Wir veröffentlichen hier den Volltext der Rede, in der Gabriel Boric dem Volk Chiles für die große Stimmenzahl bedankt, die ihn zum jüngsten Präsidenten in seiner Geschichte macht.

Die Rede fand in Santiago statt, mit der größten Besucherzahl, die jemals in der Alameda Bernardo O’Higgins stattgefunden hat, während auf allen Plätzen der verschiedenen Städte auch die Feierlichkeiten und die Freude groß waren.

Guten Abend Chile! Po nui, suma aruma, pun may Chile!

Zunächst möchte ich allen chilenischen Männern und Frauen danken, die an diesem Tag zur Wahl gegangen sind und ihr Engagement für die Demokratie gewürdigt haben.

Im rauen und edlen Norden. Im regnerischen und windigen Süden. In der heißen und fruchtbaren Mitte. In Rapa Nui, Juan Fernández und der chilenischen Antarktis. Im Ausland.

Egal, ob sie mich oder meinen Gegenkandidaten gewählt haben: Wichtig ist, dass sie es getan haben, dass sie dabei waren, dass sie ihr Engagement für dieses Land gezeigt haben, das allen gehört. Dank auch an die Tausenden von Menschen, die an der Wahl teilnehmen wollten, es aber nicht konnten, weil die öffentlichen Verkehrsmittel nicht funktionierten. Dass Menschen an einem so wichtigen Tag daran gehindert werden, ihr Wahlrecht auszuüben, darf nicht wieder vorkommen.

Auch an diejenigen, die diese wunderbare Kampagne möglich gemacht haben.

Dank an unabhängige, soziale Organisationen und Parteien, an alle Menschen, die sich in den letzten Wochen in ganz Chile und im Ausland, von Magallanes bis Arica, von Visviri bis Puerto Toro organisiert haben, um eine Bürgerkampagne zu starten, die diesen Triumph ermöglicht hat. Das gleiche Engagement und der gleiche Enthusiasmus werden in den Jahren unserer Regierung notwendig sein, damit wir gemeinsam den Veränderungsprozess, den wir bereits begonnen haben, Schritt für Schritt fortsetzen können.

Vielen Dank an meine Wahlkampfleiterin Dr. Izkia Siches, die so viel Liebe, so viel Energie und so viel Enthusiasmus in diese Kandidatur gesteckt hat. An alle technischen Teams, die sich diesem Vorschlag angeschlossen haben, an alle Unabhängigen und Parteien, die diese Kampagne ermöglicht haben.

Vielen Dank an die Jungen und Mädchen, die uns während dieser Reise mit Liebe und Hoffnung erfüllt haben, mit wunderschönen Zeichnungen, die mit Unschuld und Hoffnung das Chile ausdrücken, von dem sie träumen. Ein grünes und liebevolles Chile, das sich um Natur und Tiere kümmert, dass den Raum der Barrios zurückgewinnt, um spielen zu können, ein Chile, in dem Mütter und Väter mehr Zeit für ihre Kinder haben und Großeltern und Großmütter damit nicht allein sind. Wir haben den Kindern Chiles in die Augen geschaut und ich weiß, dass wir sie nicht enttäuschen dürfen.

Danke an die Frauen des Landes. Dass sie sich in ganz Chile organisiert haben, um die Rechte zu verteidigen, die für sie so schwer zu erreichen waren. Vom Stimmrecht bis zum Recht, über den eigenen Körper zu entscheiden.

Das Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung aufgrund der Art von Familie, die sie für sich gewählt haben. Das Recht auf Anerkennung für die Pflegearbeit, die sie heute leisten. Sie können sich auf uns verlassen. Sie werden die Protagonistinnen unserer Regierung sein. Dank auch an die Dissident:innen und Diversitäten, die seit langem diskriminiert wurden und in dieser Kampagne ihre geringen Fortschritte bedroht sahen. In unserer Regierung werden die Nichtdiskriminierung und die Beendigung von Gewalt gegen Vielfalt und Frauen zusammen mit feministischen Organisationen von grundlegender Bedeutung sein.

Ich danke auch Servel (Anm. des Übersetzers: Wahldienst Chiles) für ihre tadellose Arbeit. Es symbolisiert den Staat, den wir brauchen: effektiv, unparteiisch, fair. An die nationalen und regionalen Medien, um Informationen an die entlegensten Orte zu bringen. Die freie Presse ist die wesentliche Grundlage der Demokratie, und sie sind ihr Sprachrohr.

Ich möchte allen Kandidaten danken, die an dieser Wahl teilgenommen haben, denn schließlich schaffen wir gemeinsam Demokratie und wir brauchen jeden einzelnen. An Yasna Provoste, Sebastián Sichel, Marco Enriquez Ominami, Franco Parisi, Eduardo Artes und José Antonio Kast. Die Zukunft Chiles braucht uns alle auf der gleichen Seite, auf der Seite der Menschen, und ich hoffe, auf Ihre Unterstützung, Ihre Ideen und Vorschläge für mein Regierungsamt zählen zu können. Ich weiß, dass wir jenseits der Unterschiede, die wir insbesondere mit José Antonio Kast haben, einen Weg finden werden, um Brücken zwischen uns zu bauen, im Sinne des Wohlergehens unserer Landsleute, denn es gibt etwas, das uns verbindet: die Liebe zu Chile und seinem Volk.

Und übrigens dank meiner Familie, meinem Vater und meiner Mutter, meinen beiden Brüdern und meinen Großeltern, die nicht mehr unter uns sind. An meine Partnerin Irina. Ihr seid meine Säulen in den dunklen Tagen und diejenigen, die dafür verantwortlich sind, dass ich heute hier bin, das wisst ihr.

Ich komme aus Magallanes im äußersten Süden Chiles an der Grenze zur Antarktis. Ich bin 35 Jahre alt.

Und ich weiß, dass die Geschichte nicht bei uns beginnt. Mir wurde ein Vermächtnis anvertraut, das Vermächtnis derer, die sich an unterschiedlichen Stellen unermüdlich für Gerechtigkeit, für die Festigung der Demokratie, für die Verteidigung der Menschenrechte und der Freiheit eingesetzt haben. Wir alle sind wie eine große Familie, und es würde mich sehr freuen, wenn wir in dieser neuen Etappe wieder zueinander finden würden.

Liebe Landsleute, ich werde der Präsident aller Chilenen sein. Von denen, die heute für dieses Projekt gestimmt haben, von denen, die eine andere Alternative gewählt haben, und auch von denen, die nicht an der Abstimmung teilgenommen haben.

Die kommenden Zeiten werden nicht einfach sein. Wir werden uns den sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der schlimmsten Pandemie stellen müssen, die unser Land seit mehr als einem Jahrhundert erlebt hat. Es wird zweifellos schwierig sein, aber wir werden mit kurzen, aber festen Schritten vorankommen und aus unserer Geschichte lernen.

Denn Chile hat als Nationalstaat eine kurze Geschichte: kaum zwei Jahrhunderte unabhängiges Leben, aber reich an Erfahrungen von Errungenschaften, Fehlern, Erfolgen und Frustrationen. Von schönen und schwierigen Momenten. Und wir haben aus dieser Erfahrung gelernt. In einigen Dingen können wir heute sicherer sein als früher:

  • Dass ein Wirtschaftswachstum, das auf tiefer Ungleichheit beruht, auf tönernen Füßen steht: dass sozialer Zusammenhalt, gegenseitige Rücksichtnahme und eine gemeinsame Basis unabdingbar sind für eine echte und nachhaltige Entwicklung, die für jede chilenische Familie spürbar ist und auch die kleinen und mittelständischen Betriebe erreicht, die im gesamten Staatsgebiet mit viel Mühe von ehrbaren Männern und Frauen aufgebaut werden. In Anlehnung an den Ausspruch Nicanor Parras in einem seiner Werke: „Zwei Brote habe ich, ich esse zwei, und du isst keins“ möchte ich betonen, dass der durchschnittliche Konsum von einem Laib Brot pro Person nicht länger Realität sein soll. Dass etwas öffentlich als Fortschritt gefeiert wird, von dem die Bevölkerung nichts merkt, der die Bedürftigsten nicht erreicht, das ist eine Entwicklung, die wir ändern müssen und ändern werden.
  • dass die Destabilisierung der demokratischen Institutionen Missbrauch und Leid fördert und das Recht des Stärkeren und die Hilflosigkeit der Schwächsten begünstigt. Wir werden die Demokratie schützen, an jedem Tag unserer Regierung. Eine wahrhaftige Demokratie, die nicht auf das Wahlrecht beschränkt ist, die ein enormes Gewicht hat, eine Demokratie, in der die Stadtteile, die Bevölkerung, die sozialen Organisationen und die Zivilgesellschaft das Sagen haben.
  • dass wir breite Bündnisse brauchen und Schritt für Schritt vorgehen müssen, wenn wir substanzielle tragfähige und dauerhafte Fortschritte wollen, ohne zu gefährden, wofür jede Familie gekämpft hat.
  • dass die Achtung der Menschenrechte nicht verhandelbar ist und immer und überall eine Verpflichtung sein muss und dass es in unserem Land niemals, aus welchem Grund auch immer, einen Präsidenten geben darf, der seinem eigenen Volk den Krieg erklärt. Chilenische Männer und Frauen, die jemals Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden: Wir werden nicht aufhören, nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung zu streben und dafür kämpfen, dass sich Ähnliches nicht wiederholt.

Und es gibt viele Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Eine Gesundheitsversorgung, die nicht zwischen Arm und Reich unterscheidet, bei Zugang, Qualität und Reaktionszeiten. Angemessene Renten für diejenigen, die ihr ganzes Leben gearbeitet und geholfen haben unser Chile groß zu machen und nicht warten können.

Wir wollen nicht, dass weiterhin Geschäfte mit unseren Renten gemacht werden. Wachstum und gerechte Verteilung des Wohlstands gehen Hand in Hand. Wie wir im Wahlkampf gesagt haben, sind die Rentenversicherungsgesellschaften Teil des Problems. Sie verdienen absurd hohe Summen auf Kosten der Arbeit chilenischer Männer und Frauen, und wir werden uns für ein öffentliches, autonomes gemeinnütziges Rentensystem ohne Versicherungsgesellschaften einsetzen.

Der Wohnraummangel und der fehlende Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen sind ebenfalls Probleme, die wir angehen müssen. Dasselbe gilt für die Stärkung der öffentlichen Bildung. Wir sind eine Generation, die in das öffentliche Leben eintritt und fordert, Rechte zu erhalten, statt sie in Konsumgüter zu verwandeln und mit ihnen Geschäfte zu machen. Wir garantieren die Rechte der Arbeitnehmer:innen, um ein Land mit menschenwürdiger Arbeit und besseren Löhnen aufzubauen. Wir werden ein nationales Pflegesystem einführen, das die Arbeitnehmerinnen anerkennt und wertschätzt, die heute die Pflegearbeit leisten und die aufgrund der patriarchalen Werteordnung diese Arbeit nicht weiter machen. Wir werden Bewegung in die Sozialisierung bringen, Mitverantwortung fördern und das patriarchale Vermächtnis unserer Gesellschaft überwinden.

Der Sicherheitsnotstand in unserem Land ist ein weiteres Problem. Zu den vorrangigen Zielen unserer Regierung gehört, für mehr Sicherheit in den Stadtvierteln zu sorgen, den Drogenhandel zu bekämpfen, Raum für Kultur zu schaffen, statt sie in eine Schublade zu stecken und zu vergessen, die Menschen zu würdigen, die in diesem Bereich arbeiten, Sport und Wissenschaft zu fördern, die Beziehung zu den indigenen Völkern neu zu gestalten, ihr Recht auf ihre eigene sprachliche und kulturelle Weltsicht anzuerkennen und dem Umweltschutz die gebührende Bedeutung einzuräumen.

Es gibt etwas, das so wichtig ist, dass die ganze Welt es hören muss, und zwar: Der Klimawandel, liebe Landsleute, ist keine Erfindung. Es ist hier und es hat direkte Auswirkungen auf unser Leben und das der zukünftigen Generationen. Es ist kein Zufall, dass es die Jugend der Welt ist, die von Greta bis Julia angesichts irrationaler Mächte ihre Stimme erhoben hat. Wir wollen keine weiteren Opferzonen, wir wollen keine Projekte, die unser Land und unsere Gemeinden zerstören. Nein zu Dominga! Wir können nicht wegsehen, wenn unsere Bauern und Landwirte kein Wasser haben, wenn ganze Ortschaften austrocknen oder wenn einzigartige Ökosysteme zerstört werden, obwohl dies vermieden werden könnte.

Natürlich kann nicht alles gleichzeitig getan werden, und wir müssen Prioritäten setzen, um Fortschritte zu erzielen, die es uns ermöglichen, das Leben unserer Bürger:innen Schritt für Schritt zu verbessern. Es wird nicht einfach sein, es wird nicht schnell gehen, aber unsere Verpflichtung ist es, diesen Weg mit Hoffnung und Verantwortung zu gehen.

Chilenen und Chileninnen!

Wir sind mit einem Regierungsprojekt so weit gekommen, das sich in wenigen einfachen Worten zusammenfassen lässt: verantwortungsbewusst mit den von Chile geforderten Veränderungen voranzukommen, ohne jemanden zurückzulassen.

Das bedeutet, wirtschaftlich zu wachsen; das, was manche unter Konsumgütern verstehen, in soziale Rechte umwandeln, ein friedliches und sichereres Leben garantieren, die Freiheiten aller vertiefen und vor allem aller: In unserer Regierung werden die Frauen hinsichtlich ihrer im Laufe der Geschichte erkämpften Rechte und Freiheiten keinen Backlash erleben. Unser Projekt bedeutet auch, die Demokratie zu fördern und, wie bereits gesagt, den verfassungsgebenden Prozess voranzubringen, ein weltweit einzigartiges Projekt, auf das wir stolz sein können und das uns den Weg weist, um ein besseres Land zu gestalten. Zum ersten Mal in unserer Geschichte wird demokratisch und paritätisch und unter Beteiligung der indigenen Völker eine Verfassung geschrieben. Lasst uns alle an diesem Projekt mitarbeiten, damit wir am Ende eine Verfassung haben, die verbindet, statt zu spalten.

Wir werden mit allen Sektoren zusammenarbeiten. Die Herausforderungen sind zu groß, als dass wir es uns erlauben könnten, die Gräben zwischen uns zu vertiefen. Jeder und jede wird gebraucht. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Tag für Tag den Reichtum unseres Landes sichern. Wir brauchen die Mitarbeit der Unternehmen, den Aufbau von Allianzen, eine Annäherung unserer Positionen. Wir wollen, dass unser Wohlstand bis in jeden Winkel unseres Landes reicht, und dafür wird jede Hand gebraucht.

An diesem Abend unseres Triumphs wiederhole ich das Versprechen unseres Wahlkampfs: Wir werden die sozialen Rechte ausbauen, und wir werden makroökonomisch verantwortungsvoll vorgehen. So wird es uns gelingen, die Renten und die Gesundheitsversorgung zu verbessern, ohne in der Zukunft Rückwärtsentwicklungen fürchten zu müssen. Unser Kongress wird ausgewogen sein; das wiederum bedeutet zugleich Einladung und Verpflichtung zum Dialog. Ich sehe hier ehrlich gesagt eine Chance, erneut zusammenzukommen und gemeinsam zum Wohle unseres Landes weitreichende und dauerhafte Vereinbarungen zu treffen, um die Lebensqualität unserer Landsleute zu verbessern, unsere Unterschiedlichkeiten hinsichtlich unserer Ideen beizubehalten, das Gemeinwohl immer als vorrangig zu betrachten und Gewalt in der Politik und in unserem Leben in der Gesellschaft klar und eindeutig abzulehnen. Ich werde für Sie ein Präsident sein, der zuhört und andere Visionen einbezieht, der offen ist für konstruktive Kritik, die uns helfen wird, unsere Arbeit besser zu machen.

Chilenen und Chileninnen!

Ich nehme dieses Mandat mit Demut entgegen. Ich weiß, dass in den kommenden Jahren die Zukunft unseres Landes auf dem Spiel steht. Deshalb garantiere ich, dass ich von nun an ein Präsident sein werde, der sich um die Demokratie kümmert und sie nicht bloßstellt, ich werde mehr zuhören als sprechen, mich um Einhelligkeit hinsichtlich unserer Vereinbarungen bemühen und mich tagtäglich um die Bedürfnisse unserer Landsleute kümmern, ich werde Privilegien bekämpfen und mich jeden Tag für das Wohl Ihrer Familien einsetzen.

Heute ist ein glücklicher Tag, aber auch ein Tag voller Verantwortung, denn vor uns liegt sehr viel Arbeit, und wir brauchen jede Hand. Wir müssen zusammenstehen, weiter zusammenhalten, um die Veränderungen umzusetzen, die das Land so dringend braucht. So werden wir dieses Land regieren, zusammen. Ideen beisteuern, Türen öffnen, Brücken bauen. Schritt für Schritt und Tag für Tag bauen wir gemeinsam ein gerechtes Chile. Deshalb müssen wir heute Abend feiern, aber in aller Ruhe. Nehmen Sie Ihre Freude über den eindeutigen Sieg, den wir errungen haben, mit nach Hause. Lassen Sie uns diesen Triumph sorgfältig pflegen, denn ab morgen gibt es viel zu tun: Wir müssen daran arbeiten, wieder zu einander zu finden, Wunden zu heilen und einer besseren Zukunft entgegenzugehen.

Mit ungebrochener Hoffnung, im Bewusstsein über die bevorstehenden Herausforderungen verabschiede mich von Ihnen mit einer herzlichen Umarmung. Ich werde mein Bestes geben.

Ich danke Ihnen vielmals.

Wir machen weiter.

Der Fotobericht stammt von Marcela Contardo und berichtet von den Feierlichkeiten in Valparaíso

Übersetzung von Aline Sieber und die Überarbeitung von Reto Thumiger, beide vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!