Mexiko. Iguala, Bundesstaat Guerrero, 26. September 2014. 137 Schüler der Raúl Isidro Burgos Rural Normal School in Ayotzinapa fahren in zwei Bussen in die 246 Kilometer entfernte Stadt Iguala. Späteren Angaben der Generalstaatsanwaltschaft zufolge wurden sie bei ihrer Ankunft – gegen 21 Uhr – in eine Auseinandersetzung zwischen Drogenbanden in der Region verwickelt. An diesem Tag, der seither als „Die Nacht von Iguala“ bekannt ist, starben innerhalb von etwa 7 Stunden 90 Menschen, 43 dieser Studenten jedoch wurden „entführt“, sie verschwanden einfach.

Was ist mit ihnen geschehen? Was haben sie in Iguala gemacht? Warum sind sie verschwunden? Wer oder was ist für das Geschehene verantwortlich?

Miguel Ángel Alvarado, Journalist und Schriftsteller, behandelt diese und andere Fragen in seinem Buch „Los infiltrados“ – El secreto de Ayotzinapa“ (Die „Infiltratoren“. Das Geheimnis von Ayotzinapa), eine Untersuchung, an der er seit sechs Jahren arbeitet, nachdem er 2016 ein weiteres Buch zu diesem Thema veröffentlicht hatte: „La guerra que nos ocultan“ (Der Krieg, den sie vor uns verbergen). Im Folgenden fassen wir die wichtigsten Punkte seines Interviews mit Pressenza zusammen, das im Video auf Spanisch in voller Länge am Ende dieses Artikels angesehen werden kann.

Studenten „klauen“ Lastwagen

Die in Iguala verschwundenen jungen Leute (zwischen 17 und 25 Jahre alt) studierten Lehramt. Wie bei einigen anderen amerikanischen Ländern erfüllen die Pädagogischen Hochschulen in Mexiko die Funktion der Lehrerausbildung.

Insbesondere die ländlichen Lehrerausbildungseinrichtungen in diesem Land schließen Vereinbarungen mit Personenbeförderungsunternehmen ab, die ihnen Fahrzeuge für die Beförderung ihrer Studenten zu verschiedenen Aktivitäten zur Verfügung stellen. In der Umgebung von Ayotzinapa wird dies im Volksmund als „Entführung von Lastwagen“ (Bussen) bezeichnet.

Diese Jugendlichen reisten nach Iguala, um zwischen 20 und 25 Busse zu „entführen“, mit dem Ziel, Mitschüler:innen aus anderen ländlichen Schulen nach Mexiko-Stadt zu transportieren. Sie wollten an der Gedenkfeier zum 2. Oktober 1968 teilnehmen, als etwa 3.000 Menschen – hauptsächlich Student:innen – auf dem Tlatelolco-Platz von der Armee hingerichtet worden waren. „Es ist eine gigantische Demonstration, die jedes Jahr auf den Straßen der Stadt stattfindet“, erklärt Alvarado.

Ein Jahr zuvor, 2013, hatte das organisierte Verbrechen der Schule in Ayotzinapa mit dem Tod gedroht, wenn sie nach Iguala einreisen würden. Bei den Schülern, die am 26. September 2014 reisten, handelte es sich hauptsächlich um Erstsemester, die erst seit knapp 40 Tagen an der Schule waren und nichts von der Drohung wussten. „Aber die älteren Schüler, die sie auf dieser Reise begleiteten, kannten die Gefahr und das Risiko, das mit dem Aufenthalt in dieser Stadt verbunden war„, sagt Alvarado. Sie waren die „Infiltratoren“.

Die "Infiltratoren": Ayotzinapa, Extraktivismus und sozialer Widerstand

Angehörige der „Normalisten“ bei einem Treffen mit der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte. September 2015. (Foto CIDH)

Extraktivismus, Drogenhandel und Widerstand

Im Gespräch mit Pressenza liefert Alvarado viele aussagekräftige Details, die das Geschehene dieses 26. Septembers verdeutlichen:

  • Iguala und Ayotzinapa gehören zum „Goldgürtel“, einem Gebiet, das stark vom Bergbau ausgebeutet wird, vor allem vom kanadischen, der die Gebiete verwüstet. „Alles auf diesem Land verschwindet, seien es die Bewohner, eine archäologische Stätte oder eine ökologische Schutzzone…“.
  • Neben der Ausbeutung von Ressourcen gibt es auch den Drogenhandel. „In Mexiko arbeitet der Drogenhandel als paramilitärische Kraft Hand in Hand mit diesen Rohstoffunternehmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Teil der Bevölkerung im Umkreis der Bergbauunternehmen von diesen paramilitärischen Gruppen, die von den Unternehmen angeheuert wurden, vertrieben oder getötet wird“.
  • Die Studenten der ländlichen Pädagogischen Hochschulen, die aus denselben Gemeinden stammen und dort einen großen Einfluss haben, sind diejenigen, die den Widerstand gegen diese Missstände organisieren. „Die 17 ländlichen Lehrerausbildungsstätten, die es in Mexiko noch gibt, nehmen jeweils in ihrem eigenen Gebiet eine Führungsrolle in den Gemeinden ein, die von irgendeiner Art von Ungerechtigkeit betroffen sind. Ayotzinapa ist für Mexiko ein Symbol des Widerstands. Wenn diesem Symbol ein Schlag versetzt wird, wird der soziale Widerstand zerstört. Und genau das ist geschehen. Viele der Organisationen, die es damals in Ayotzinapa gab, lösten sich auf und zerstreuten sich. Wir müssen verstehen, was von da an geschehen ist“.

„Infiltratoren“, Regierung und Mittäterschaft, Aussagen des Buches

Die 43 Studierenden aus Ayotzinapa wurden von älteren Kommiliton:innen, die leitende Positionen in der Schule einnahmen, in ihr Schicksal geführt. Trotz des Schweigepakts, der sie seit 2014 schützt, nennt das Buch ihre Namen und Vornamen. Zu den wichtigsten gehören Omar García – sein richtiger Name ist Manuel Vázquez Arellano -, der heute als Bundesabgeordneter für die Nationale Regenerationsbewegung (Morena), die Partei des derzeitigen mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, tätig ist. Der andere ist David Flores Maldonado, damals Generalsekretär von Ayotzinapa und heute Leiter eines Bereichs des Ministeriums für öffentliche Bildung. Dank der fast 200 gesammelten Zeugenaussagen konnten 26 „Infiltratoren“ identifiziert werden, aber nicht alle dieser Aussagen wurden vor Gericht weiterverfolgt.

Seit 2016 wurden die Informationen, die sich aus den Recherchen für das Buch ergaben, an Mitglieder von Morena weitergegeben, auch wenn sie nicht die aktuelle politische Gewalt hatten. „Wir haben es ihnen mitgeteilt, weil wir glaubten, dass sie etwas tun könnten, sobald sie Zugang zur Macht hätten, und das ist zum Teil auch geschehen. Sie gewannen die Präsidentschaftswahlen und beschlossen, eine „Kommission für die Wahrheit von Ayotzinapa“ einzusetzen. Die „Infiltratoren“ wurden jedoch zu geschützten Zeugen. „Wir verstehen die Haltung der Bundesregierung immer noch nicht“, sagt Alvarado. Aber er fügt hinzu: „Es handelt sich um ein staatliches Verbrechen, und das bedeutet, dass jeder Verantwortung trägt und beteiligt ist, vom Präsidenten bis zu den Soldaten, der Marine, den lokalen Sicherheitskräften, den Behörden wie Bürgermeistern, Abgeordneten und Landesregierungen…“.

Das Buch beleuchtet einen weiteren wichtigen Aspekt des Verschwindens der „Normalisten“: die Beteiligung der Mine „Los Filos“, die heute dem kanadischen Unternehmen Equinox gehört. Im Jahr 2014 organisierte die Schule in Ayotzinapa hinter dem Rücken ihrer unterwanderten Leitung eine geheime Kommission, um die vermissten Schüler zu finden. Die intensive Suche erreichte ihren Höhepunkt, als „el Güero“, ein Drogenboss in Chilpalcingo, der Hauptstadt des Bundesstaates Guerrero, bestätigte, dass eine Gruppe Jugendlicher in Carrizalillo, der Stadt, in der die Mine „Los Filos“ betrieben wird, hingerichtet worden war. Die extremste Version besagt, dass ihre Überreste von den Maschinen des Bergwerks zermalmt wurden. „Nichts geschieht dort ohne die Genehmigung des Bergbauunternehmens“, fügt Alvarado hinzu. „Dieses Bergbauunternehmen funktioniert wie ein kleiner Staat mit eigenen Regeln, Gesetzen, Sicherheitskräften, Kontrolle der Straßen, Kommunikation und Drogenkartellen“.

Der letzte Satz in der Einleitung des Buches fasst die Aussage zusammen: „Die einzige Frage, die wirklich zählt, über Iguala und Chilpancingo, die korrupten Studentenführerschaft, die Soldaten und Drogenhändler auf der Jagd, die beteiligte Polizisten, die beteiligten Politiker, kann jetzt beantwortet werden, oder zumindest ein Teil davon, aber die Antwort wird niemanden zufrieden stellen“.

Die "Infiltratoren": Ayotzinapa, Extraktivismus und sozialer Widerstand

Marsch, um die lebendige Rückkehr der 43 Student:innen aus Ayotzinapa zu fordern. Mexiko-Stadt, Oktober 2014. (Foto von Uriel López)

Nach sechs Jahren Arbeit an dem Buch sagt Alvarado: „Ich hoffe, dass dieses Werk bekannt und sein Inhalt gewürdigt wird, dass die Forderungen derjenigen, die für die Erstellung des Buches interviewt wurden, berücksichtigt werden und dass die Personen, die wir als „Infiltratoren“ identifiziert haben, untersucht werden. Es bleibt zu hoffen, dass es sich auch rechtlich auf die Rohstoffindustrie auswirken wird, insbesondere auf die Mine Los Filos und das Unternehmen Equinox.

Es scheint sehr unwahrscheinlich, dass dies geschehen wird, aber ich würde es mir wünschen. Zumindest hoffe ich, dass es gelesen wird.“

Das Buch “Los infiltrados, el secreto de Ayotzinapa” auf Spanisch ist hier erhältlich. Eine deutschsprachige Übersetzung ist geplant.

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Katharina Stobbe vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!