Die Türkei, enger NATO-Partner Deutschlands, setzt ihren Angriffskrieg gegen kurdische Gebiete in Nordsyrien fort und hält an der Besatzung größerer Regionen des Landes fest.

Die Türkei, ein enger Verbündeter Deutschlands, verstärkt im Windschatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ihre militärischen Angriffe auf ihr Nachbarland Syrien. In den vergangenen Tagen wurden erneut türkischer Artilleriebeschuss und Drohnenangriffe auf die kurdischen Gebiete Nordsyriens gemeldet; dabei wurden zahlreiche Zivilisten verletzt. Wenige Wochen zuvor war es zu einem Großangriff der türkischen Luftwaffe gekommen: Ankara ließ die nordostsyrische Region Hasakah bombardieren, nachdem es dort kurdischen Kämpfern gelungen war, einen Gefängnisaufstand des Islamischen Staates (IS) niederzuschlagen. Die Türkei hält seit Jahren mehrere Regionen Nordsyriens besetzt, errichtet dort türkische Infrastruktur und bindet die Gebiete an ihr Verwaltungssystem an, während die ursprünglich ansässigen syrischen Kurden in wiederkehrenden ethnischen Säuberungen vertrieben werden. Deutschland, traditionell ein bedeutender Waffenlieferant der Türkei, und die NATO, deren zweitgrößte Streitkräfte Ankara stellt, tolerieren die türkische Invasion in Nordsyrien und begünstigen sie zeitweise sogar.

Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg

Mit der Türkei nutzt ein enger Verbündeter Berlins den Krieg in der Ukraine, um in dessen Windschatten seine Angriffe auf die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Nordsyrien auszuweiten. Berichten zufolge werden die kurdischen Autonomiegebiete in der Region, in der die Türkei bereits seit Jahren größere Territorien besetzt hält, willkürlich mit Artillerie beschossen und von den türkischen Streitkräften aus der Luft attackiert.[1] Als Ausgangspunkt der türkischen Besatzung in Nordsyrien gilt, wie es heißt, die „Militäroffensive auf Afrin im Januar 2018“, die „neutrale Beobachter als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ einschätzten. Die NATO habe die Türkei zwar 2018 zu einem „gemäßigten Verhalten“ aufgerufen; doch sei dem Machthaber Recep Tayyip Erdoğan „von den anderen Mitgliedern des Militärbündnisses freie Hand“ bei dem Angriffskrieg samt anschließender ethnischer Säuberung der kurdischen Regionen gelassen worden. Oppositionelle in der Türkei, die – wie etwa die Politikerin Pervin Buldan – die Aggression kritisierten, würden dafür strafrechtlich verfolgt. Dabei gebe es neben den jüngsten Drohnenangriffen eine „Vielzahl von Methoden“, mit denen „die Türkei die Bevölkerung aus den Kurdengebieten im Norden Syriens vertreiben“ wolle. Neben Afrin hält die Türkei noch Teile der Regionen Aleppo und Idlib sowie ein Gebiet in Nordostsyrien besetzt.[2]

Stetiger Beschuss

Die aktuellen türkischen Drohnenangriffe begannen am 24. Februar mit dem Beschuss eines zivilen Kleinbusses. Bei dem Angriff, der auf der Straße zwischen den Ortschaften Qamişlo und Amûdê erfolgte, wurden vier Personen verletzt. Dies sei bereits der dritte „Drohnenangriff der Türkei auf Fahrzeuge“ in der Region im Februar gewesen, wird berichtet.[3] Am 27. Februar wurde ein Dorfbewohner in der Nähe der nordsyrischen Kleinstadt Til Temir durch Artilleriebeschuss seitens in der Region stationierter türkischer Besatzungstruppen und mit ihnen verbündeter jihadistischer Milizen verletzt. Gleichzeitig führte eine türkische Drohne einen Angriff im kurdischen Selbstverwaltungskanton Şehba durch. In den kurdischen Autonomiegebieten Nord- und Ostsyriens komme es „täglich zu Angriffen der zweitgrößten NATO-Armee und ihrer dschihadistischen Söldnerverbände“, klagen kurdische Medien.[4] Mitte Februar hätten beispielsweise türkische Killerdrohnen unweit von Til Temir zwei Kämpfer des lokalen Militärrates verletzt. Der Angriff sei „in unmittelbarer Umgebung einer russischen Basis“ durchgeführt worden; „eine Reaktion von Moskaus Truppen“ sei allerdings nicht erfolgt.[5] Anfang Februar sei zudem eine Schule im Kanton Şehba durch türkischen Artilleriebeschuss schwer beschädigt worden. Derlei sporadische Drohnen- und Artillerieangriffe zielen darauf ab, eine Normalisierung des Lebens in den syrisch-kurdischen Selbstverwaltungsregionen zu verhindern; sie richten sich zudem gegen die von der religiösen Minderheit der Jesiden besiedelten Gebiete im Nordirak.[6]

Der jüngste Großangriff

Der jüngste Großangriff türkischer Kampfflugzeuge und Killerdrohnen auf Nordsyrien erfolgte wenige Stunden nach der Niederschlagung eines Gefängnisaufstandes des Islamischen Staates (IS) im nordostsyrischen Hasakah, bei dem Ende Januar während mehrtägiger Kämpfe im Stadtgebiet 40 kurdische Kämpfer der Syrian Democratic Forces (SDF), 77 Gefängniswärter und 374 IS-Terroristen zu Tode kamen.[7] Kurz darauf griff die türkische Luftwaffe Dutzende Ziele in Nordsyrien und im Nordirak an; aus der kurdischen Selbstverwaltung Nordsyriens hieß es dazu, der NATO-Staat Türkei, der in der Vergangenheit immer wieder beschuldigt wurde, den IS zu unterstützen, könne die Niederlage der Jihadisten in Hasakah offenbar nicht akzeptieren.[8] Sprecher der SDF konstatierten gar, die Türkei habe ihre Angriffswelle durchführen können, obwohl nur wenige Stunden zuvor US-Streitkräfte offiziell ihre „Solidarität mit den Partnern der SDF“ bekräftigt und deren Tapferkeit beim Kampf gegen den IS-Aufstand in Hasakah gelobt hätten.[9] Der Hintergrund: Die USA kontrollieren faktisch den Luftraum über weiten Teilen Nordsyriens, weshalb die türkischen Angriffswellen nicht ohne deren Kenntnisnahme und zumindest Tolerierung durchgeführt werden konnten.

Die Rolle Deutschlands

Eine herausragende Rolle bei der Tolerierung und Unterstützung der diversen türkischen Angriffskriege gegen die kurdischen Gebiete in Nordsyrien hat die Bundesregierung gespielt. Berlin verhinderte etwa während der türkischen Invasion in den Kanton Afrin Anfang 2018 die Umsetzung eines EU-Waffenembargos gegen Ankara, während zugleich Formulierungen in den EU-Stellungnahmen zu dem türkischen Angriffskrieg auf Betreiben Berlins abgeschwächt wurden.[10] Die türkische Besatzung in Nordwestsyrien, in deutschen Medien zuweilen beschönigend als „Schutzschild“ bezeichnet, wird von Berlin sogar mit 100 Millionen Euro finanziert. Die Türkei richte sich in Nordsyrien ein, „um zu bleiben“, hieß es etwa auf der Onlinepräsenz der Wochenzeitung „Die Zeit“; dafür seien ihr viele „dankbar“.[11] Die Bundesregierung genehmigte sogar während des türkischen Eroberungskrieges in Afrin weiterhin Waffenexporte im Wert von 4,4 Millionen Euro in die Türkei, obwohl die damalige Kanzlerin Angela Merkel öffentlich erklärt hatte, „bei allen berechtigten Sicherheitsinteressen“ der Türkei sei, was da in Afrin passiere, „inakzeptabel“.[12] Deutschland, dessen Leopard 2-Panzer die türkischen Streitkräfte bei der Eroberung Afrins einsetzten, gehört zu den wichtigsten Waffenlieferanten der Türkei. Zudem kündigte Berlin kurz nach der Eroberung des Kantons Afrin durch türkisches Militär und verbündete jihadistische Milizen an, die Türkei, die in Afrin eine Besatzungsherrschaft errichtete und ethnische Säuberungen durchführte, finanziell zu unterstützen.[13] Die deutsche „Welthungerhilfe“ musste sich nach Protesten aus einem „Entwicklungsprojekt“ in Afrin zurückziehen, bei dem Häuser instand gesetzt werden sollten: Die Häuser gehörten vertriebenen Kurden; einziehen sollten jihadistische Milizionäre.[14]

Die Rolle der NATO

Die NATO, die derzeit die Invasion Russlands in die Ukraine aufs Schärfste verurteilt, hat hingegen die Invasion der Türkei nach Afrin von Anfang an offen unterstützt. Im Februar 2018 bezeichnete NATO-General Jens Stoltenberg das „Vorgehen“ der Türkei auf der Münchener Sicherheitskonferenz als „angemessen“, da das türkische Militär die NATO über alle seine Schritte informiert habe.[15] Amnesty International warf der Türkei schon im Sommer 2018 „schwere Menschenrechtsverletzungen“ in Afrin vor.[16] Die NATO hingegen torpedierte sogar eine internationale Untersuchung bezüglich des türkischen Einsatzes von Weißem Phosphor gegen kurdische Zivilisten [17] bei einem weiteren Eroberungszug in Nordsyrien im Herbst 2019. Britische Medien berichteten im November 2019, ein Team internationaler Experten habe eine „Kehrtwende“ vollführt und sich geweigert, Gewebeproben betroffener Zivilisten, darunter Kinder, zu untersuchen.[18] Die Angelegenheit sei „politisiert“ worden, hieß es: Sie sei eine „Quelle von Verlegenheit“ für die NATO, die offensichtlich zögere, „potenzielle Kriegsverbrechen“ ihres Mitgliedslandes Türkei zu untersuchen.

 

[1] Im Schatten von Putins Ukraine-Krieg: Die Türkei bombardiert Kurden im Norden Syriens. berliner-kurier.de 01.03.2022.

[2] S. dazu Wiederannäherung an Ankara.

[3] Vier Verletzte bei türkischem Drohnenangriff in Amûdê. anfdeutsch.com 24.02.2022.

[4] Drohnen- und Artillerieangriffe auf Nordsyrien. anfdeutsch.com 27.02.2022.

[5] Til Temir: Zwei Militärratskämpfer bei Luftangriff verletzt. anfdeutsch.com 18.02.2022.

[6] Besatzer bombardieren Schule in Şehba. anfdeutsch.com 03.02.2022.

[7] Tomasz Konicz: Syrischer Schattenkrieg. untergrund-blättle.ch 16.02.2022.

[8] Autonomous Administration: Turkey could not accept the defeat of ISIS. anfenglishmobile.com 02.02.2022.

[9] twitter.com/RojavaIC/status/1488927181686427655

[10] Regierung blockiert Waffen-Embargo gegen Erdogan. bild.de 16.10.2019.

[11] Die Grenzen des türkischen Schutzschilds. zeit.de 22.02.2021.

[12] Deutsche Waffenexporte nach Beginn türkischer Afrin-Offensive. fr.de 30.03.2018.

[13] Tomasz Konicz: Türkei: Merkels zivilisatorischer Tabubruch. heise.de/tp 25.01.2020.

[14] Nach Kritik: Welthungerhilfe will Häuser in Syrien nicht reparieren. evangelisch.de 10.11.2020.

[15] Stoltenberg verteidigt das Vorgehen der Türkei in Afrin als „angemessen“. kleinezeitung.at 16.02.2018.

[16] Türkei muss schwere Menschenrechtsverletzungen in Afrin stoppen. amnesty.de 02.08.2018.

[17] Turkey is suspected of using white phosphorus against Kurdish civilians in Syria. thetimes.co.uk 18.10.2019.

[18] Syria: U-turn over investigation into ‘white phosphorus injuries’ after Turkey’s clash with Kurds. thetimes.co.uk 02.11.2018.

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