“Die Cancel Culture toleriert keine abweichenden Meinungen und möchte sie aus der Öffentlichkeit und der Wissenschaft verbannen. Insofern stellt sie einen Rückfall hinter die Errungenschaften der europäischen Aufklärung dar.” – Alexander Ulfig (Philosoph)

Legitimer Protest, Mittel zur Drangsalierung kritischer Denker oder lediglich politischer Kampfbegriff? An Cancel Culture scheiden sich die Geister. Der Philosoph Alexander Ulfig, Mitherausgeber des Sammelbandes “Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit”, in dem sich Autoren wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld oder der österreichische Sprachwissenschaftler Heinz-Dieter Pohl mit dem Phänomen auseinandersetzen, erkennt in Cancel Culture ein Instrument zweckrationaler Machtpolitik. Reinhard Jellen sprach mit Ulfig über den Ursprung des Begriffs, seine Bedeutung für den kritischen Diskurs auch im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und wie Cancel Culture den Debattenraum und die Wissenschaft zu verformen droht.

Reinhard Jellen: Herr Ulfig, sehen Sie einen rationalen Kern in der Cancel Culture oder ist diese für Sie schlicht und einfach Humbug?

Alexander Ulfig: Cancel Culture ist Teil einer Politik, einer Machtpolitik. Mit ihrer Hilfe soll eine politische Agenda ohne Widerrede durchgeführt werden. Sie ist insofern rational, als sie sich an einem Machtkalkül orientiert.

Man kann sie als Teil einer zweckrationalen Politik, als Mittel zur Machtgewinnung und Machterhaltung bezeichnen. Dabei werden universelle Ideale, wie sich im Gefolge der europäischen Aufklärung herausgebildet haben, wie Meinungsfreiheit, Meinungsvielfalt, offenes sowie freies Forschen und Debattieren, Toleranz gegenüber Andersdenkenden aufgehoben.

Die Cancel Culture toleriert keine abweichenden Meinungen und möchte sie aus der Öffentlichkeit und der Wissenschaft verbannen. Insofern stellt sie einen Rückfall hinter die Errungenschaften der europäischen Aufklärung dar.

Sehen Sie die Cancel Culture auch beim Ukraine-Diskurs am Werke?

Das Thema wurde in unserem Sammelband noch nicht behandelt. Ich stelle aber fest, dass der Ukraine-Diskurs in den Leitmedien sehr einseitig geführt wird. Auf die Rolle der NATO, insbesondere der USA, bei der Entstehung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine wird darin kaum eingegangen, historische, geopolitische und ökonomische Aspekte dieses Konflikts kaum in Betracht gezogen. Vor 30 Jahren getroffene Vereinbarungen über die Nicht-Erweiterung der NATO wurden nicht eingehalten. Das Minsker Abkommen diente nicht dem Zweck, Frieden zu schaffen, sondern war ein “Versuch, der Ukraine Zeit zu geben”, um sie stärker zu machen, was wir mittlerweile von der Ex-Kanzlerin Angela Merkel erfahren haben.

Was im Ukraine-Diskurs völlig tabuisiert wird, sind deutsche Interessen – vorwiegend Wirtschaftsinteressen – in Osteuropa. Es war früher die deutsche Linke, die auf den expansionistischen Charakter der deutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen hat, so zum Beispiel Erich Fromm in seinem 1962 erschienenen Buch “Jenseits der Illusionen”. Darin bezeichnet er das “Neue Europa”, also die sich damals konstituierende Europäische Union, als ein Instrument des deutschen Wirtschaftsexpansionismus.

Nach 1989 hat hauptsächlich die deutsche Wirtschaft die osteuropäischen Märkte erobert. Jeder kann sich davon bei einem Besuch in Polen, Ungarn oder Tschechien selbst überzeugen. Die EU-Osterweiterung diente auch dem Zweck, billige Arbeitskräfte aus Osteuropa nach Deutschland zu holen. Und natürlich möchte die deutsche Wirtschaft ungehindert weiter in Richtung Osten expandieren.

Sie bringen die Cancel Culture mit den 68ern in Verbindung. Inwiefern?

Schon im Umfeld und in der Folge der Studentenbewegung von 1968 war es an den Universitäten zu Phänomenen wie Störungen, Einschüchterungsversuchen und Diffamierungen von Wissenschaftlern gekommen, mit denen radikale Gruppierungen aus dem vorwiegend kommunistischen Umfeld versuchten, in ihrem Sinne ideologisch und politisch Einfluss auf Lehre und Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu nehmen.

Diesen radikalen Gruppierungen ist es seit den 1970er-Jahren gelungen, den AStA, den Allgemeinen Studentenausschuss (oder, wie man heute sagt, Studierendenausschuss) zu dominieren. Sie wurden zum Haupttreiber für Aktionen gegen missliebige Wissenschaftler.

Seit den 90er-Jahren kommen solche Gruppen allerdings meist nicht aus dem kommunistischen Umfeld, vielmehr stehen sie im Dienste einer Politik, die mit Begriffen wie “Politische Korrektheit”, “Identitätspolitik”, “Wokeness”, “Gender”, “Queer”, “Antirassismus” und “Postkolonialismus” charakterisiert wird. Sie beanspruchen das exklusive Recht, über Minderheiten zu sprechen und entsprechende wissenschaftliche Themenfelder untersuchen zu dürfen. Es gelang ihnen, in einigen Bereichen des Wissenschaftsbetriebs wie den Gender Studies oder den Postcolonial Studies die Deutungshoheit zu erlangen und abweichende Meinungen zu diskreditieren.

Mittlerweile haben die Vertreter dieser Politik auch andere Themenfelder wie Klimawandel und Migration besetzt. Und auch hier werden Wissenschaftler, die abweichende Meinungen vertreten, diffamiert und angefeindet – mit dem Ziel, sie aus der Wissenschaft auszuschließen. Feminismus, Gender, Migration, Multikulti und Klima sind Felder, die in der Folge der 68er-Bewegung stark thematisiert und auch zu politischen Agenden wurden. Deshalb haben wir in einer historischen Skizze diese Bewegung und ihre Folgen erwähnt.

Was sind die maßgeblichen Strukturen im wissenschaftlichen Betrieb, die die Cancel Culture fördern?

Es sind im Wissenschaftsbetrieb institutionell verankerte Organisationen, die die Cancel Culture fördern. Neben den oben genannten studentischen Gruppen und Organisationen, die sich um den AStA versammeln, sind es zum Beispiel die Frauen-, Gleichstellungs- und Diversity-Büros und auch andere Organisationen, die die oben genannten politischen Agenden vertreten. Sie setzen die Hochschulleitung unter Druck, falls Wissenschaftler, die missliebige Thesen vertreten, einen Vortrag, eine Vorlesung halten oder eine Konferenz organisieren möchten.

Die Cancel Culture nimmt an den Universitäten unterschiedliche Formen an. In vielen Fällen passiert Folgendes: Ein Wissenschaftler wird von einem Fachbereich zu einem Vortrag eingeladen. Vertritt er nicht genehme Thesen, üben bestimmte Organisationen Druck auf die Universitätsleitung aus; sie fordern sie dazu auf, den Wissenschaftler auszuladen. Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht sollte an der Humboldt-Universität einen Vortrag über die Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie halten. Auf Druck vom “Arbeitskreis kritischer Jurist*innen an der Humboldt-Universität zu Berlin” hat die Universität den Vortrag abgesagt. Solche Fälle mehren sich an den deutschen Universitäten.

Oft sind es aber die Universitätsleitungen selbst, die Druck auf Wissenschaftler ausüben beziehungsweise ihnen bestimmte Auflagen machen: die Durchführung bestimmter Veranstaltungen wird untersagt, Kriterien für Einladungen externer Referenten werden angelegt und das Betreten bestimmter Liegenschaften sogar verboten. Solche Fälle werden in unserem Sammelband hinreichend dokumentiert. Generell lässt sich sagen, dass von Universitäten und auch von Wissenschaftsorganisationen wie der DFG (Anm.: der Deutschen Forschungsgemeinschaft) immer häufiger Auflagen gemacht werden, zum Beispiel bezüglich der Gleichstellungsmaßnahmen oder des Genderns. Werden solche Auflagen nicht erfüllt, wird die Finanzierung eines Projekts nicht genehmigt.

Inwiefern hat die Cancel Culture Einfluss auf den wissenschaftlichen Betrieb?

Wissenschaft lebt von Meinungsvielfalt, Kritik und kontroversen Debatten. Die Cancel Culture ist eine Strategie, Wissenschaftler, die den herrschenden Vorstellungen zu Gender, Migration, Klimawandel oder Corona-Politik widersprechen, aus der Wissenschaft auszuschließen. Das verhindert Meinungsvielfalt, Kritik und kontroverse Debatten. Wissenschaftler, die bereits “aufgefallen” sind, haben an den Universitäten kein einfaches Leben. Sie werden nicht mehr zu Vorträgen eingeladen oder dazu, Beiträge in Sammelbänden zu schreiben, ihre Veranstaltungen werden gestört oder verhindert und ihre Forschungsvorhaben werden nicht genehmigt beziehungsweise nicht finanziert.

Als Folge der Cancel Culture hat sich an den Universitäten ein Klima der Angst und des Misstrauens, der Einschüchterung und Denunziation breitgemacht. Wissenschaftler trauen sich nicht mehr, sich zu bestimmten Themen kritisch zu äußern. Sie sehen ja, was mit Wissenschaftlern passiert, die bereits “aufgefallen” sind. Um nicht aufzufallen und geächtet zu werden, halten sie ihre Meinung zurück. Das bedeutet, dass sie sich selbst in Lehre und Forschung einschränken. Sie passen sich an die herrschenden Meinungen und Verhältnisse an. Daraus entsteht die Haltung des vorauseilenden Gehorsams, die für die Wissenschaft sicherlich nicht förderlich ist.

Dieses Phänomen ist besonders im akademischen Mittelbau zu beobachten, denn dort haben die Wissenschaftler befristete Verträge. Jüngere Wissenschaftler vermeiden es, kontroverse Themen anzusprechen, um die Verlängerung ihrer Verträge nicht zu gefährden. Dieses Verhalten setzt sich aber auch auf höheren akademischen Karrierestufen, vor allem bei der Bewerbung um Professuren fort.

Ich mache bei der Cancel Culture eine ad-hominem-Struktur aus, nach der nicht mehr wichtig ist, was, sondern von wem etwas vertreten wird. Stimmen Sie dem bei?

Ja, das ist ein zentrales strukturelles Merkmal der Cancel Culture. Man setzt sich mit dem entsprechenden Wissenschaftler nicht argumentativ auseinander, das heißt, man widerlegt nicht seine Argumente mit Gegenargumenten, sondern setzt den Fokus auf seine Person und andere argumentationsfremde Faktoren. Man fragt nicht danach, was er schreibt, sondern danach, wo er schreibt, von wem er zitiert wird, was er vor 20 Jahren zu einem anderen Thema gesagt hat, mit wem er sich getroffen hat, welcher Partei er angehört und so weiter.

Die beliebteste ad-hominem-Strategie besteht darin, Wissenschaftler in die rechte Ecke zu stellen, und zwar auch dann, wenn sie sich selbst als Linke verstehen. Sie werden zu diesem Zweck als “frauenfeindlich”, “homophob”, “islamophob”, “rassistisch” und so weiter bezeichnet – alles Attribute, die sie zu “Rechten” machen sollen. Diese Strategie ist in Deutschland besonders erfolgreich, denn die Zuschreibung “X ist rechts” soll die Assoziationskette “rechts” – “rechtsextrem” – “Nazi” in Gang setzen.

In der Politik ist Sahra Wagenknecht ein bekanntes Beispiel für eine Linke, die auch von manchen Mitgliedern ihrer eigenen Partei in die rechte Ecke gestellt wird, weil sie sich kritisch zu Themen wie Wokeness, Migration, Klima- und Energiepolitik sowie Russland-Ukraine-Konflikt geäußert hat. In unserem Sammelband publizieren auch Wissenschaftler, die sich ausdrücklich als Linke bezeichnen und Opfer der Cancel Culture geworden sind.

Ad-hominem-Angriffe haben die Funktion, Wissenschaftler zu diskreditieren, um sie aus der Wissenschaft auszuschließen, denn sind sie erst diskreditiert, können sie als Wissenschaftler nicht mehr ernst genommen werden. Darüber hinaus können sie nicht als seriöse Ansprechpartner bei bildungs- und hochschulpolitischen Anliegen infrage kommen. Sie werden als Entscheidungsträger in der Wissenschaft nicht mehr akzeptiert.

Was haben Cancel Culture und die Diskursanalyse von Michel Foucault gemeinsam?

Für die sogenannte “kritische Diskursanalyse”, die auf Überlegungen von Michel Foucault zurückgeht, sind Diskurse keine rein sprachlichen Gebilde, vielmehr konstruieren sie die gesellschaftlich-politische Realität. Und da diese Realität nach Foucault durch Machtkämpfe bestimmt ist, sind Diskurse Instrumente, mit denen Machtkämpfe durchgeführt und Machtverhältnisse verändert werden.

Die kritische Diskursanalyse soll nicht bei einer Beschreibung von gesellschaftlich-politischen Sachverhalten stehen bleiben, sondern Machtkämpfe austragen. Auch die Wissenschaft wird von ihr als Ort von sozialen und politischen Kämpfen angesehen. Sie betrachtet die wissenschaftliche Arbeit nicht als einen offenen Forschungsprozess, in dem Annahmen sich als falsch erweisen können, sondern als ein Instrument zur Durchsetzung von politischen Interessen.

Wenn Wissenschaft zum Instrument der Durchsetzung von politischen Interessen gemacht wird, also letztlich zum Instrument der reinen Machtpolitik degradiert wird, dann ist es “berechtigt”, unliebsame Wissenschaftler mit unlauteren Mitteln anzugreifen und zu canceln. Dann gelten keine Prinzipien oder ethische Normen mehr. Die kritische Diskursanalyse verletzt somit zentrale, in der europäischen Aufklärung verwurzelte Prinzipien der Wissenschaft wie Ergebnisoffenheit, rationales Argumentieren, Pluralität von Meinungen, Toleranz gegenüber anderen Meinungen, Berücksichtigung von Meinungen, die dem wissenschaftlichen Mainstream widersprechen und so weiter.

Sie schreiben, “dass die Veränderung des Sprachgebrauchs bezüglich bestimmter Gruppen”, Sie nennen hier beispielsweise die Afroamerikaner in den USA, “die soziale Wirklichkeit dieser Gruppen nicht verbessert hat.” Können Sie das weiter ausführen?

Der Sprachwissenschaftler Heinz-Dieter Pohl untersucht in unserem Sammelband die Sprache der Politischen Korrektheit. Er betont, dass die fortwährende Neuschöpfung Negro – black people – coloured people – Afro-Americans zu keiner durchgreifenden Veränderung der sozialen Lage dieser Gruppe geführt hat, was zum Beispiel die Ereignisse und die Debatten nach dem Tod von Georg Floyd zum Ausdruck gebracht haben.

Pohl bezieht sich dabei auf den Philosophen Slavoj Žižek, der darauf hinweist, dass sich politisch korrekte Begriffe abnützen, wenn sie nicht mit einer Veränderung der sozialen Wirklichkeit einhergehen. Nach Žižek übernehmen die Ersatzbegriffe mit der Zeit die Bedeutung des Wortes, das sie eigentlich ersetzen sollten. Die rein sprachliche Konstruktion immer neuer Begriffe bringt sogar die Unfähigkeit zum Ausdruck, die tatsächlichen Ursachen von Rassismus alleine durch den Sprachgebrauch zu überwinden.

Pohl führt in diesem Zusammenhang auch den Germanisten Armin Burkhardt an, dem zufolge Politische Korrektheit nicht erfolgreich sein kann, solange alte Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen bestehen. Es kommt also darauf an, Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen zu überwinden. Die Veränderung des Sprachgebrauchs kann hingegen keine zielführende Aufgabe sein.

Vielen Dank.

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