Die bekannte brasilianische Autorin und Filmemacherin Eliane Brum gehört zu den ausdauerndsten Mahnerinnen. Jeden Tag veröffentlicht sie auf Twitter einen fast gleichlautenden Tweet. „XXXX dias. Quem mandou matar Marielle? E por quê?“ Am Anfang eine Anzahl von Tagen, am vierten Jahrestag wird dort die 1461 stehen; Danach die Fragen: Wer befahl Marielle zu ermorden? Und warum?“ Wie in Stein gehauen gehört sie zu denjenigen, die seit nun fast vier Jahren verhindern wollen, dass ein politischer Mord in Vergessenheit gerät und juristisch versandet. Es wäre beileibe nicht das erste Mal. Die Rede ist vom Mord an der linken Stadträtin von Rio de Janeiro, Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes. Sie starben am späten Abend des 14. März 2018 in Rio de Janeiro im Kugelhagel. Auf offener Straße hingerichtet; mit neun Schuss.

Politiker leben in Brasilien gefährlich. Im Schnitt 27 gewählte Volksvertreter erleben nicht das Ende eines laufenden Jahres, haben die Organisationen Terra de Direitos und Justica Global herausgefunden. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die Rede ist nicht von natürlichen Toden, Herzinfarkten, schweren Krankheiten oder Unfällen. Auch nicht eingeschlossen sind, Mitglieder von NGOs, Umweltschützer oder Personen, die in Landkonflikten jährlich gewaltsam ums Leben kommen. Die Toten, die die beiden Organisationen aufzählen kommen allesamt gewaltsam um Leben; im Regelfall werden sie ermordet. Die Zahlen beziehen sich auf die vergangenen Legislaturperioden von 2016 bis 2020. In dieser Zeit gab es mindestens 125 Angriffe oder Attentate. Akte politischer Gewalt wurden sogar 327 Fälle seit 2016 gezählt.

Ganz offensichtlich scheint der „politische Mord“ ein veritables Instrument der brasilianischen Politik zu sein. Vor allem auf kommunaler Ebene, wo mit Abstand die meisten Tötungen zu verzeichnen sind. 92 Prozent der Getöteten sind Stadträte (vereadores), die restlichen acht Prozent fallen auf Politiker der Landes- oder Bundesebene. Männer werden übrigens sehr viel häufiger Opfer handfester Angriffe als Frauen, die ihrerseits häufiger verbal attackiert, beleidigt oder erniedrigt werden. Auch bei den Tätern ist die Statistik eindeutig. Mehr als neun von zehn, 93 Prozent, der Täter sind Männer. Auch interessant: Obwohl Frauen nur 13 Prozent der politischen Repräsentanten darstellen, leiden sie unter 31 Prozent der Übergriffe. Das ist 2,4-mal häufiger als Männer.

Der Mord an Marielle Franco ist auch deshalb im kollektiven Gedächtnis nach wie vor sehr präsent, weil er in seiner Grausamkeit herausstach. Marielle Franco war am Abend des 14. März 2018 auf dem Weg nach Hause, als ihr Auto plötzlich im Stadtteil Estácio von einem anderen Fahrzeug ausgebremst und zum Anhalten gezwungen wurde. Mehrere Personen sprangen aus dem Fahrzeug heraus und eröffneten das Feuer. Neun Schüsse fielen, Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes waren auf der Stelle tot. Praktisch auf offener Straße hingerichtet. Bezeugt wurde der Ablauf von einer dritten Person im Auto, die wohl nur deshalb überlebte, weil der weiße Kleinwagen getönte Fensterscheiben hatte und die Angreifer Franco und ihren Fahrer alleine wähnten. Diese dritte Person, möglicherweise eine der Mitarbeiterinnen Francos, ist bis heute zu ihrem eigenen Schutz nicht öffentlich identifiziert worden.

Schon wenige Tage nach der Tat stand fest, dass die Schüsse aus einer Polizeipistole abgegeben worden waren. Eine Waffe des Herstellers Heckler & Koch. Anhand der Chargennummer der verwendeten Munition lässt sich eingrenzen, woher die Patronen stammen. Auch wenn eindeutige Beweise fehlen: Die Vermutung liegt nahe, es könnte sich um einen gezielten Racheakt an der Politikerin gehandelt haben. Marielle Franco hatte immer wieder öffentlich die Polizeiwillkür angeprangert. Erst wenige Tage vor ihrem Tod hatte sie das in der Stadt auch als „Todesbrigade“ bekannte 41. Bataillon der Militärpolizei beschuldigt, ohne einen Grund Kinder umgebracht zu haben.

Die Kaltblütigkeit des Verbrechens kam für die in Sachen Gewalt einiges gewohnten Brasilianer wie ein Schock, die Botschaft war deutlich. Der Mord galt als deutlicher Fingerzeig in Richtung von Menschenrechtsaktivisten wie Marielle Franco: Wer die Sicherheitskräfte öffentlich an den Pranger stellt, lebt gefährlich. Darüber hinaus war die Bluttat allerdings auch eine Warnung an das Militär, das offiziell für die Sicherheit in Rio de Janeiro zuständig war, seit Übergangspräsident Temer im Februar 2018 per Dekret diese sogenannte Militärintervention angeordnet hatte. Steckt eure Nase nicht allzu tief in unsere Angelegenheiten hinein. Lasst besser alles so, wie es ist, lautete die Botschaft.

Marielle Franco war nicht nur eine engagierte Lokalpolitikerin. Sie war zudem Schwarze, Lesbe, Feministin und stammte aus dem Favela-Komplex Maré. Damit verkörperte sie so ziemlich alles, was den überwiegend konservativen weißen Politikern in Rio und ganz Brasilien unbequem und lästig ist. Sie musste sterben, weil sie mit ihrer Kritik den Mächtigen zu nahe gekommen war und allmählich gefährlich zu werden begann. Ihre Witwe Mónica Benício brachte es auf den Punkt: „Es war ein politischer Mord.“ erzählte sie mir bereits 2019. Im Vorfeld des ersten Jahrestags des Mords war es mir gelungen, die untergetauchte Witwe Francos zu einem Interview zu bewegen. Wir trafen uns im Komplex Maré in Rio de Janeiro, einem riesigen Favela-Komplex. Treffpunkt war eine Tankstelle an der Avenida Brasil. Von dort liefen wir zu Fuß durch die engen Gassen der Favela bis zu einem Haus, das einer guten Freundin Benícios gehören sollte. Auf der Dachterrasse unterhielten wir uns. Sie ist zwar vorsichtig, aber Angst habe sie keine, sagte sie. „Vor wem soll ich Angst haben?“ Nun, Personen, die ein Interesse daran haben könnten, auch sie zum Schweigen bringen zu wollen, dürfte es genügen geben. Schließlich lässt sie keine Gelegenheit aus, mit den immer gleichen Fragen nach den Urhebern des Mordes die Erinnerung wach zu halten. „Es ist ein Kampf um Gerechtigkeit, nicht für Rache“, sagt Benício. „Ich möchte, dass – egal wer antwortet – Brasilien und der Welt erklärt wird, wer den Auftrag gab und wer Marielle und Anderson tötete.“ Inzwischen ist sie ihrer ermordeten Lebensgefährtin in die Politik gefolgt, ist inzwischen Stadträten in Rio de Janeiro für die linke Partei PSOL.

Marielle Francos Tod rüttelte die Brasilianer wach. Die Politikerin wurde zum Symbol für die vielen tausend meist schwarzen Brasilianer, die jährlich durch (Polizei-)Gewalt ums Leben kommen. Eine ganze Bewegung entstand, die dafür sorgte, dass ihr Name im öffentlichen Bewusstsein präsent blieb. „Marielle vive“, Marielle lebt, „Quem matou Marielle e Anderson“, wer tötete Marielle und Anderson, lauten die Losungen, die auf Kundgebungen zu hören und auf Häuserwänden zu lesen sind. Und: „Quem mandou matar Marielle?“ Wer hat den Befehl gegeben, Marielle zu töten?

Wie eng Organisierte Kriminalität, Ordnungsmacht und Politik in Brasilien miteinander verwoben sind, zeigt exemplarisch dieser Fall. Das Verbrechen ereignete sich bereits ein knappes Jahr vor der Regierungsübernahme durch Bolsonaro. Nach und nach kommen Details ans Licht, die auch die Frage aufwerfen, was der heutige Präsident und seine Familie mit der ganzen Sache möglicherweise zu tun haben könnten.

Wer ist verantwortlich für den Tod? Die Frage nach den Tätern scheint inzwischen geklärt. Die Spuren führten schnell in die Richtung der Milizen. Diese sind ein typisch brasilianisches Phänomen: Die Verbrechersyndikate bestehen aus aktiven und ehemaligen Polizisten, Feuerwehrleuten, städtischen Beamten und sollen in Rio nach Einschätzung von Ermittlern etwa 25 Prozent des Stadtgebiets kontrollieren – Tendenz steigend. Sie sind in Drogenhandel und Schutzgelderpressung verwickelt, entscheiden, wer Strom, Gas und fließendes Wasser bekommt. Sie handeln mit Immobilien und Konzession, erledigen Auftragsmorde und organisieren Wählerstimmen für Lokalpolitiker. Regisseur José Padilha erzählt in dem Spielfilm „Tropa de Elite 2“ von dem kriminellen Treiben der Milizen und ihren engen Beziehungen zur Politik und zum Sicherheitsapparat.

Als Hauptverdächtigen identifizierten die Ermittler einen früheren Polizisten, der mittlerweile eine wichtige Rolle in der Miliz Escritório do Crime spielen soll: Elcio Queiroz. Der aber gilt als langjähriger Freund der Familie Bolsonaro. Mit Vater Jair stand er bereits in den 1980er-Jahren in Verbindung, von 2000 an war er als Fahrer und Leibwächter für Flávio Bolsonaro tätig. Queiroz wurde im Juni 2020 von der Polizei im Hinterland des Bundesstaats São Paulo verhaftet. Die Militärpolizei stöberte ihn in einem Haus auf, das dem Rechtsanwalt Frederick Wassef gehören soll. Wassef ist kein Unbekannter. Er geht im Präsidentenpalast in Brasília ein und aus, ist bei vielen offiziellen Anlässen zugegen. Er ist der Leib und Magen-Anwalt des Bolsonaro Clans. Queiroz sitzt inzwischen in Porto Velho im nordwestlichen Bundesstaat Rondonia ein. Jenem Hochsicherheitsknast inmitten des Regenwaldes, in dem auch der große Drogenboss Fernandinho Beira-Mar einsaß. Die Staatsanwaltschaft hat bereits Anklage erhoben.

Doch Queiroz war nicht alleine. Es gibt außerdem eine Verbindung zum damaligen Chef von Escritório do Crime, Adriano Magalhães da Nóbrega. Dieser war Offizier der Polizei-Sondereinheit BOPE, ehe er wegen Verbindungen zu der Miliz unehrenhaft entlassen wurde. Flávio Bolosnaro, erstgeborener Sohn des Präsidenten, hatte Nóbrega einst für eine Verdienstmedaille vorgeschlagen. Obendrein war Nóbregas Mutter im Abgeordnetenbüro von Flávio Bolsonaro angestellt und genoss anscheinend dessen besonderes Vertrauen. Sie soll sogar Prokura für das Abgeordnetenkonto gehabt haben soll.

Genau von diesem Konto war in der Vergangenheit Geld an Queiroz überwiesen worden – von Januar 2016 bis Januar 2017 insgesamt rund 1,2 Millionen Reais in kleinen Tranchen à 2000 Reais, wie das Magazin Istoé im Januar 2019 enthüllte. Wie inzwischen bekannt wurde, setzten die Milizen dieses aus der Staatskasse stammende Geld ein, um Grundstücke zu erwerben. War das Flávio Bolsonaro egal? Seinen Anwälten jedenfalls nicht, denn sie versuchten mehrfach, die Ermittlungen zu stoppen (Vgl. https://theintercept.com/2020/04/25/flavio-bolsonaro-rachadinha-financiou-milicia/ ) Man darf also davon ausgehen, dass er wusste, welche Leute da in seinem unmittelbaren Umfeld agierten.

Grundsätzlich scheinen die Milizen in seinen Augen jedoch nichts Schlimmes zu sein. „Eine Miliz ist nichts anderes als eine Gruppe von Polizisten, Militärs und anderen, die von einer gewissen Hierarchie und Disziplin geprägt ist und danach strebt, das Schlimmste aus dem Schoß der Gesellschaft zu tilgen: die Verbrecher“, sagte er einmal in einer Rede. Die enge Verflechtung des Bolsonaro Clans mit den Milizen und deren Bedeutung als politische Machtbasis hat der Journalist Bruno Paes Manso in dem hervorragenden, 2021 erschienenen Buch „Republica das Milicias“ (Republik der Milizen) herausgearbeitet.

Welche Rolle Nóbrega beim Mord an Marielle Franco gespielt hat, wird aber kaum noch zu ermitteln sein. Im Februar 2020 stürmten Spezialkräfte der Militärpolizei ein Landhaus in der Gemeinde Esplanada im Bundesstaat Bahia, in dem er sich versteckt hatte. Es habe ein Feuergefecht gegeben, hieß es in Medienberichten. Nóbrega wurde erschossen. Das Haus soll dem Lokalpolitiker Gilson Lima von der PSL gehört haben. Einem Mitglied jener Partei, auf deren Ticket Jair Bolsonaro 2018 in den Wahlkampf gezogen war. Für Francos Partei PSOL und für ihre Witwe Mónica Benício ist klar, dass Nóbrega gezielt ausgeschaltet wurde, ehe er zu den eigentlichen Hintermännern der Tat hätte führen können.

Feuer im Archiv, Queima no arquivo, nennen es die Brasilianer, wenn urplötzlich ein aussichtsreicher Kandidat, ein hartnäckiger politischer Gegner oder ein wichtiger Kronzeuge für immer zum Schweigen gebracht wird – meist ohne Zeugen und ohne die Hintermänner ausfindig zu machen.

Seinen Ursprung dürfte der Begriff Ende des 19- Jahrhunderts haben. 1888 hatte die in den letzten Zügen liegende Monarchie nach zähen, jahrzehntelangen Verhandlungen beschlossen, die Sklaverei endgültig abzuschaffen. 1888 unterschrieb die Prinzessin Isabel anstelle ihres kranken Vaters, Kaiser Dom Pedro II., das sogenannte goldene Gesetz (lei aureia). Von da an galt die Sklaverei offiziell als abgeschafft. Brasilien war das letzte Land Amerikas, in dem die Sklaverei abgeschafft worden war. Doch ein so schnelles Ende ihrer Geschäftsgrundlage wollten die reichen und einflussreichen Großgrundbesitzer natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Der Regierung drohte eine riesige Welle von Schadensersatz- und Regressansprüchen. Darum griff der damalige Finanzminister der Übergangsregierung, Ruy Barbosa, 1890 zu einem besonderen Kniff. Am 14. Dezember 1890 verfügte er, dass alle Bücher, Unterlagen, Ordner und Dokumente, die irgendetwas mit dem Thema Sklaverei und deren Dokumentation zu tun hatten, umgehend zu vernichten seien. Und es dauerte keine Woche, bis die Bediensteten des Ministeriums dieser Verfügung nachkamen und alle Dokumente des Archivs verbrannten. Für die Regierung war dies gut – alles Beweismaterial war gründlich vernichten. Für die Millionen Sklaven und deren Nachfahren war die Archivverbrennung natürlich ein herber Verlust. Ihre Geschichte und die ihrer fast fünf Millionen Vorfahren, die seit 1531 gewaltsam aus Afrika nach Brasilien verschleppt worden waren, waren unwiederbringlich verloren. Ein verbranntes Archiv, vernichtete Beweise, ausgelöschte Erinnerungen haben immer beides: Einen, der von der Zerstörung profitiert, weil er mit den Dokumenten andernfalls in Erklärungsnot und Schwierigkeiten geraten wäre.

Die Ermittlungen aber gehen weiter, der öffentliche Druck ist weiterhin groß, es müssen Ergebnisse her. Seit März 2019 sitzt ein weiterer Ex-Polizist in Haft, ein gewisser Ronnie Lessa. Der aber stand nicht nur in Kontakt mit Nóbrega, sondern er war auch fast so etwas wie ein Nachbar der Bolsonaros: Ebenso wie der heutige Präsident wohnte auch er in dem Luxuskondominium Vivendas im Stadtteil Barra da Tijuca. Wie konnte sich ein unehrenhaft entlassener Polizist eine solche Millionenimmobilie leisten?

Jair Bolsonaro sah sich bemüßigt, umgehend jegliche Verbindung zu Lessa abzustreiten. Dabei blieb er auch, als Medien berichteten, dass sein vierter Sohn, Renan Bolsonaro, mit der Tochter Lessas befreundet gewesen sei. Zumindest war das der Reim, den sich die Ermittler auf die zahlreichen Telefonate machten, die zwischen dem Haushalt Bolsonaro und Haushalt Lessa laut Telefonunternehmen geführt worden waren. Dumm nur: Wie man inzwischen auch weiß, soll sich die Tochter Lessas zum Tatzeitpunkt in den USA aufgehalten haben. Warum aber dann die vielen Telefonate? Auch Lessa, bei dem die Ermittler ein ganzes Arsenal an Schusswaffen fanden und der auch großen Waffenschiebereien aus den USA nach Brasilien organisiert haben soll, sitzt inzwischen im Gefängnis (in Mossoró, im Bundestaat Rio Grande do Sul) und wartet, wie Queiroz, auf seinen Prozess. Die Täter scheinen dingfest gemacht. Aber es gilt als unwahrscheinlich, dass sie den Mord aus eigenem Antrieb verübt haben. Die noch offenen Fragen, die die Angehörigen der Ermordeten seit nun fast vier Jahren quälen, lauten demnach unverändert: Wer gab den Auftrag und was war das Motiv?

Und genau an dieser Stelle beginnt der Fall noch unübersichtlicher zu werden. Immer wieder gab es Volten und Wendungen, die die Ermittlungen, wenn nicht erschwerten dann zumindest massiv ausbremsten und zurückwarfen. Das erste Jahr der Ermittlungen war gekennzeichnet durch Schlampereien und Behördenfehler. Zeugen wurden laut Nachrichtensender Globo frühzeitig entlassen. Demnach sollen sich zwei Personen am Tatort aufgehalten haben. Sie wurden aber erst viel später vorgeladen, nachdem die ersten Ermittlungsberichte öffentlich wurden. Zudem soll die Zivilpolizei Mitschnitte von Überwachungskameras nicht ausgewertet haben.

Danach folgten die Ermittler falschen Spuren. Monatelang liefen sie hinter Orlando Oliveira de Araújo her. Der Ex-Polizist solle auf Geheiß des Stadtrats Marcello Siciliano gehandelt haben. Angeblich, so die Argumentation, solle Marielle Franco laut Aussagen eines Polizisten Geschäfte Sicilianos behindert haben. Später stellte sich heraus: Orlando wurde zum Geständnis gedrängt. Nach dieser Episode hatte Generalstaatsanwältin Raquel Dodge genug. Sie entzog der Zivilpolizei die Ermittlungen und übertrug sie an die Bundespolizei. Für die Soziologin Ludmilla Ribeiro von der Bundesuniversität von Minas Gerais ist das alles kein Zufall. „Die Zeugen sind das Problem“, zitiert sie die BCC-Reporterin Luiza Franco. Die Täter kennen die Methoden der polizeilichen Ermittlungen und so scheine es, als würden Zeugen gezielt eingesetzt, um Ermittler zu verwirren.

Eine ganz heiße Spur versprach auch die Aussage des Portiers der Wohnanlage Bolsonaros in Rio de Janeiro zu sein. Ein in den Abendnachrichten exklusiv präsentierter Audiomitschnitt sollte den Portier wiedergeben, der, am Vorabend des Mordes an der Gegensprechanlage Zugang zur Wohnanlage, genauer zum Haus Bolsonaros gewährt haben sollte. Fahrer des Wagens, der Einlass begehrte, soll Elcio Queiroz gewesen sein. Die Spur schien schon fast zu perfekt: Einer der Killer fährt vorher zu Bolsonaro nach Hause. Gedacht ging die Geschichte dann für viele so weiter: Dort holte er sich den Arbeitsauftrag ab. Doch so einfach war die Sache nicht. Jair Bolsonaro konnte glaubhaft versichern, dass er sich zum fraglichen Zeitpunkt in Brasília aufgehalten hatte – es war parlamentarische Sitzungswoche. Er konnte es also nicht gewesen sein, der den im Mitschnitt deutlich vernehmbaren Zugang gewährte. Doch: Wer war es dann? Wenige Tage widerrief der Portier seine Aussage. Ferner soll der Wagen auch an Bolsonaros Haus vorbei gefahren sein, bis zur Hausnummer 66. Besitzer dort: Ein gewisser Ronnie Lessa.

Auch bei der Suche nach dem Motiv herrscht nach wie vor Unklarheit. Sicher, Franco war unbequem, prangerte Missstände wie Polizeigewalt öffentlich an und wurde gehört. Aber reicht das für einen solchen Mord? Es wird auch spekuliert, ob der Mord ein Racheakt gegen den Bundesabgeordneten Marcelo Freixo gewesen sein könnte. Der hatte sich schon 2008 einen Namen im Kampf gegen das organisierte Verbrechen der Milizen gemacht, als er als Vorsitzender einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss (CPI das Milicias) dafür gesorgt hatte, dass gleich mehrere Dutzend Polizisten und Politikern der Prozess gemacht wurde. Marielle Franco war zur Zeit des Untersuchungsausschusses Beraterin Freixos, arbeitete eng mit ihm zusammen, dürfte also mit den Strukturen vertraut gewesen sein. Für Freixos steht eines ganz sicher fest: Der Fall (Marielle Franco) rührt in sehr tiefen kriminellen Strukturen.

Wie gefährlich es sein kann, als Journalist der Sache zu nähern, musste im Oktober 2021 der Journalist Leuvis Olivero erfahren. Der US-amerikanische Staatsbürger mit dominikanischen Wurzeln lebte schon einige Jahre in Rio de Janeiro, recherchierte auch im Umfeld des Mordes und da besonders im Umfeld von Präsident Jair Bolsonaro, schrieb darüber Bücher. Am 11. Oktober vergangenen Jahres wurde er im Stadtteil Barra da Tijuca – dort hat auch Bolsonaro ein Haus – auf offener Straße erschossen. Der Mord erinnerte an die Hinrichtung Francos.

Insgesamt fünf Mal wechselten seit Ermittlungsbeginn die Zuständigkeiten, zuletzt im Januar dieses Jahres. Mit jedem dieser Wechsel mussten sich neue Ermittler neu in die Materie einarbeiten, aber steigt die Gefahr, dass Spuren übersehen werden, verschwinden oder – wie im Falle von Andres Nóbregas, „plötzlich“ versterben. Entsprechend verärgert reagieren die Angehörigen. Anielle Franco, Schwester der Ermordeten und Leiterin des Instituto Marielle Franco sagte in einem Interview mit der Zeitung Extra: „Es fühlt sich an wie ein Rückschritt oder zumindest wie Stagnation. Es gab viele Wechsel und wenige Ergebnisse.“ Anielle sieht auch eine politische Schuld bei Gouverneur Claudio Castro. „Es muss sehr inkompetent sein, oder etwas Schlimmeres, wenn er zu diesem Zeitpunkt immer noch keine Antworten hat.“ Auch seine Hände seien daher mit „Blut befleckt“. „Wir als Familie geben die Hoffnung nicht auf, dass dieses barbarische Verbrechen eines Tages aufgeklärt wird oder bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden“,