Die aktuelle völkerrechtswidrige Invasion der Türkei in den Irak mit Luftangriffen und der Entsendung von Bodentruppen bleibt für Ankara folgenlos; Berlin und der Westen erheben keine Einwände.

Auch die jüngste völkerrechtswidrige Invasion des NATO-Partners Türkei in einen Nachbarstaat stößt in Berlin nicht auf Kritik. Die türkischen Streitkräfte haben in den vergangenen Tagen mit Luftangriffen und mit Bodentruppen Angriffe auf Ziele im Nordirak durchgeführt; sie gelten Aktivisten der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Aus dem Irak werden Proteste gegen die illegale Militäroperation laut. Die Bundesregierung wie auch die Regierungen der anderen NATO-Staaten hingegen erheben keinerlei Einwände – ebensowenig wie gegen die vorigen Angriffskriege der Türkei gegen Syrien, bei denen seit 2018 Teile des Landes faktisch annektiert wurden. Beobachter werfen den türkischen Besatzungskräften in Nordsyrien schwerste Verbrechen vor, darunter willkürliche Enteignungen und die Vertreibung kurdischer Bevölkerungsteile, die illegale Inhaftierung von Oppositionellen und verbretete Folter. Deutsche Medien, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit Hitler verglichen haben, erläutern, die Türkei nehme nur ihr „Recht auf Selbstverteidigung“ wahr.

„Offensive“ statt Angriffskrieg

Der gegen die kurdische Bewegung gerichtete Angriffskrieg der Türkei im Nordirak stößt in der deutschen Politik wie auch in der Öffentlichkeit vorwiegend auf Ignoranz und Desinteresse. Die wenigen Medienbeiträge, die sich mit dem Vormarsch türkischer Armeeeinheiten im Norden des Nachbarlandes befassen, der von massiven Luftangriffen dort und in Nordsyrien begleitet wird, weisen in Wortwahl und Schwerpunktsetzung eine Tendenz zur Verharmlosung der völkerrechtswidrigen Invasion auf. Diese wird zumeist als schlichte „Offensive“ [1] bezeichnet, die sich gegen die „verbotene“ kurdische Arbeiterpartei PKK richte [2]. Medien, die mit Blick auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine den russischen Staatschef Wladimir Putin mit Adolf Hitler verglichen [3], nannten zur Begründung für den türkischen Angriffskrieg im Nordirak umstandslos Ankaras eigene Legitimation, laut der die Türkei lediglich ihr „Recht auf Selbstverteidigung“ in Anspruch nehme – die Kurden hätten einen „groß angelegten Angriff“ auf die Türkei geplant. Offene Kritik an Ankaras Expansionsstreben wird kaum geübt. In Leitmedien heißt es lediglich, es handle sich um eine „völkerrechtlich umstrittene Aktion“; der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags habe bei früheren Angriffskriegen der Türkei – derzeit mit dem neutralen Begriff „Einsätze“ bezeichnet – bezweifelt, dass diese „mit dem Völkerrecht vereinbar“ seien.

„Legitime Sicherheitsinteressen“

Die Bundesregierung hat schon bei früheren Angriffskriegen der Türkei gegen die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien nicht nur weggesehen, sondern die Invasionen faktisch politisch flankiert. 2018 eroberte die Türkei den Kanton Afrin unter Mithilfe islamistischer Milizen – mit Zustimmung Moskaus, in dessen Einflusssphäre sich der Kanton befand. Im folgenden Jahr griffen türkische Truppen weitere kurdische Selbstverwaltungsgebiete im Norden Syriens an; diesmal stimmte die Trump-Administration dem Eroberungsfeldzug zu, dem Washingtons ehemalige kurdische Bündnispartner im Kampf gegen den Islamischen Staat zum Opfer fielen. Schon damals sprachen deutsche Medien, Politiker und Experten neutral von „Operationen“ [4], die sich an den „legitimen Sicherheitsinteressen“ der Türkei orientierten [5]. Berlin verhinderte unter anderem ein Waffenembargo der EU gegen die Türkei; zudem stellte die damalige Kanzlerin Angela Merkel Anfang 2020 Finanzhilfen für die türkische Okkupation Nordsyriens in Aussicht.[6] Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verteidigte den von niemandem provozierten türkischen Angriffskrieg gegen den Kanton Afrin unter Verweis auf das „Selbstverteidigungsrecht“ des NATO-Mitglieds Türkei.[7] Laut britischen Medienberichten verhinderten NATO-Staaten zudem eine internationale Untersuchung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen durch türkische Truppen: Im Verlauf von deren Invasion waren Zivilisten, darunter Kinder, durch weißen Phosphor verletzt worden.[8]

Systematische Invasionsverbrechen

Derweil schreitet – vom Westen weitgehend ignoriert – die ethnische Säuberung der von der Türkei besetzten Gebiete Nordsyriens ungehindert voran. Kurdische Organisationen beklagten schon Mitte vergangenen Jahres, in Afrin seien die Kurden, die vor dem Syrien-Krieg die große Bevölkerungsmehrheit gestellt hatten, zu einer Minderheit geworden.[9] Während Hunderttausende vertriebener Kurden in Flüchtlingslagern dahinvegetieren müssten, habe Ankara massenhaft Turkmenen und Islamisten aus anderen Regionen Syriens in Afrin angesiedelt, sodass der kurdische Bevölkerungsanteil nur noch bei rund 25 Prozent liege.[10] Die türkische Okkupation gehe zudem mit willkürlichen Enteignungen und Übergriffen durch islamistische Milizen, mit dem massenhaften Verschwindenlassen von Aktivisten, mit verbreiteter Folter von Oppositionellen, mit Entführungen und zahlreichen Fällen von Vergewaltigung von Frauen einher.[11] Kürzlich meldeten israelische Medien, zum Zweck der Repression und der ethnischen Säuberung unterhalte die türkische Regierung in Nordsyrien ein Netz von Geheimgefängnissen; das NATO-Mitglied sei damit für „furchtbare Verbrechen“ an Oppositionellen und an der kurdischen Bevölkerung verantwortlich, die in „systemischer Weise“ begangen würden. Von den nahezu 9.000 bekannten Opfern des illegalen türkischen Foltersystems in Nordsyrien seien 1.500 „verschwunden“.[12]

Eine nächste Okkupationszone?

Der European Council on Foreign Relations (ECFR), eine Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin, bezeichnete die türkischen Okkupationszonen in Nordsyrien bereits vor knapp zwei Jahren als ein „neues Gaza“, in dem Ankara vier Millionen Menschen unter Bewachung durch verbündete Islamisten faktisch festgesetzt habe; die Gebiete wiesen ein deutliches Risiko der Verelendung und „politischen Instabilität“ auf. Die EU solle deshalb der Türkei helfen, die als „Sicherheitszone“ verharmlosten Okkupationsgebiete zu stabilisieren.[13] Die aktuelle Invasion der Türkei in den Nordirak könnte auf die Errichtung einer ähnlichen Okkupationszone abzielen – inklusive ethnischer Säuberungen in Kooperation mit einheimischen Islamisten. Die Türkei orientiere sich derzeit wieder verstärkt in Richtung Westen, urteilen Beobachter [14]; Präsident Recep Tayyip Erdoğan müsse daher bei seinem jüngsten Expansionskrieg kaum Kritik fürchten, da seine Regierung im „Windschatten des Ukraine-Krieges“ noch vom Westen gebraucht werde.[15]

Der Barzani-Clan

Der aktuelle türkische Angriffskrieg scheint mit dem Barzani-Clan abgesprochen zu sein, der in den kurdischen Autonomiegebieten des Irak eine dominante Stellung innehat, sich aber aufgrund zunehmender Korruption und sich verschärfender Wirtschaftsprobleme verstärkt innenpolitisch unter Druck sieht. Zu dem Clan haben deutsche Politiker in der Vergangenheit gute Beziehungen unterhalten.[16] Kurz vor Beginn der türkischen Invasion hatte Erdoğan den Ministerpräsidenten der nordirakisch-kurdischen Autonomiebehörde, Masrour Barzani, zu Konsultationen nach Ankara geladen.[17] In London, wohin Barzani nach seiner Ankara-Visite weiterreiste, warfen kurdische Demonstranten ihm vor, faktisch mit der Türkei bei deren Angriffskrieg zu kollaborieren. In der Tat hatte Erdoğan kurz nach Beginn der Kriegshandlungen sowohl dem Barzani-Clan wie auch der irakischen Regierung für ihre Unterstützung bei der Invasion gedankt [18] – dies, obwohl Bagdad kurz zuvor eine diplomatische Protestnote in Ankara übergeben hatte, in der ein Rückzug der türkischen Truppen aus dem Irak gefordert wurde. Insbesondere der einflussreiche schiitische Politiker Muqtada al-Sadr, dessen Partei im irakischen Parlament die größte Fraktion stellt, wirft Ankara vor, Teile des Iraks grundlos zu bombardieren.

Hunger als Waffe

Der jüngste Krieg der Türkei gegen die kurdische Bewegung korrespondiert mit verstärkten Angriffen der irakischen Armee gegen die jesidische Selbstverwaltung im Nordirak. Seitdem 2014 Einheiten der PKK den Genozid des Islamischen Staats an der religiösen Minderheit der Jesiden in der nordirakischen Region Şengal stoppten, konnte dort eine weitgehende Selbstverwaltung realisiert werden, die nun nicht nur durch türkische Luftangriffe, sondern auch durch irakische Bodentruppen bedroht wird. Kurdische Medien meldeten zuletzt heftige Gefechte aus der Region. Laut Einschätzung des Autonomierats von Şengal handle es sich um ein „koordiniertes Vorgehen der Türkei, der südkurdischen Partei PDK und der irakischen Regierung“, mit dem die basisdemokratische Selbstverwaltung vernichtet werden solle.[19] Die Kurden in Nordsyrien hätten derweil nicht nur unter den verstärkten Luftangriffen türkischer Kampfflugzeuge und Drohnen zu leiden, die faktisch nur mit Zustimmung der USA erfolgen können, sondern auch unter der Hungertaktik der syrischen Regierung. Laut kurdischen Aktivisten blockiert die syrische Armee die kurdischen Stadtteile Aleppos, um die verbliebene kurdische Selbstverwaltung zur Kapitulation zu zwingen.[20] Damaskus gehe es darum, Nord- und Ostsyrien vollständig einzukreisen, um die Bevölkerung durch „Hunger zur Aufgabe zu zwingen und ihren Willen zu brechen“ – dort, wo die Invasion des NATO-Partners Türkei dies noch nicht erreicht hat.

Mehr zum Thema: Die ignorierte Invasion.

[1] Türkei beginnt neue Offensive gegen PKK im Nordirak. zeit.de 18.04.2022.

[2] Türkei greift PKK-Stellungen an, tagesschau.de 18.04.2022.

[3] Heinrich August Winkler: Was Putin mit Hitler verbindet. zeit.de 12.03.2022.

[4] Türkische Offensive fordert erste Opfer. n-tv.de 09.10. 2019.

[5] Gekommen, um zu bleiben. internationalepolitik.de 01.11.2019.

[6] Tomasz Konicz: Türkei: Merkels zivilisatorischer Tabubruch. heise.de/tp 25.01.2020.

[7] Turkey has right to act in self-defense in Afrin, NATO chief Stoltenberg says. dailysabah.com 25.01.2018.

[8] Syria: U-turn over investigation into ‘white phosphorus injuries’ after Turkey’s clash with Kurds. thetimes.co.uk 02.11.2019.

[9] Kurds becoming a minority in Kurdish region of Afrin: Statement. kurdistan24.net 30.05.2021.

[10] ‚Nothing is ours anymore‘: Kurds forced out of Afrin after Turkish assault. theguardian.com 07.06.2018.

[11] How Syria’s Afrin became hell for Kurds. opendemocracy.net 11.11.2020.

[12] Erdogan’s secret prisons in Syria. jpost.com 15.04.2022.

[13] A new Gaza: Turkey’s border policy in northern Syria. ecfr.eu 28.05.2020.

[14] Die Türkei besinnt sich auf ihre Verankerung im Westen. faz.net 19.04.2022.

[15] Erdoğans Drahtseilakt. sueddeutsche.de 20.04.2022.

[16] S. dazu Im Windschatten des Krieges und Aufgaben für die Bundeswehr.

[17] Erdoğan receives KRG’s Barzani for talks. dailysabah.com 15.04.2022.

[18] Erdogan thanks the Barzanis, Iraqi gov’t for support of anti-PKK operation. ekurd.net 20.04.2022.

[19] Şengal-Autonomierat: Widerstand bis zum Schluss. anfdeutsch.com 19.04.2022.

[20] Koçer: Damaskus will Rojava durch Hunger brechen. anfdeutsch.com 19.04.2022.

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