt, dass das Vereinigte Königreich inzwischen begonnen hat, ukrainische Piloten an F-16-Kampfjets auszubilden. Beschlüsse, so heißt es, werden auf dem NATO-Gipfel am 11./12. Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius erwartet.

Wie im März 2022

Die Pläne, mit denen die Sicherheit der Ukraine garantiert werden soll, weisen eine große Ähnlichkeit mit dem Stand der Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew Ende März 2022 auf. Damals waren sich beide Seiten – auch dank israelischer und türkischer Vermittlung – in den wesentlichen Zügen über einen Waffenstillstand, womöglich sogar eine Friedenslösung einig. Sie sah im Kern vor, dass die Ukraine eine dauerhafte Neutralität zusagt; im Gegenzug war Russland bereit, seine Truppen auf den Stand vor dem 24. Februar 2022 zurückzuziehen. Die Einigung wurde damals von den NATO-Staaten sabotiert – in der Hoffnung, Russland beträchtlich schwächen zu können (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Seitdem sind zahllose Menschen zu Tode gekommen sowie immense materielle Schäden in der Ukraine angerichtet worden. Ein spürbarer Vorteil für die Ukraine im Vergleich zur verhinderten Einigung von Ende März 2022 ist hingegen nicht ersichtlich.

Unwägbarkeiten des Krieges

Freilich ist es alles andere als gewiss, dass es – wie von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und vom Wall Street Journal skizziert – in absehbarer Zeit zu Friedensgesprächen kommt. So könnten etwaige ukrainische Erfolge auf dem Schlachtfeld den Westen jederzeit zu dem Versuch veranlassen, eine weitere Schwächung Russlands zu erreichen: bis zu einer nächsten Wende des Kriegsgeschicks.

 

[1] Aamer Madhani, Emily Swanson: Ukraine aid support softens in the US: AP-NORC Poll. apnews.com 15.02.2023.

[2] Michael McCormick, Kevin Petit: The boiling frog: China’s rise and the West’s distraction. mwi.usma.edu 30.06.2022.

[3] Markus Wehner, Majid Sattar: Ein Besuch in ungewöhnlichem Format. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.03.2023.

[4], [5] Bojan Pancevski, Laurence Norman: NATO’s Biggest European Members Float Defense Pact With Ukraine. wsj.com 24.02.2023.

[6] S. dazu Die Kriegsziele des Westens.

Der Originalartikel kann hier besucht werden