Die Diskussion um Antisemitismusvorwürfe hilft bislang nicht den Juden, weder in Deutschland noch in Israel.

Hier gehts zum Antisemitismus-Vorwürfe Teil 1 und Teil 2

Fakten und Debatten

Die Meldestellen des Bundesverbandes Rias e.V. haben im Jahr 2021 2738 antisemitische Vorfälle erfasst. Darunter befanden sich 2182 Vorfälle verletzenden Verhaltens, 101 Bedrohungen, 204 gezielte Sachbeschädigungen und 182 Massenzuschriften. Mit Gewalt gingen laut dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt 2021 51 antisemitische Vorfälle einher. Das heißt: Auch wenn der Antisemitismus in der Gesamtbevölkerung wie auch bei Muslim*innen keine so bedeutende Rolle spielt, wie es manchmal in den Medien erscheint, gibt es Übergriffe bis hin zu Gewalt. Und jeder Übergriff ist einer zu viel in einem Land, das einzigartig in der Welt ist, was die Vernichtung von Juden angeht.

Aber die Keule Antisemitismus gegenüber Organisationen und Kulturschaffenden zu schwingen, die nicht 100prozentig auf der Linie der wahrgenommenen jüdischen Sprecher*innen liegen, lenkt von den tatsächlichen Problemen von Juden in Deutschland ab und dient einer Selbstvergewisserung als „Wir sind die Guten“ mehr als den Betroffenen.

Die Entwicklung im und um den Staat Israel wäre ein Grund, die Position der Selbstgerechtigkeit zu verlassen, denn Israel ist in Gefahr. Die Palästinenser*innen sind zwar gespalten, was die Gegnerschaft zu Israel angeht: Während die Fatah-Anhänger*innen eine friedliche Lösung anstrebten, zielt die Hamas nach wie vor auf die Vernichtung Israels, auch mit Terroranschlägen. Aber das israelische Militär und die israelische Verwaltung üben die Macht in den palästinensischen Gebieten aus. Die Situation dort ist für die Bewohner*innen eine ständige Bedrohung (vgl. Zang 2021: 18 f., 50 f., 64 f). Und auch Juden in Israel sind immer wieder Gewalt und Terrorismus ausgesetzt.

Nicht nur in seinen Romanen hat Oz das Leiden der Israelis an dem Konflikt zum Ausdruck gebracht: „Die schon über hundert Jahre andauernden Auseinandersetzungen zwischen uns und den Palästinensern sind eine blutende Wunde, nicht nur eine blutende Wunde, sondern eine infizierte Wunde voller Eiter. Sie ist inzwischen schon zu einem Abszess geworden. So eine Wunde heilt man nicht so leicht. Das funktioniert nicht“ (Oz 2020: 12). Diese Wunde wurde durch die israelische Politik immer weiter verschärft: „Israelische Schriftsteller und jüdische Intellektuelle sehen eine ‚Erosion der Demokratie, ein Erstarken des Rassismus, das Aushöhlen des Rechtsstaates und einen immer rücksichtsloseren Einsatz von Gewalt‘ in Israel“ (Bartov 2019: 58).

Der damalige israelische Regierungschef Lapid sprach sich im September 22 bei der UN-Vollversammlung wieder für eine Zweistaatenlösung aus. Er bot sogar den PalästinenserInnen im Westjordanland an, gemeinsam die Wirtschaft aufzubauen. Nach der letzten Wahl in Israel gibt es jedoch keine Hoffnung für eine Lösung, die beide Seiten – die israelische und die arabische – zufriedenstellt. Die Zweitstaatenlösung ist durch die israelische Siedlungspolitik vom Tisch. Wie Israel überleben soll mit einer extrem rechten Regierung, die die Auflösung der Gewaltenteilung plant und Straftäter zu Ministern macht, weiß niemand.

Weder die Bundesregierung noch die jüdischen Repräsentant*innen ziehen ausreichende Konsequenzen aus der Gefahr, in der Israel sowohl von außen wie von innen schwebt. Die Bedrohungen von außen sieht Grigat (2022a, b) sehr deutlich, zumal die derzeitige Rebellion im Iran die Gefahr noch verstärkt. Aber auch von innen ist die Existenz Israel gefährdet: durch das Hintanstellen der bislang geltenden liberalen Werte und die Politik gegenüber den Palästinenser*innen.

Es ist zu befürchten, „dass Israel die jüdischen Mehrheitspositionen weltweit schwächt, gegen solche verstößt und einen Keil zwischen die jüdischen Gemeinschaften treibt. Israel bekommt eine Regierung, die rechtsextremer sein könnte als Kräfte in Europa. Entstanden ist das nicht über Nacht, sondern Resultat einer jahrelangen Entwicklung, die oft hinter anderen vorgelagerten Diskursen, wie Antisemitismus, verschwand“ (Kugelmann 2022).

Der Antisemitismus ist nicht das einzige Thema, bei dem die Welt in „Die Guten“ (= wir) und die Bösen (= die Anderen) eingeteilt wird, Gleiches geschieht z.B. bei der Debatte um Black Lives Matter (vgl. McWhorter 2022). Es bilden sich in der Ablehnung einer universalistischen Perspektive (Holz/Haury 2022) Gemeinschaften, in denen „man sich wechselseitig der eigenen Vortrefflichkeit versichert, wie Hegel das in einer wunderbaren Formulierung genannt hat“ (Charim 2022:63). Gegenargumente müssen jedoch zugelassen werden, Ambiguität muss ausgehalten werden, um der Komplexität menschlichen Handelns und Denkens gerecht werden zu können (vgl. auch die Grundthesen von Holz/Haury 2022).

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ein Feld darstellt, in dem höchste Achtsamkeit vor Rechthaben und Selbstgewissheit stehen muss. Wird die Energie stattdessen auf die Streitkultur verlegt, wird großer Schaden angerichtet: für alle in Deutschland, aber vor allem für die Menschen in Israel.

Der Beitrag ist auch auf Hilde von Ballusecks Blog zu finden.


Quellen

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  • American Jewish Committee: Antisemitismus in Deutschland. Eine Repräsentativbefragun durchgeführt von dem Institut für Demoskopie Allensbach 2022. https://ajcgermany.org/system/files/document/AJC Berlin_Antisemitismus in Deutschland_Eine Repräsentativbefragung.pdf
  • Amtmann, Debora (2022): Säkulare Utopien. In: Cazés: 103-11
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  • Neiman, Susan im Gespräch mit Judith Elisabeth Weiss und Herbert Kopp-Oberstebrink (2022): Die politische Instrumentalisierung des Antisemitismus. Anmerkungen zum gegenwärtigem Kulturkampf. Aus bd. 284, Arkadien in der Krise. Kunstforum International.
  • Neiman, Susan/Widt, Michael (Hrsg., 2022): Historikerstreiten. Gewalt und Holocaust-Debatte. Berlin:
  • Oz, Amos (2020): Die letzte Lektion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
  • Pirotte, Philippe (2022) im Gespräch mit Ludwig Greven: Der Antisemitismus-Vorwurf wurde instrumentalisiert. In: Politik und Kultur 9: 20
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  • Stein, Shimon und Moshe Zimmermann (2019): Wegweiser für die Verwirrten. In: Benz 2019: 19-32
  • Sznaider, Natan (2022): Projektionsbilder statt Kunst. Documenta fifteen und die jüdische Frage. In: Politik und Kultur 09/22:1
  • Wetzel, Juliane (2020): Kampagnen um die Deutungshoheit über Antisemitismus. In: Benz 61-81
  • Wiedemann, Charlotte (2022): Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Berlin: Propyläen
  • Zang, Johannes (2021): Erlebnisse im Heiligen Land. Wien: Promedia

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