Vortrag des Autors beim Treffen des Europäischen Forums des IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) in Hamburg am 21. Januar 2023
Es ist mir eine Ehre, zu einem so besonderen Anlass und vor einer so besonderen Zuhörerschaft zu sprechen. Und ich bin überwältigt, es an einem so besonderen Ort zu tun. Hier bekommt der Titel meines Vortrags, “Städte sind keine Zielscheiben“, eine besondere Bedeutung – denn in der Krypta des Mahnmals St. Nikolai nimmt man nicht umhin, als die Großartigkeit menschlichen Schaffens zu bewundern und gleichzeitig entsetzt über das Ausmaß menschlicher Zerstörung zu sein.
“Städte sind keine Zielscheiben”, der Titel meines Vortrags, ist gleichzeitig der Name einer Kampagne, die 2006 von Bürgermeistern für den Frieden ins Leben gerufen wurde. Die Organisation wurde 1992 vom Bürgermeister Hiroshimas mit dem Ziel der Abschaffung nuklearer Waffen gegründet. Mittlerweile gehören ihr 8200 Städte an.
Wenn wir über Städte sprechen, diese urbanen Zentren der Zivilbevölkerung, die zum Ziel gemacht werden, dann sprechen wir aktuell nicht über Frieden, sondern wir sprechen über Krieg und das Mindestmaß an Humanität, das während des Krieges aufrechterhalten werden muss. Wir sprechen über Kriegsregeln, denn unschuldige, nicht am Kampf teilnehmende Zivilisten sollten nicht Teil des Krieges sein.
Während des 2. Weltkriegs wurden Angriffe auf zivile Strukturen als Kollateralschäden verbucht, Menschen wurden damit zu Objekten gemacht und der Feind war nicht die Regierung oder die Armee, sondern das Volk. In unserer heutigen Unterhaltungskultur werden Nuklearwaffen im Kampf gegen böse Aliens in Science-Fiktion Filmen eingesetzt. Ganze Horden übler, hässlicher Aliens, die die Menschheit ausrotten wollen, werden getötet und die Menschheit wird durch die Atombombe gerettet. In den Augen vieler US-Amerikaner waren in den 1940er Jahren die Japaner die Aliens. Die Japaner selbst, die so anders aussahen und sich so anders verhielten, waren in gewisser Weise böse. In der kollektiven Wahrnehmung vieler Amerikaner waren alle Japaner an den Freveltaten ihrer Armee mitschuldig. Deshalb verdienten sie die Atombombe. Es war ihr Schicksal.
Nuklearwaffen stehen für rassistisches und fremdenfeindliches Gedankengut, denn sie wurden mit dem Ziel geschaffen, eine Bevölkerungsgruppe auszulöschen, die „nicht wie wir“ ist. Diese „Andersartigkeit”, diese extreme Gleichgültigkeit gegenüber dem schrecklichen Leiden derer, die irgendwie anders sind, ist das Daseinsmerkmal dieser Waffen und weshalb sie der Inbegriff der Grausamkeit sind. In diesem Sinn verdeutlichen die Worte des geschätzten und bekannten Hiroshima-Überlebenden, Setsuko Thurlow, eindrücklich, dass „Nuklearwaffen nicht das notwendige Übel sind, sondern das ultimative Übel“.
Seit dem 2. Weltkrieg hat sich das internationale Recht entwickelt. Das Humanitäre Völkerrecht wie das Kriegsrecht verurteilen jegliche Angriffe auf Zivilisten und damit die Verwendung explosiver Waffen in urbanen Zentren als nicht angemessen und willkürlich und weil damit direkt Zivilisten verletzt werden. Massenvernichtungswaffen – ob chemische, biologische oder nukleare, Landminen und Streumunition verletzen das Humanitäre Völkerrecht, da sie nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden können und willkürlich alles und jeden angreifen. Sprengwaffen in Städten töten oder verletzen nicht nur unschuldige Menschen, die dann im Falle einer Verletzung auf lang andauernde Hilfe angewiesen sind, sondern bringen auch anderes Leid mit sich. Sie sind die Ursache für Flucht, Beschädigung oder Zerstörung von Häusern, Schulen, Krankenhäusern, der Wasser- und Sanitärversorgung und verschlimmern so das Leid der unschuldigen Menschen in einem kriegerischen Konflikt.
Bei den Nuklearwaffen, bei weitem die zerstörerischsten aller Waffen und diejenigen, die das meiste Leid verursachen, sind Zivilisten das Ziel. Städte sind das Ziel. Das geht weit darüber hinaus, dass Häuser, Schulen, Kommunikations- und Gesundheitsinfrastruktur oder die Wasser- und Sanitärversorgung betroffen sind. Sie zerstören und verseuchen. Die Städte werden unbewohnbar. Die Lebensmittelversorgung der Städte – die Landwirtschaft, von der die Bevölkerung abhängig ist, wird unbrauchbar. Das historische und das Naturerbe der Stadt ist unwiederbringlich zerstört.
In Hiroshima und Nagasaki starben mehr als 200.000 Menschen in den ersten Tagen und noch viele mehr litten und starben langsam über Jahre hinweg. Viele der Verletzten litten schrecklich durch die Druckwelle und die Hitze und noch mehr durch die Folgen der Strahlung – etwas, das die meisten Menschen damals noch gar nicht kannten. Die unerklärlichen Krankheiten, über die die Menschen nichts wussten, ließen viele Menschen sterben oder grausam leiden: ihre Bäuche zerplatzten, ihre Gesichter schmolzen, sie verbluteten. Ihre offenen Wunden verheilten nicht. Und die scheinbar Gesunden wurden krank und starben Jahre später. Die meisten Menschen, die diesen Schrecken erlitten, waren keine Kämpfenden: alte Menschen, Frauen und Kinder. Kinder. Und diese Menschen erlebten eine weitere Stigmatisierung durch andere Menschen in Japan. Aus Angst vor Ansteckung wurden Kinder vor anderen Kindern ferngehalten. Erwachsene hatten Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden, denn sie galten als krankheitsanfällig. Sie fanden keine Partner aufgrund der Angst, behinderte Kinder zu bekommen. Infolgedessen lernten viele, ihre Herkunft zu verbergen und darüber zu lügen. Ihre Heimatstadt, einst eine Quelle des Stolzes, war eine Quelle der Verachtung und der Scham geworden.
Auch den dauerhaften Verlust gilt es zu beachten. Jede Person, jedes Opfer, ihre persönliche Geschichte und ihre Ziele wurden auf eine Nummer reduziert. Ganze Familien und ihre Geschichte wurden ausgelöscht. Wenn wir aber über die Zerstörung einer Stadt sprechen, dann sprechen wir auch über die Zerstörung des natürlichen und historischen Erbes einer Gemeinschaft, einer menschlichen Siedlung, die sich über hunderte oder tausende von Jahren entwickelt hat. Ein Schaden also, der nicht ermessen werden kann – für die gesamte Menschheit.
Wenn es um Nuklearwaffen geht, ist es daher zwingend, nicht länger die Strategie, sondern die Humanität in den Mittelpunkt des Diskurses zu lenken. Es ist wichtig, abstrakten Konzepten von „Sicherheit und Stabilität“ mit Fakten über deren Wirkungen entgegenzutreten sowie das Bewusstsein für die tatsächlichen Folgen und das immense Risiko, dass diese Konzepte mit sich bringen, zu schärfen. Es macht deshalb absolut Sinn, das Thema Nuklearwaffen aus der Sicht von Städten zu behandeln. Denn diesen ist ihre Verantwortung bewusst, für ihre BewohnerInnen zu sorgen, deren Gesundheit und Bildung zu gewährleisten und in direkter Beziehung mit ihnen zu stehen. Sie verstehen ihre Verpflichtung, ihre BewohnerInnen zu schützen, ebenso wie ihre Geschichte und die Schätze und Vermögen ihrer Stadt.
Städte sind die wichtigsten Orte für Begegnungen und Austausch in unseren Gesellschaften sowie für die Interaktion zwischen Menschen, Gruppen, Gemeinschaften, Ideen und Werten. Deshalb rief die ICAN (Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen), 2018 in Madrid im Rahmen des 2. Weltforums zu Urbaner Gewalt und Bildung für Koexistenz und Frieden die Kampagne „Städte unterstützen den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV)“ ins Leben. Hierbei handelt es sich um eine Graswurzelbewegung, um Aufmerksamkeit zu gewinnen und um lokale bürgerschaftliche und politische Unterstützung für den Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBT) zu gewinnen. Ihr Ziel ist es, die Solidarität unter den Regierungen, die den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) mittragen, zu verbreiten und gleichzeitig die BürgerInnen zu befähigen, sich proaktiv einzubringen, indem sie ihre lokalen VertreterInnen kontaktieren.
Besonders in den Ländern, die über Nuklearwaffen verfügen und in denen, die mit diesen Ländern militärische Allianzen eingegangen sind, ist ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein notwendig, um Fortschritte bei der Erfüllung der Normen zu machen, die durch den Atomwaffenverbotsvertrag vorgegeben sind. Von Beginn an hat der ICAN-Städteappell große Resonanz gefunden und mittlerweile hunderte Städte mit eingebunden. Zu ihnen gehören Oslo, Helsinki, Paris, Barcelona, Zürich, Göteborg, Manchester, Toronto und New York. Auch in Deutschland ist die Kampagne dank der unermüdlichen Arbeit politischer Aktivisten ziemlich erfolgreich. Der Unterstützung des Atomwaffenverbotsvertrages haben sich fast 140 Städte angeschlossen, unter ihnen Berlin, München und Hamburg. Die Regierenden dieser Städte haben verstanden, dass sie mit ihrer Unterstützung für den Atomwaffenverbotsvertrag ihrer zentralen Aufgabe zum Schutz ihrer BewohnerInnen nachkommen und dass diese Unterstützung bedeutend und direkt zum Erfolg des Atomwaffenverbotsvertrages beitragen kann.
Städte müssen sich den dringendsten Problemen der Welt stellen. Wie auch im Falle von Atomwaffen muss man davon ausgehen, dass auch der Klimawandel als weitere existenzielle Bedrohung die Städte am härtesten treffen wird. Das hat viele Städte zum Handeln und zur Bildung von Koalitionen motiviert, um damit dem Erreichen der Ziele des Pariser Klimaabkommens näher zu kommen. Gleiches gilt für die Unterstützung von Städten für die Kampagne zum Atomwaffenverbotsvertrag, bei der sie sich mit verschiedenen Initiativen gegen nukleare Hegemonie und für nukleare Abrüstung einsetzen sowie sicherstellen können, dass öffentliche Mittel nicht in die Entwicklung von Atomwaffen fließen. Sie können den Atomwaffenverbotsvertrag aktiv in ihre Regierungstätigkeit einbinden. Und darüber hinaus kann eine internationale Koalition von Städten und der Zivilgesellschaft entscheidend dazu beitragen, den inakzeptablen Status Quo der Atomwaffenpolitik zu brechen.
Der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) ist ein Triumph internationaler Diplomatie und ein Meilenstein des Multilateralismus. Durch seinen anprangernden normativen Effekt – den Diskurs über Atomwaffen zu ändern – gibt er der Welt alle Hoffnung, sich endlich hin zu einer Abschaffung von Atomwaffen zu bewegen. Das Ächten durch Verbot ist eine Vorgehensweise, die sich in der Geschichte häufig als erfolgreich erwiesen hat, insbesondere im Falle anderer Massenvernichtungswaffen. Heute rühmt sich kein Staat mehr, eine Chemiewaffenmacht zu sein oder dass biologische Waffen Teil seiner Sicherheitsdoktrin sind. Das liegt daran, dass eine starke und weitverbreitete Ächtung und internationale Norm besteht, die aus solche Ansinnen ein No-Go machen. Und auf diesen Weg begeben wir uns jetzt mit den Atomwaffen.
Nukleare Abrüstung ist dringlicher denn je. Eine Welt ohne Atomwaffen ist notwendig, und sie ist vor allem möglich. Lasst uns zusammenarbeiten, um es möglich zu machen. Zusammen können wir uns der nuklearen Bedrohung entledigen und Frieden herrschen lassen.
Ich danke Ihnen recht herzlich.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Silvia Sander vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!