Zahlreiche Asylsuchende, die über die Balkanroute in die Schweiz gelangten – darunter Überlebende von Folter und Misshandlungen, sowie Personen mit psychischen Erkrankungen –, sind von einer Zwangsrückführung nach Kroatien bedroht. Angesichts der gut dokumentierten Pushbacks und der Polizeigewalt gegen Geflüchtete und Migrant*innen, der anhaltenden Straflosigkeit der Verantwortlichen dieser Menschenrechtsverletzungen sowie gravierender Lücken im kroatischen Asylsystem ruft Amnesty International die Schweizer Behörden auf, Überstellungen von traumatisierten Menschen und Personen mit gesundheitlichen Problemen in das Land zu stoppen.

In jüngster Zeit wurden mehrere Fälle von Geflüchteten bekannt, die in Kroatien Folter und Misshandlungen durch Grenzschutz und Polizei erlebt hatten, und dennoch aus der Schweiz in das Land zurückgeführt wurden oder unmittelbar vor einer Zwangsrückführung stehen. Von einer Ausschaffung bedroht sind weiterhin auch Personen, die auf medizinische Behandlung angewiesen sind.

Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zeigt, dass die grosse Mehrheit der Asylsuchenden, die über Kroatien in die Schweiz gelangen, Misshandlungen durch die Polizei geltend machen.  Auch Amnesty Schweiz sind Fälle von Geflüchteten aus Ländern wie Afghanistan, der Türkei oder Burundi bekannt, die aufgrund der Dublin-III-Verordnung aus der Schweiz nach Kroatien zurückgeführt werden sollen, obwohl sie darlegen, dass sie von kroatischen Sicherheitskräften auf der Flucht willkürlich festgehalten, geschlagen oder erniedrigt worden waren.

Traumatisierte Menschen ohne Betreuung

«Amnesty International spricht sich entschieden gegen Überstellungen von kranken und traumatisierten Personen nach Kroatien aus. Die Mängel im Asylsystem, die unzureichende staatlichen Leistungen, insbesondere die mangelnde adäquate Gesundheitsversorgung für Asylsuchende sowie der fehlende Zugang zur Justiz machen eine Überstellung von Personen, die Trauma, Folter und Misshandlungen erlitten haben, unzulässig», sagte Alicia Giraudel, Asylrechtsexpertin bei Amnesty Schweiz.

«AMNESTY INTERNATIONAL SPRICHT SICH ENTSCHIEDEN GEGEN ÜBERSTELLUNGEN VON KRANKEN UND TRAUMATISIERTEN PERSONEN NACH KROATIEN AUS.» Alicia Giraudel, Asylrechtsexpertin bei Amnesty Schweiz

«Hinzu kommt: Ein hoher Anteil der Geflüchteten hat in Kroatien selbst Polizeigewalt erlebt. Doch das rechtswidrige Verhalten der Polizei bleibt weitgehend straflos, konkrete Sanktionen gegen die Täterschaft bleiben aus. Auch fehlt der Wille und das Bekenntnis der Regierung, die seit sieben Jahren andauernde rechtswidrige Praxis der illegalen Pushbacks und der Gewalt von Sicherheitskräften gegen Geflüchtete zu beenden», sagte Alicia Giraudel.

Laut dem Staatssekretariat für Migration SEM wurden 2022 17 Dublin-Überstellungen nach Kroatien durchgeführt. Das SEM argumentiert, es handle sich bei Kroatien um einen Rechtsstaat mit funktionierenden Polizeibehörden, Geflüchtete sollten sich im Fall von Misshandlungen an örtliche Aufsichtsbehörden wenden. Dabei werden jedoch die von internationalen Organisationen und Gerichten bestätigten, weit verbreiteten systematischen Menschenrechtsverletzungen durch die kroatischen Behörden völlig ausser Acht gelassen.

«MENSCHEN, DIE VON DER POLIZEI IN KROATIEN MISSHANDELT UND GEFOLTERT WURDEN, DÜRFEN NICHT DAHIN ZURÜCKGEFÜHRT WERDEN, WO SIE DANN BEI DENSELBEN BEHÖRDEN UM SCHUTZ UND WIEDERGUTMACHUNG FÜR ERLITTENES LEID ERSUCHEN MÜSSEN.» Alicia Giraudel

«Menschen, die von der Polizei in Kroatien misshandelt und gefoltert wurden, dürfen nicht dahin zurückgeführt werden, wo sie dann bei denselben Behörden um Schutz und Wiedergutmachung für erlittenes Leid ersuchen müssen.» Kroatien hat das in der Anti-Folterkonvention der Unoverankerte Recht auf Wiedergutmachung, Entschädigung und Rehabilitation systematisch missachtet. Ausserdem haben Menschen, die Opfer von Traumata und Misshandlungen geworden sind und dringend Unterstützung benötigen, dort keinen Zugang zu spezialisierter medizinischer Betreuung und psychosozialer Hilfe, da diese für Asylbewerber*innen in Kroatien nicht gewährleistet ist», kritisierte Alicia Giraudel. «Daher ist die Rückführung von Menschen dorthin inakzeptabel und kann gegen die Uno-Anti-Folter-Konvention verstossen».

Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe übt in einer jüngsten juristischen Analyse Kritik an der Praxis des SEM und der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und rät von Überstellungen nach Kroatien ab.

Polizeigewalt und verbreitete Straflosigkeit

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) haben die von Menschenrechts- und Hilfsorganisationen wie Amnesty International dokumentierten illegale Praxis der Pushbacks und Polizeigewalt durch die kroatischen Behörden in Urteilen und Berichten bestätigt und Folter, Misshandlungen sowie die verbreitete Straflosigkeit bei Übergriffen gegen Geflüchtete scharf kritisiert.

Die Zahl der Menschen, die über die sogenannte Balkanroute versuchen, in die EU zu gelangen, ist im Vergleich zu den Vorjahren aufgrund veränderter Fluchtrouten zurückgegangen. Übergriffe durch die kroatische Polizei finden aber weiterhin statt. Laut dem Danish Refugee Council berichteten im Jahr 2022 3’461 Personen von illegalen Pushbacks nach Bosnien-Herzegowina. Viele der Geflüchteten wurden dabei nach eigenen Angaben von der kroatischen Polizei körperlich misshandelt, erniedrigt oder willkürlich festgehalten. Zahlreiche Personen erklärten, dass ihre Sachen dabei zerstört wurden oder sie von Sicherheitskräften bestohlen wurden.

«Die Beweise für Menschenrechtsverstösse durch die kroatische Polizei sind erdrückend. Traumatisierte Menschen aus der Schweiz nach Kroatien zurückzuschaffen, die dort Gewalt und Misshandlungen durch die Polizei erlebt haben, ist unverantwortlich», kritisiert Alicia Giraudel von Amnesty Schweiz.

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