Anlässlich des Weltumwelttages am 5. Juni 2022 hat die Globalisierungskritikerin, Umweltaktivistin und Ökofeministin Vandana Shiva das Manifest zur Ökonomie der Fürsorge und Erddemokratie veröffentlicht. Dies geschah im Rahmen ihrer Tour durch Italien und Frankreich, bei der Dr. Shiva ihr neues Buch „Wahre Wirtschaft – Von der Geldgier zu einer Ökonomie der Fürsorge“ vorstellte und an zahlreichen Veranstaltungen teilnahm, darunter auch das EireneFest, Buchfestival für Frieden und Gewaltfreiheit, sowie eine gemeinsame Veranstaltung ihrer Organisation Navdanya International mit der Italienischen Buddhistischen Union und dem Stadtrat von Rom zu Agrarökologie und regenerativer Landwirtschaft.

„Die Zukunft der nächsten Generationen kann nur gesichert werden, wenn wir den Weg der Fürsorge und des Respekts für die Erde einschlagen, was einen tiefgreifenden Wandel des globalen wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Paradigmas voraussetzt“, so Navdanya International in einem Bericht zur Tour, die vom 3. bis zum 11. Juni 2022 stattfand. Wir publizieren im Folgenden das gesamte Manifest.

Manifest zu Ökonomien der Fürsorge und Erddemokratie

Von Dr. Vandana Shiva

Fürsorge und gegenseitige Unterstützung sind die Währungen des Lebens, sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft, die als Ganzes miteinander interagieren und intrinsische Werte und angeborene Rechte teilen.

Die Erde, Gaia, Terra Madre ist ein lebendiger Planet, dessen reiche Artenvielfalt sich über Milliarden von Jahren entwickelt hat und alles Leben erhält. Sie ist weder tote Materie noch ein Rohstoff, den es auszubeuten und zu degradieren gilt.

Der sorgsame Umgang mit der Erde und allem Leben ist unsere ethische und öko-logische Verantwortung.

Erdpflege ist die Ökonomie des Lebens, Oikonomia.

In einer Zeit des ökologischen und sozialen Zusammenbruchs und der Desintegration ist die Heilung und Regeneration der Erde die Grundlage für die Wiederherstellung der menschlichen Zukunft.

1. Pflege der Erde und Rechte der Erde

Erkenne an, dass wir eine Erdfamilie sind, miteinander verbundene Lebewesen, die in ihrer ganzen Vielfalt an einem gemeinsamen Lebensnetz teilhaben und dieses teilen. Ein sorgsamer Umgang mit der Erde regeneriert die Ressourcen, die Artenvielfalt und die Wirtschaft der Natur, die uns mit Leben und Nahrung versorgen. Die Erde und ihr Ökosystem versorgen uns mit Sauerstoff zum Atmen, Wasser, Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Medizin.

Die von fossilen Brennstoffen und Öl angetriebene Industrialisierung zerstört die lebenden Ökosysteme der Erde und hat zu Klimawandel, dem Verlust der lebenserhaltenden Artenvielfalt, Krankheiten, der Zerstörung der Wälder und dem Aussterben von Pflanzen und Tieren geführt, und das treibt uns in die Ausrottung.

Der Respekt vor den endlichen Ressourcen der Erde ist eine Grundvoraussetzung für eine Wirtschaft der Fürsorge und für eine fürsorgliche Menschheit.

2. Menschliche Intelligenz, Autonomie, Freiheit und Rechte

Die Menschen haben seit jeher untereinander, zusammen mit der Erde und ihrer Artenvielfalt, erschaffen und gearbeitet – eine Realität, die seit dem Beginn der Industrialisierung in Vergessenheit geraten ist und die wir jetzt zurückgewinnen müssen.

Der kartesianische, mechanistische und trennende Ansatz bezüglich allen Lebens hat die Menschen zu Maschinen gemacht, zu nicht-denkenden und mechanischen Wesen, die gedankenlos auf auferlegte Normen und Reize reagieren. Hochfrequenztechnologie und Digitalisierung betäuben unser Gehirn und unsere Intelligenz und untergraben unser angeborenes Recht zu wählen. Big Data, Algorithmen, künstliche Intelligenz (KI) und Robotik entwerfen eine Zukunft der Landwirtschaft ohne Landwirt:innen, der Produktion ohne Arbeitende, der Bildung und Information ohne Lehrende und der Gesundheit ohne Ärzt:innen.

Die Ökonomien der Fürsorge basieren auf der Rückgewinnung unseres Verstandes, unserer Autonomie und unseres kreativen Potenzials, um unsere Freiheiten und unser Recht auf Arbeit im Dienste der Erde, unserer Gemeinschaften und künftiger Generationen zu bewahren. Ökonomien der Fürsorge stimulieren kreative Freiheit, Gerechtigkeit und Zusammenhalt.

3. Gemeinschaften regenerieren

Das Leben ist ein sensibles und fürsorgliches Gemeinschaftsphänomen – in der Gesellschaft wie in der Natur. Es ist beziehungsorientiert, nicht atombasiert. Gemeinschaften sind der Ort, an dem die lokalen Ökonomien für Lebensunterhalt, Gesundheit und Wohlbefinden zusammenkommen und sich regenerieren. Beziehungen, die aus Respekt und Gegenseitigkeit gewoben sind, kultivieren Kreativität und Wohlbefinden. Ökonomien der Fürsorge schaffen Harmonie und Wohlstand.

4. Gemeingüter zurückerobern

Care-Ökonomien basieren auf der Rückeroberung von Gemeingütern und öffentlichen Gütern – der Pflege der Erde und dem Teilen der gemeinsamen Ressourcen der Erde: der Gemeingüter Saatgut und Biodiversität, Wasser und Land, Lebensmittel und Ernährung; ausserdem der öffentlichen Güter und Dienstleistungen, die Gesellschaften durch gemeinsame Verantwortlichkeiten und gemeinsame Rechte entwickelt haben: Wissen, Demokratie, Gesundheit, Bildung, Energie, Verkehr und Unterkunft.

Privatisierung, Patente und die Einhegung von Gemeingütern sind ein gescheitertes System eines kolonialen Prozesses, der auf Ausbeutung und Gier basiert, und haben in Care-Ökonomien keinen Platz. Die Finanzialisierung und Kommerzialisierung der Natur reduziert die Erde und ihre Ressourcen auf finanzielle Vermögenswerte, die heute von Milliardären und ihren Vermögensverwaltungsfonds kontrolliert werden, verschärft die ökologische Krise und gefährdet indigene Gemeinschaften und Kleinbauern, die seit jeher für die Artenvielfalt und die Erde sorgten. Mutter Erde ist nicht zu verkaufen.

5. Vom Wettbewerb zur Kooperation, von Ökonomien der Gier zu Ökonomien der Fürsorge, von extraktiven Ökonomien zu den Kreislaufwirtschaften des Gesetzes der Rückgabe

Kooperation und Synergie sind die Grundlage von Care-Ökonomien. Diese Wirtschaften der Fürsorge respektieren die Grenzen der Erde und basieren auf Bedürfnissen. Gandhi erinnerte uns daran: „Die Erde hat genug für die Bedürfnisse aller, aber nicht für die Gier einiger weniger“.

Wettbewerb und Gier verletzen die ökologischen Prozesse der Natur und zerstören die Fähigkeit von Ökosystemen und Gemeinschaften, zu produzieren, sich zu erneuern und zu regenerieren. Eine Wirtschaft der Gier, die auf Extraktivismus und Wettbewerb basiert, schafft Knappheit, Hunger und Krankheit, Wegwerfbarkeit, Arbeitslosigkeit und Gewalt.

Wirtschaften der Fürsorge basieren auf Kreislaufwirtschaften, auf Geben, Gegenseitigkeit, Teilen und Wechselseitigkeit – auf dem Gesetz des Zurückgebens.

Kreislaufwirtschaften erhöhen das kreative und regenerative Potenzial in Gesellschaft und Natur. Ökonomische Systeme der Fürsorge sind zirkulär, lokal, partizipativ und harmonisch und führen zu Wohlstand und Fülle.

6. Vielfalt und Dezentralisierung

Die Globalisierung hat zu einer zentralisierten Kontrolle über die Ressourcen der Erde geführt, zu einer Zentralisierung der Kontrolle über die Märkte und zu einer Verschlechterung der Qualität insbesondere der Lebensmittel, die wir essen, und der Kleidung, die wir tragen. Qualität erfordert Sorgfalt. Ökonomien der Fürsorge setzen Dezentralisierung und partizipative Demokratie voraus und umfassen kulturelle und biologische Vielfalt, die zu Partizipation und Lokalisierung auf der Grundlage von Beziehungen und Verbundenheit aufrufen.

7. Demokratie

Ökonomien der Fürsorge basieren auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde für alle und sind das Herzstück einer lebendigen Demokratie des Volkes, durch das Volk, für das Volk. Keine Person oder Spezies ist überflüssig.

Wirtschaften der Fürsorge schaffen Nahrung für alle, Gesundheit für alle, Arbeit für alle.

Wirtschaften der Gier basieren auf zentraler Kontrolle, Uniformität, Herrschaft und der Schaffung von Hierarchien und sind eine Bedrohung für die Demokratie.

Gier fördert den Einsatz rücksichtsloser Technologien, die der Erde und ihren Menschen schaden und die Menschen entbehrlich machen.

Erddemokratie ist die Demokratie allen Lebens in Verbundenheit und Beteiligung.

8. Rücksichtnahme auf und Sorge für die Rechte zukünftiger Generationen

Die Prinzipien von Ökonomien der Fürsorge basieren auf dem visionären Prinzip der siebten Generation der Irokesen-Konföderation, der ältesten lebenden partizipativen Demokratie. In dieser der Rücksichtnahme und Fürsorge für die nächsten sieben Generationen das Leitprinzip für alle politischen Maßnahmen ist.

Das Prinzip besagt: „Bei allen unseren Überlegungen müssen wir die Auswirkungen unserer Entscheidungen auf die nächsten sieben Generationen berücksichtigen“.

9. Von Krieg und Konflikten zu Frieden und Harmonie

Gier und Konkurrenz schaffen Konflikte um Ressourcen, Kriege um die Ressourcen der Erde und Kriege, die die Erde zerstören.

Um den ökologischen Kollaps und das Artensterben zu vermeiden, müssen wir den Krieg gegen die Erde beenden und Frieden mit ihr schließen. Wir müssen nach ökologischen Gesetzen arbeiten, die planetarischen Grenzen und die Rechte aller Arten und aller Mitmenschen in Harmonie als Ganzes respektieren.

Durch die Pflege der Erde, durch die Regeneration und die Heilung unterbrochener Kreisläufe und zerrissener Gesellschaften können wir Frieden mit der Erde schließen. Nicht mehr zu nehmen, als wir brauchen, ist ein Akt des Friedens. Die Gaben der Erde zu pflegen und zu teilen ist der Weg zum Frieden.

Übersetzung aus dem Englischen von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!

Weitere Infos zur Autorin gibt es unter www.vandana-shiva.de

 

Der Originalartikel kann hier besucht werden