Vor 20 Jahren hielt der russische Staatspräsident Wladimir Putin im deutschen Bundestag eine Rede. Und was daraus wurde …

Leo Ensel für die Online-Zeitung INFOsperber

Red. Vor genau 20 Jahren, am 25. September 2001, hielt Russlands Präsident Wladimir Putin vor dem deutschen Bundestag eine Rede und erntete eine Standing Ovation. Leo Ensel, Trainer für interkulturelle Kommunikation und spezialisiert auf den postsowjetischen Raum, erinnert an diese historische Rede und zeichnet auf, wie und warum sich das Deutsch/Russische Verhältnis seither so verschlechtert hat. Ein Gastkommentar. (cm)

Vor zwanzig Jahren sprach erstmals ein russisches Staatsoberhaupt im Deutschen Bundestag. Der junge Präsident warb – überwiegend in deutscher Sprache – leidenschaftlich für eine vertrauensvolle bilaterale Zusammenarbeit. Und erntete, damals, Standing Ovations.

«Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen. Trotz der vielen süssen Reden leisten wir weiterhin heimlich Widerstand. Mal verlangen wir Loyalität zur NATO, mal streiten wir uns über die Zweckmässigkeit ihrer Ausbreitung. Wir können uns zum Beispiel immer noch nicht über die Probleme im Zusammenhang mit dem Raketenabwehrsystem einigen.»

Liest man diese Sätze aus der Rede Wladimir Putins vom 25. September 2001 – genau zwei Wochen nach den Terroranschlägen gegen das World Trade Center – vor den versammelten Abgeordneten des Deutschen Bundestages heute, so sehnt man sich schon fast nach diesen vergleichsweise idyllischen Zeiten im deutsch-russischen Verhältnis zurück. Denn Putin hatte zwar deutliche Kritik am nach wie vor holprigen Vertrauen zwischen beiden Seiten geäussert – der junge russische Präsident tat dies allerdings im Kontext eines schon fast inbrünstigen Werbens um eine nachhaltige vertrauensvolle Zusammenarbeit. Grosse Teile seiner Rede hielt er in deutscher Sprache. Und erntete am Ende – heute unvorstellbar – parteiübergreifend Standing Ovations.

Es lohnt sich, die damalige Rede Putins heute, zwanzig Jahre danach, nochmals intensiv zu studieren, besser: sie sich nochmals als Video anzusehen. Bildet sie doch den idealen Referenzpunkt, um den dramatischen Niedergang der folgenden Jahre im bilateralen Verhältnis genauer zu bestimmen.

Die Samen des Misstrauens

Vergegenwärtigen wir uns kurz die damalige Situation.

Wie bereits im Zitat angeklungen, herrschte schon zu diesem Zeitpunkt im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland keineswegs mehr eitel Sonnenschein. Schon 1994 hatte Putins Amtsvorgänger Boris Jelzin vor einem «Kalten Frieden» für den Fall gewarnt, dass sich die NATO nach Osten ausdehnen sollte. Dies hielt das westliche Militärbündnis allerdings nicht davon ab, genau solche Beitrittsverhandlungen – zunächst einmal ‚nur‘ mit Polen, Tschechien und Ungarn – zu starten und diese Staaten am 12. März 1999 als neue Mitglieder aufzunehmen. Dass die Aspirationen bereits damals erheblich ambitionierter waren, lässt sich unschwer an der Tatsache ablesen, dass der russische Präsident Jelzin schon im März 1997 dem Westen gedroht hatte, spätestens mit einem NATO-Beitritt der Ukraine würde für Russland eine rote Linie überschritten. Diese Warnung fand nicht im luftleeren Raum statt: Im selben Jahr hatten die USA begonnen, unter Beteiligung weiterer Staaten – NATO-Mitglieder wie der Türkei und (damalige) Nicht-Mitglieder wie Rumänien – vor der Küste der Ukraine ihre von nun an jährlichen Marinemanöver «See Breeze» im Schwarzen Meer durchzuführen. Marineinfanteristen übten in den Regionen Odessa und Mykolajiw Landeoperationen unter Einsatz von Schiffen, Flugzeugen und Panzern. (Wohlgemerkt: im Jahr 1997, also genau anderthalb Jahrzehnte vor den Maidan-Ereignissen!)

Kein Wunder, dass diese Befürchtungen prompt Folgen auf der strategischen Ebene zeitigten: Die wenige Wochen später – ausgerechnet am 8. Mai 1997 – von Jelzin in Kraft gesetzte neue russische Sicherheitsdoktrin sah nun erstmals eine atomare Erstschlagsoption vor. Zwar wurden Russland als Ausgleich für die (erste) NATO-Osterweiterung vom Westen noch ein paar Bonbons serviert, wie die «NATO-Russland-Grundakte», die am 27. Mai desselben Jahres unterzeichnet wurde und aus der der «NATO-Russland-Rat» erwuchs, sowie die Aufnahme in die nun zur G8 erweiterten G7 – sie wurde im März 2014 im Zuge des Krim-Konfliktes wieder rückgängig gemacht –, aber das hinderte die NATO keineswegs an ihrem Expansionskurs und vom 24. März 1999 an durften die keine zwei Wochen zuvor frischgebackenen neuen NATO-Mitglieder zusammen mit dem wiedervereinten Deutschland gleich mal – ohne völkerrechtliches Mandat – beim ersten Out of Area-Einsatz des Bündnisses, beim Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mitmachen. Kein Bild bringt den dadurch provozierten Beginn der Abkehr Russlands vom Westen deutlicher auf den Punkt als die 180-Grad-Kehrtwende des Flugzeugs des damaligen russischen Ministerpräsidenten Primakow, der – über dem Atlantik, auf dem Wege nach Washington – seiner Crew die Rückkehr nach Moskau befahl, als er von der Bombardierung Belgrads durch die NATO erfuhr.

Im November desselben Jahres wurde zwar auf der OSZE-Konferenz in Istanbul der KSE-A-Vertrag zur konventionellen Abrüstung in Europa unterzeichnet, allerdings im Gegensatz zu den postsowjetischen Ländern Russland, Ukraine, Belarus und Kasachstan von den NATO-Staaten nie ratifiziert. Anfang 1999 hatten die USA unter Bill Clinton bereits den «National Missile Defence Act», eine abgespeckte Version von Ronald Reagans Raketenabwehrsystem SDI, beschlossen. (Dass die UN-Vollversammlung im Dezember desselben Jahres in einer Resolution die USA aufforderte, von diesen Plänen Abstand zu nehmen, kümmerte diese wenig.)

Der Westler im Kreml

In dieser Situation wurde Wladimir Putin Ende 1999 von Boris Jelzin zu seinem Nachfolger ernannt.

Ein Vierteljahr später, im März 2000, äusserte sich Putin gegenüber der BBC, er halte einen Beitritt Russlands zur NATO durchaus für möglich, «solange Russlands Interessen Berücksichtigung finden und es ein gleichberechtigter Partner ist.» Drei Monate danach bot Putin dem US-Präsidenten Clinton, der mit einem – angeblich gegen iranische Mittelstreckenraketen gerichteten – Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien liebäugelte, (vergeblich) den Aufbau eines gemeinsamen Abwehrsystems an, das die USA, Russland und Europa vor Angriffen von «Schurkenstaaten» schützen sollte. Ausserdem offerierte er Europa eine Energieallianz. In der im selben Jahre verabschiedeten russischen Militärdoktrin wurde die NATO nicht einmal namentlich erwähnt.

Man muss kein Kreml-Experte sein, um die These zu wagen, dass der junge russische Präsident damals intern um seine Westorientierung hart hatte ringen müssen.

Liebeswerben um den Westen

Es hatte sich also im Herbst 2001– und zwar ausschliesslich durch den Westen provoziert – bereits einiges im westlich-russischen Verhältnis angesammelt, dennoch hatte Russland sowohl unter Boris Jelzin wie auch Wladimir Putin immer wieder Entgegenkommen und Kompromissbereitschaft signalisiert. Das genau war der Kontext von Putins Rede vor dem Bundestag, kurz nach den New Yorker Terroranschlägen.

Und die Rede, die er überwiegend «in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant» hielt, hatte es in sich.

Putin erklärte gleich zu Beginn die Berliner Mauer, wörtlich, für «vernichtet». Zu ihrem Sturz hätte vor allem der Wunsch der überwiegenden Mehrheit der russischen Bürger nach Demokratie und Freiheit geführt: «Gerade die politische Entscheidung des russischen Volkes ermöglichte es der ehemaligen Führung der UdSSR, diejenigen Beschlüsse zu fassen, die letzten Endes zum Abriss der Berliner Mauer geführt haben. Gerade diese Entscheidung erweiterte mehrfach die Grenzen des europäischen Humanismus, sodass wir behaupten können, dass niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann.»

Und er blieb nicht bei Deutschland stehen: «Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung!»Ergänzend – nicht als Alternative – zu den transatlantischen Beziehungen solle Europa seinen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig festigen durch die Vereinigung seiner Ressourcen «mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands.» Dies war nichts Anderes als die Vision des Gorbatschow‘schen Gemeinsamen Europäischen Hauses – sogar unter Einschluss der Verteidigungspotenziale – mit anderen Worten!

Die militärischen Altlasten des Kalten Krieges schienen zu diesem Zeitpunkt zu einem Grossteil abgetragen. Putin zu den Abgeordneten des Bundestages: «Eine der Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts war die beispiellos niedrige Konzentration von Streitkräften und Waffen in Mitteleuropa und in der baltischen Region. Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel. Wie bekannt, haben wir den Vertrag über das allgemeine Verbot von Atomtests, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, die Konvention über das Verbot von biologischen Waffen sowie das START-II-Abkommen ratifiziert. Leider folgten nicht alle NATO-Länder unserem Beispiel.»

«Ist das echte Partnerschaft?»

Diesen Sätzen, die am Ende bereits eine gewisse Enttäuschung erkennen lassen, folgte eine vergleichsweise moderate Kritik, in der sich allerdings in der Retrospektive bereits viele Konflikte im Ansatz erkennen lassen, die dann fünfeinhalb Jahre später, als sie sich weiter ausgewachsen hatten, denselben russischen Präsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 zu einem Ausbruch in einer anderen Tonlage veranlassten.

Damals in Berlin kritisierte Putin vorsichtig das Verharren in den bipolaren Denkmustern des Kalten Krieges. Die Welt sei seitdem sehr viel komplizierter geworden und die erfolgreiche Sicherheitsstruktur der vergangenen Jahrzehnte den neuen Bedrohungen nicht gewachsen. Und dann wurde er deutlicher: «Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen. Dann spricht man wieder von der Loyalität gegenüber der NATO. Es wird sogar gesagt, ohne Russland sei es unmöglich, diese Entscheidungen zu verwirklichen. – Wir sollten uns fragen, ob das normal ist, ob das eine echte Partnerschaft ist.»

Das anvisierte Gemeinsame Europäische Haus sei noch nicht realisiert, «weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des Kalten Krieges befreit haben. Heute müssen wir mit Bestimmtheit und endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei!» Putin empfahl die Schaffung einer dauerhaften und standfesten internationalen Sicherheitsstruktur, um auf dem europäischen Kontinent ein Vertrauensklima zu schaffen, ohne das ein, wie er es nannte, «einheitliches Gosseuropa» nicht möglich sei. Alle sollten sich, so schloss er versöhnlich, von den Stereotypen und Ambitionen der Vergangenheit verabschieden, «um die Sicherheit der Bevölkerung Europas und die der ganzen Welt zusammen zu gewährleisten.»

Epilog

Man wird zugeben: Weiter konnte der junge russische Präsident dem Westen, insbesondere Deutschland nicht entgegenkommen! Und immerhin folgten damals statt des heutigen Pawlow‘schen Reflexes, Putin wolle den Westen spalten und Europa von den USA abkoppeln, noch parteiübergreifend Standing Ovations. Putins Rede zwei Wochen nach 9/11 ging als eine der grossen Reden in die Geschichte des Bundestages und in die der deutsch-russischen Beziehungen ein.

Der nichts Substanzielles folgte!

Ein Vierteljahr später kündigten die USA, völlig unprovoziert, den ABM-Vertrag. Es folgte der Krieg des Westens in Afghanistan, bei dem Russland zeitweise logistische Unterstützung leistete und den US-Truppen in Zentralasien für ihren Kampf gegen die Taliban und Al Quaida Nachschublinien durch russisches Territorium, ja sogar einen amerikanischen Militärstützpunkt, ausgerechnet in Lenins Geburtsstadt Uljanowsk, gestattete. Es ging weiter mit dem Krieg der «Koalition der Willigen» unter Führung der USA gegen den Irak und der kriegerischen Einmischung westlicher Staaten in Libyen. Parallel dazu verliefen die zweite, dritte, vierte und fünfte NATO-Osterweiterung, bis an die Grenzen Russlands. Insgesamt traten seit Ende des (ersten) Kalten Krieges vierzehn Länder des ehemaligen kommunistischen Raumes der NATO bei, weitere postsowjetische Staaten stehen noch auf der Liste – ausser Russland, versteht sich! Die USA errichteten gegen Russlands erklärten Willen den sogenannten Raketenabwehrschild in Polen und Rumänien, kündigten den INF-Vertrag und den Open Skies-Vertrag und mischten, vorsichtig formuliert, bei einer Reihe von Regime Change-Versuchen im Osten kräftig mit. Russland war gezwungen, militärisch und geopolitisch zu reagieren. Spätestens seit dem Ukraine-Konflikt ist die Situation heillos verfahren. Heute stehen wir vor einem Scherbenhaufen.

Fast 20 Jahre nach seiner Rede im Bundestag startete Wladimir Putin am 21. Juni diesen Jahres anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion nochmals einen Verständigungsversuch, in dem er ein weiteres Mal Themen seiner Berliner Rede aufgriff und für gleichberechtige Kooperation und einen gemeinsamen europäischen Sicherheitsraum warb. Das Echo in den deutschen Medien war niederschmetternd.

«Der Kalte Krieg ist vorbei!», hatte Putin vor zwei Jahrzehnten im Bundestag mit Nachdruck verkündet. Heute müsste man sagen: Der Kalte Krieg war vorbei.

Damals.

(Red. Es lohnt sich, sich die Rede Putins im hier folgenden Video in voller Länge anzuhören. Er sagt nur die ersten paar Sätze in russischer Sprache, die eigentliche Rede hielt er dann in deutscher Sprache. Und man sieht auch, wie oft und intensiv ihm Beifall geklatscht wird.)