Amnesty International wirft Lettland bei der Flüchtlingsabwehr an der EU-Außengrenze Folter, Verschwindenlassen und Rassismus vor. Die EU deckt das lettische Vorgehen.

Amnesty International erhebt zum wiederholten Mal schwere Vorwürfe wegen der brutalen Abwehr von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen – diesmal gegenüber Lettland. Wie die Menschenrechtsorganisation in einer soeben veröffentlichten Untersuchung berichtet, werden dort Flüchtlinge nicht nur völkerrechtswidrig pauschal zurückgeschoben – oft von vermummten, nicht gekennzeichneten „Kommandos“ unter Anwendung von brutaler Gewalt. Viele werden zudem in Zelten ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt interniert und dort mit Schlägen, Tritten und Elektroschockern malträtiert, die etwa auch gegen Genitalien eingesetzt werden – klare Folter, konstatiert Amnesty. Das lettische Vorgehen ähnelt damit demjenigen der litauischen und der polnischen Behörden stark, die Flüchtlinge mit nahezu identischen Methoden behandeln. Dabei gilt das alles lediglich für Flüchtlinge von außerhalb Europas, nicht jedoch für weiße Europäer aus der Ukraine, die in Lettland – wie auch in Litauen oder in Polen – angemessen empfangen werden. Mit Blick darauf stuft Amnesty die Repression der lettischen Grenzbehörden gegen nichtweiße Flüchtlinge aus außereuropäischen Staaten explizit als rassistisch ein.

Hilfe für weiße Europäer

In ihrem neu vorgelegten Bericht über den Umgang mit Flüchtlingen in Lettland zieht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International einen recht naheliegenden Vergleich, der in Europa von offiziellen Stellen gerne beschwiegen wird, in den außereuropäischen Herkunftsländern von Flüchtlingen aber längst ins Allgemeinbewusstsein eingedrungen ist: den Vergleich mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. Diese seien in der lettischen Hauptstadt Riga „mit warmem Essen, Kleidung und Unterkunft begrüßt worden, in geordnete Registrierungsverfahren geleitet oder in die Lage versetzt worden, sicher in andere Länder Europas weiterzureisen“, hält Amnesty fest.[1] Dies entspricht ganz dem Vorgehen anderer europäischer Staaten innerhalb und außerhalb der EU. Es belegt, dass auch in Europa eine angemessene Behandlung von Flüchtlingen nicht nur grundsätzlich möglich, sondern auch binnen kürzester Frist praktisch realisierbar ist. Lettland mit seinen kaum zwei Millionen Einwohnern habe es vermocht, innerhalb weniger Monate über 35.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen (Stand: 26. Juli 2022) und einer noch deutlich höheren Zahl den Transit in Richtung EU zu ermöglichen, konstatiert Amnesty. Die Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge sei in einem am 3. März 2022 beschlossenen Gesetz sogar explizit vorgeschrieben worden.

Abwehr nichtweißer Nichteuropäer

In krassem Kontrast dazu steht die brutale Abwehr von Flüchtlingen etwa aus Syrien oder dem Irak, die seit dem Sommer 2021 über Belarus in die EU einzureisen versuchten – nach Polen, Litauen oder eben auch Lettland. Amnesty nennt dazu Zahlen. Demnach sahen sich die lettischen Behörden in der Lage, zwischen August 2021 und dem 25. Mai 2022 exakt 156 Flüchtlinge von außerhalb Europas ins Land zu lassen – aus „humanitären Gründen“. 508 Flüchtlinge wurden zwischen August 2021 und April 2022 wegen – tatsächlichen oder angeblichen – illegalen Grenzübertritts festgenommen und interniert. Schon am 10. August 2021 hatte Riga den Notstand ausgerufen – aufgrund eines angeblich überwältigenden Andrangs von Flüchtlingen an der lettisch-belarussischen Grenze. Nach genauen Angaben befragt, gaben die lettischen Behörden an, von August 2021 bis zum 25. Mai 2022 habe man 6.676 Personen an der Grenze abweisen müssen; das wären wenig mehr als 20 pro Tag – ungewöhnlich wenig, um einen angeblichen Notstand zu begründen. Detaillierte Recherchen ergaben allerdings, dass die Behörden jeden Einreiseversuch mitzählten – auch diejenigen von Personen, die zum Teil mehr als zwanzigmal vergeblich ins Land zu gelangen suchten. Die tatsächliche Zahl der abgewiesenen Personen wird laut Amnesty auf vermutlich nicht mehr als 250 geschätzt.

Im Schnee, von Wölfen bedroht

Der Notstand an der Grenze, den Riga am 10. August dieses Jahres zum vierten Mal verlängert hat – er gilt nun vorerst bis zum 10. November –, ist insofern von Bedeutung, als er es den Grenzbehörden erlaubt, Einreisewillige pauschal über die Grenze zurückzuschieben und ihnen das Stellen eines Asylantrags zu verweigern; beides bricht offen das Völkerrecht. Tatsächlich drängen lettische Grenzbeamte und andere Repressionskräfte Flüchtlinge mit großer Konsequenz und regelmäßig auch mit brutaler Gewalt über die Grenze nach Belarus zurück. Dabei kommen auch bewaffnete Sondereinheiten zum Einsatz, die vollständig vermummt und in schwarzer Kleidung auftreten und deren genauer Status unklar ist. Sie sind offenkundig Teil der staatlichen Repressionsbehörden und unterstehen den Grenzbehörden, sind aber nicht weiter identifizierbar und werden allgemein „Kommandos“ genannt. Nach Angaben von Amnesty werden sie für die meisten Gewalttaten gegen Flüchtlinge an der Grenze verantwortlich gemacht. Sie sorgen zudem mit dafür, dass abgewiesene Flüchtlinge ohne die nötige Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten weitestgehend schutzlos in den Wäldern im Grenzgebiet dahinvegetieren müssen – bei jeglichem Wetter inklusive Regen, Kälte und Schnee, trotz wiederkehrender Bedrohung durch Wölfe und Bären.

Folter, Verschwindenlassen

Eine lettische Besonderheit scheint zu sein, dass Flüchtlinge immer wieder nicht in feste Gebäude, sondern in Zelte im Grenzgebiet gepfercht werden, in denen sie von bewaffnetem Personal festgehalten werden, das ihnen regelmäßig ihre Mobiltelefone wegnimmt; dadurch verlieren sie jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Die Zelte entsprechen nicht den dürftigsten sanitären Standards; Toiletten sind nicht vorhanden und werden durch simple Löcher im Boden neben den Zelten ersetzt. Flüchtlinge, die eine gewisse Zeit in den Zelten verbringen mussten, berichten von vollkommen unzureichender Nahrung und brutaler Gewalt. Demnach setzt das Wachpersonal – oft wohl die anonymen, vermummten „Kommandos“ – immer wieder Elektroschocker ein, die auf unterschiedlichste Körperteile gerichtet werden, darunter Genitalien. Auch von Schlägen und Tritten sowie allerlei Formen erniedrigender Gewalt ist die Rede. Amnesty stuft die Gewalttaten zumindest teilweise als offene Folter ein. Zudem urteilt die Menschenrechtsorganisation, wer Menschen in Zelte an unbekannten Orten festhalte und ihnen jegliche Möglichkeit raube, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen, mache sich eventuell eines Verstoßes gegen die Verbote geheimer Internierung und erzwungenen Verschwindenlassens schuldig.

Tote an der Grenze

Die Zustände an der Außengrenze Lettlands entsprechen im Wesentlichen denjenigen an den Außengrenzen Litauens und Polens, an denen ebenfalls, scheinbar legitimiert durch die Ausrufung eines Notstandes, Flüchtlinge pauschal und unter Einsatz von Gewalt abgewiesen werden. Im Fall Litauens ist dokumentiert, dass Grenzbeamte Flüchtlinge in einen Grenzfluss trieben, in dem sie unter Lebensgefahr brusthohes Wasser durchqueren mussten.[2] Die litauischen Internierungslager für Flüchtlinge sind von Amnesty als „hochgradig militarisiert“ beschrieben worden; die Lebensbedingungen in ihnen kommen, urteilt die Organisation, „nach internationalem wie auch nach EU-Recht Folter und anderen Formen von Misshandlung gleich“. Proteste gegen die katastrophalen Verhältnisse wurden mit Tränengas niedergeschlagen.[3] Ähnlich ist die Lage in Polen, wo zeitweise bis zu 24 Flüchtlinge in acht Quadratmeter große Räume gepfercht wurden; einige, darunter Personen, die vor Folter in ihren Herkunftsstaaten geflohen waren, wurden mit dem Ruf „Willkommen in Guantanamo!“ begrüßt.[4] Nach Angaben einer polnischen Anwältin, die für die Helsinki Foundation for Human Rights in Warschau tätig ist, sind inzwischen nachweislich mindestens 20 Flüchtlinge im polnisch-belarussischen Grenzgebiet zu Tode gekommen, mutmaßlich sogar erheblich mehr.[5] Warm empfangen werden auch in Litauen und in Polen ausschließlich weiße Europäer aus der Ukraine.

Menschenrechte als Kampfinstrument

Wie üblich werden Folter, Verschwindenlassen und offener Rassismus an der Außengrenze der EU auch im Fall Lettlands von Brüssel gedeckt. Auf die Wahrung von Menschenrechten dringt die Union lediglich gegenüber Staaten, die sie dadurch aus politischen Motiven unter Druck setzen will.


Mehr zum Thema: „Willkommen in Guantanamo!“


[1] Zitate hier und im Folgenden: Amnesty International: Latvia: Return home or never leave the woods. Refugees and migrants arbitrarily detained, beaten and coerced into „voluntary” returns. London, October 2022.

[2] Amnesty International: Lithuania: Forced out or locked up. Refugees and migrants abused and abandoned. London, 27.06.2022.

[3] S. dazu „Willkommen in Guantanamo!”

[4] Amnesty International: Poland: Cruelty not compassion, at Europe’s other borders. London, 11.04.2022.

[5] Poland’s border wall hasn’t stopped the flow of migrants from Belarus. infomigrants.net 22.09.2022.

Der Originalartikel kann hier besucht werden