Nato-Raketen in Polen und bald in Finnland bringen das Gleichgewicht des Schreckens arg ins Wanken.

Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber

Es ist sehr gut nachvollziehbar, dass Finnland ernsthaft prüft, ein Gesuch um Aufnahme in die Nato zu stellen. Nach dem Überfall auf die Ukraine wird keine Rücksicht mehr genommen auf das Sicherheitsbedürfnis des angrenzenden Russlands. Doch es entsteht ein weiteres Problem: Das atomare Gleichgewicht des Schreckens wird endgültig ausgehebelt. Ein Atomkrieg wird wahrscheinlicher.

In erster Linie dank des damals herrschenden Gleichgewichts des Schreckens blieb Europa während der Jahrzehnte des Kalten Krieges vor einem Atomkrieg verschont. Sowohl die Sowjetunion als auch die USA mussten davon ausgehen, dass bei einem atomaren Angriff die andere Seiten genügend Zeit hat, um mit eigenen Atomwaffen zurückzuschlagen.

Ein Angriffskrieg mit Atomwaffen hätte sowohl für die Sowjetunion als auch für die USA zur Folge gehabt, dass auch eigene Städte zerstört und verseucht werden: «Wer zuerst schiesst, stirbt als zweiter».

Noch 2018 schrieb das US-Verteidigungsministerium auf seiner Webseite: «Abschreckung ist seit fast 70 Jahren ein zentrales Element der Friedenssicherung.»

Das Risiko eines Fehlalarms

Sobald das Satelliten-Überwachungssystem Alarm auslöst und meldet, der Gegner habe atomar bestückte Raketen abgeschossen, müssen genügend Minuten zur Verfügung stehen, um den Alarm zu überprüfen und nicht voreilig die eigenen Atomraketen abzufeuern.

Ein solcher Zwischenfall wurde am 26. September 1983 bekannt. Das automatische Überwachungssystem in Russland meldete einen Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen. An der Spitze der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung war Offizier Stanislaw Petrow im Einsatz. Er hatte genau 28 Minuten Zeit, um einen atomaren Gegenangriff auszulösen. Diese Zeit erlaubte es ihm, den ausgelösten Alarm rechtzeitig als Fehlalarm einzustufen. Die Knöpfe zum Gegenangriff wurden nicht gedrückt. Petrow verhinderte einen nuklearen Schlag gegen die USA und damit einen Atomkrieg.

Erhöhtes Risiko eines einseitigen Atomschlags

Das Stationieren von Abschussrampen und Raketen, die auch atomar bestückbar sind, unmittelbar an den Grenzen Russlands – nur wenige Minuten von Moskau entfernt – erhöht das Risiko, dass ein nicht mehr korrigierbarer Fehlalarm einen atomaren Schlagabtausch auslöst.

In Polen und Rumänien stationieren die USA bereits heute sogenannte MK-41-Raketensysteme. Diese Abschussrampen seien für Defensivwaffen gedacht. Man kann sie jedoch auch mit nuklear bestückten Raketen verwenden. Falls die Russen aufgrund von Satellitenbildern vermuten, dass solche Raketen unmittelbar an der Landesgrenze in Stellung gebracht werden und möglicherweise Gefahr droht: Wird Russland warten, bis die Raketen in Richtung Moskau abgeschossen werden?

Noch gefährlicher: Solche Abschussrampen und Raketen an den Grenzen zu Russland heben auch das atomare Gleichgewicht des Schreckens auf. Denn nach einem Angriff der USA würden Russland höchstwahrscheinlich die nötigen Minuten fehlen, um einen Gegenangriff gegen die USA oder Europa auszulösen. Dieses Ungleichgewicht des Schreckens liefert Russland möglichen Drohungen und Erpressungen des Westens aus – ausser Russland würde sich gegen Erpressungen mit einem selbstmörderischen atomaren Erstschlag wehren.

Der Raketen-Abwehrvertrag «ABM-Vertrag» von 1972 hatte das Stationieren solcher Raketen in Europa verboten. Doch seit die USA Ende 2001 diesen Vertrag gekündigt hatten, rüsteten beide Seiten wieder auf (siehe Infosperber vom 22.12.2021: Der Startschuss zum Wettrüsten 2.0 – vor 20 Jahren).

Das Risiko eines nuklearen Schlagabtauschs hat sich seit dem Kalten Krieg zusätzlich erhöht, weil heute auch Staaten wie Nordkorea, Pakistan, Indien und Israel Atomwaffen besitzen.

Ziel muss eine kontrollierbare Abrüstung sein

Aus Sicht Russlands gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die USA oder die Nato Russland nicht angreifen. Diktatoren oder autoritäre Regimes, die in ihren Ländern Menschenrechte verletzen oder Minderheiten unterdrücken, dienten den USA in den letzten Jahrzehnten häufig als Anlass, um einen «Regime Change» anzupeilen. Vor allem, wenn es sich um Länder mit grossen Energie- oder Rohstoffvorkommen handelte: Irak, Libyen, Afghanistan, Syrien, Venezuela.

Aus Sicht Europas muss ein atomarer Schlagabtausch unbedingt verhindert werden. Denn die Atombomben würden wahrscheinlich zuerst Europa treffen. Statt jetzt nur über ein weiteres Aufrüsten zu reden, müsste Europa konkrete Vorschläge zur gegenseitig kontrollierbaren Abrüstung erarbeiten. Eine solche wäre im Interesse aller Beteiligten – ausser der Rüstungslobby.

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Den Radio-Postcast hat Klaus Jürgen Schmidt von «Trommeln im Elfenbeinturm» realisiert.