“Seit dem 4. August letzten Jahres haben die Menschen in Beirut jeden Tag wie ihren letzten erlebt – und jeder Tag gleicht dem 4. August. Der Schmerz, den wir das ganze Jahr über empfunden haben, hat sich wieder und wieder verstärkt. Dieser Tag steht für all das, was wir seitdem durchmachen,“ sagt Shirine Jurdi, Vorstandsmitglied der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (WILPF) aus der libanesischen Sektion und internationaler Regionalvorstand der gesamten MENA-Region, Teamleiterin der Stop Killer Robots Campaign im Libanon. Jurdi gehört zum Permanent Peace Movement (PPM) Sekretariat MENAPPAC und ist Regionalvertreterin der Global Partnership for the Prevention of Armed Conflict (GPPAC).

Am 4. August 2020 um 6h nachmittags lokaler Zeit detonierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, die illegal in einem Warenhaus im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut gelagert waren. Eine verheerende Explosion zerstörte fast den gesamten Hafen der Hauptstadt, wo 80 % der Lebensmittelimporte des Landes ankommen. Die Explosion zerstörte 160 Schulen, die Hälfte der Gesundheitszentren der Stadt, tötete über 200 Menschen, verletzte über 7.000 und 300.000 wurden vertrieben.

Die Weltbank beziffert den Schaden auf fast 4,6 Milliarden USD – die Kosten für Aufräumungsarbeiten und den Wiederaufbau allein in diesem Jahr belaufen sich auf 2,2 Milliarden USD. Der Bericht verzeichnet langfristige strukturelle Verwundbarkeit: „schwache Infrastruktur – nicht funktionierende Stromversorgung, Kürzungen bei der Wasserversorgung, eine unzuverlässige Abfallwirtschaft und Abwasserversorgung – genauso wie schwaches öffentliches Finanzwesen, riesiges makroökonomisches Ungleichgewicht und sich ständig verschlechternde soziale Indikatoren.“

Ein Jahr später leben die Vertriebenen immer noch in provisorischen Schutzeinrichtungen oder bei Freunden und Familienangehörigen. Stromsperren dauern bis zu 22 Stunden an heißen Sommertagen während fließendes Wasser rar ist. Der Bericht von UN Women aus dem Jahr 2020 fand heraus, dass der totale Zusammenbruch der libanesischen Regierung und der wirtschaftlichen Infrastruktur 51% der „frauengeführten Haushalte“ betraf, die unter schlechtem Zugang zu Nahrungsmitteln, 1. Hilfe und fehlender Dienstleistungen im Bereich reproduktiver Medizin litten mit erhöhtem Risiko von Obdachlosigkeit und geschlechtsspezifische Gewalt.

Ein Jahr nach der Explosion ist der Libanon, das Paris des Nahen Osten, ein wirtschaftliches, politisches und soziales Wrack

Shirine Jurdi, Vorstandsmitglied der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (WILPF) aus dem Libanon. (Bild: Richard Lteif)

“Es fehlt an Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Berechenbarkeit – was Familien von Opfern jeden Tag des letzten Jahres eingefordert haben. Aber es ist schwierig die Wahrheit herauszufinden. Dieses korrupte politische Zusammenspiel schützt sich nur gegenseitig. Wenn eine Partei die andere vorzuführen versucht, zeigen alle anderen mit dem Finger auf sie und das war es dann“, sagt Jurdi frustriert.

Ein Jahr später haben die libanesischen Beamten, die für die sträfliche Vernachlässigung der illegalen Lagerung hochentzündlicher Chemikalien verantwortlich sind, weder die Verantwortung dafür übernommen, noch wurden sie gerichtlich belangt. Die tatsächlichen Hintergründe der Explosion sind noch nicht geklärt. Lokale Organisationen fordern eine unabhängige Untersuchung, da das Land mit 562.527 Covid-19-Fällen, die in Kliniken mit ineffizienter medizinischer Versorgung und Ausrüstung behandelt werden völlig am Boden liegt. Kinder sterben – einige aufgrund fehlender Medikamente, andere verlieren ihre Zukunftsträume, während Jurdi darauf hinweist, dass ihr 10-jähriger Neffe, Keenan Atallah, sein Land als „verrückter Libanon“ bezeichnet.

Der Weltbankbericht zum Libanon beschreibt die Wirtschaftskrise als „größte (und dauerhafteste) negative Beeinträchtigung“ mit lang andauernder wirtschaftlicher Depression. Eine dreistellige Inflationsrate hat die Hälfte des Landes in tiefe Armut gestürzt. Unter ihnen sind mehr als eine Million syrischer Flüchtlinge. Hinzu kommen rund 250.000 Hausangestellte, die meisten von ihnen Frauen aus Äthiopien, den Philippinen, Bangladesch und Sri Lanka. Ohne arbeitsrechtlichen Schutz und von ihren Arbeitgebern im Stich gelassen, hoffen die heimatlosen Hausangestellten auf eine Rückkehr in ihre Heimat – obwohl nur wenige NROs Rückführungsflüge finanzieren und so sind viele von ihnen im Stich gelassen.

Während die libanesische Regierung sich absolut handlungsunfähig zeigt, haben es die Menschen selbst in die Hand genommen sich für die Zukunft ihres Landes zu engagieren. Jurdi erklärt, wie Expert:innen in internationalem Recht Andere ermutigen sich für das Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect/R2P) einzusetzen, eine Norm die 2005 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde und festlegt, dass die Souveränität eines Staates kein Privileg sondern eine Verpflichtung ist. Es gibt Versuche, die Verantwortlichen vor den internationalen Strafgerichtshof zu bringen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Zahlreiche andere Wege werden beschritten, um in der internationalen Gemeinschaft eine Dynamik anzustoßen, aber Jurdi erklärt, dass die Schwierigkeit darin besteht, sich als Volk hinter einem Ansatz zu vereinen, während man gleichzeitig mit dem täglichen Überleben zu kämpfen hat.

Das hohe Maß an Korruption in der Regierung mündete 2019 in die „Oktoberrevolution“ – ausgelöst durch Steuern auf Benzin, Tabak und eine 6-Dollar-Steuer auf kostenlose VoIP-Dienste wie WhatsApp. Fast 300 Tage lang stürzten die Demonstranten den Libanon in eine soziopolitische Krise – Hunderttausende forderten Gerechtigkeit und den Rücktritt korrupter Politiker. Premierminister Saad Hariri trat daraufhin zurück, der Vizepräsident der American University of Beirut, Hassan Diab, ersetzte ihn und trat selbst im August 2020 nach der Explosion in Beirut zurück.

Die Libanes:innen wissen, wie das „ungerechte konfessionelle politische System die Politiker dazu bringt, die Macht unter sich aufzuteilen und die große Mehrheit der Bevölkerung damit ihrer Rechte zu berauben“, erklärt Jurdi. Während die auf Korruption basierende Sozialstruktur des Libanon dazu führt, dass jede Gemeinschaft für ihr eigenes Überleben auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen ist.

Überleben, Verzweiflung und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Zu den vielen internationalen Organisationen, die den Überlebenden im Libanon helfen, gehört auch die in Schweden ansässige gemeinnützige Organisation A Demand for Action (ADFA), die sich für den Schutz von Assyrern, Chaldäern, Syrern, Armeniern und anderen Minderheiten im gesamten Nahen Osten einsetzt. Zu Beginn der Pandemie, als sich die libanesische Regierung bereits in einer Abwärtsspirale befand, verteilten ADFA-Freiwillige über die sozialen Medien Aufklärungsbotschaften zur Pandemieprävention und versorgten über 600 Familien und 800 Flüchtlingsfamilien mit Lebensmitteln, Wasser und Schutzmaterial. Kurz nach der Explosion in Beirut am 4. August setzte ADFA die Verteilung von Lebensmitteln an über 1.000 Familien von Überlebenden der Explosion fort und versorgte 700 libanesische Schulkinder mit Rucksäcken – und versorgt auch weiterhin Bedürftige mit Lebensmitteln und Vorräten.

Ein Jahr nach der Explosion ist der Libanon, das Paris des Nahen Osten, ein wirtschaftliches, politisches und soziales Wrack

Zeina khatib Dana wurde mit etwa 200 Stichen auf einer Seite ihres Gesichts, ihres Kopfes und am ganzen Körper genäht, und eine nicht-kosmetische Versorgung, nachdem das Büro in die Luft gesprengt wurde. (Bildrechte: Zeina khatib Dana)

Die 43-jährige Geschäftsfrau Zeina khatib Dana wurde bewusstlos inmitten der Trümmer ihres Büros, in dem sie und ihr Mann arbeiten. Als sie in einem „schwarz-roten Nebel“ in ihrem völlig zerstörten Büro aufwachte, zog sie ihren bewusstlosen Ehemann und ihre Angestellten aus den Trümmern aus Aluminium und zerbrochenem Glas. Auf der Suche nach einem Ausweg trat sie auf und über „Glas und tote Körper“, ohne zu wissen, was geschehen war, und schaffte es schließlich zu Fuß in ein örtliches Krankenhaus. Sie erlitt mehrere Brüche an Schädel, Rippen, Gesicht und Händen, und ihr verschobener Hals erschwerte ihr das Atmen.

Etwa 200 Stiche auf einer Seite ihres Gesichts, ihres Kopfes und am ganzen Körper sowie sechs nicht-kosmetische Operationen später – alles aus eigener Tasche bezahlt – ist Dana aufgrund ihrer schweren Gehirnerschütterung bewegungsunfähig. Ihre drei Kinder ernähren und versorgen sie und ihren Mann. Vor der Explosion war Dana eine energiegeladene Frau, sagt sie, mit einem vollen Terminkalender als Geschäftsfrau und Mutter von drei Kindern.

„Wir haben viel in unserem Leben verloren, aber Gott sei Dank sind wir alle am Leben. Das Gesundheitsministerium hat sich noch nicht einmal nach unserem Status erkundigt, da ich immer noch unter den damit verbundenen gesundheitlichen Problemen leide. Ich will Gerechtigkeit für einen besseren Libanon und für unsere Kinder“, sagt Dana.

Die 75-jährige Vera Naour ist „Gott dankbar, dass sie noch am Leben ist“. Die Katastrophe der Explosion habe die Menschen im ganzen Libanon vereint und zeige, wie sehr die Libanesen um das Wohlergehen der anderen besorgt seien, sagt sie.

„Abgesehen von den politischen Führern gibt es nichts Schöneres als das libanesische Volk“, sagt Naours vierköpfige Familie, zu der auch ihr Enkel gehört. „Was wir erlebt haben, ist das Schlimmste – wir können es nicht aus unserem Gedächtnis streichen. Wir haben den Bürgerkrieg von 1975 überlebt und unser geliebtes Land nie verlassen, aber diese Explosion hat unser psychisches Wohlbefinden völlig verändert.“

Das kleinste Geräusch – selbst das Schließen einer Tür – lässt Naour aufschrecken. Sie vergleicht die Libanesen mit Waisenkindern, die in einem „schrecklichen Zustand leben, der von den Eliten und Regierungsbeamten verursacht wurde“. Sie schätzt die helfenden Hände aus der ganzen Welt und die libanesischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die beschädigten Häuser wieder aufbauen, ist aber verärgert darüber, wie die Gleichgültigkeit der Regierung zu weit verbreiteter Armut, Hunger und einer völligen Zerstörung des Lebens geführt hat.

„Schande über die libanesische Regierung, die unser Land, ohne mit der Wimper zu zucken, verkauft hat. Das Leid, das wir erleben, ist unvorstellbar. Innerhalb eines Wimpernschlages wurde unsere ganze Welt auf den Kopf gestellt. Wir haben das Blutvergießen miterlebt und sind aus unseren Häusern geflohen. Unser psychisches Wohlbefinden ist gleich null – die unvorstellbaren Bilder gehen uns nicht aus dem Kopf“, dennoch ist Naour optimistisch, dass die Liebe zu Gott und zum Land das libanesische Volk durch dieses Elend führen wird. „Glauben sie, dass sie unser Blutgeld mit in die andere Welt nehmen werden? Möge Gott ihnen niemals verzeihen.“

Und da Jurdi sich zu Millionen von Libanesen zählt, die das Trauma des vergangenen Jahres durchlebt haben, gibt sie zu, dass sie wie alle Libanesen weiß, „was es heißt, zu sagen, dass mein Herz schmerzt.“

Der Artikel von Jackie Abramian erschien unter dem TitelA Year After The Blast, Paris Of The Middle East, Lebanon, Is An Economic, Political And Social Wreck“ auf Forbes, ist von Heidi Meinzolt für Pressenaz aus dem Englischen übersetzt worden.

Wir danken der Jackie Abramian für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Beitrags auf Pressenza.


Jackie Abramian: Ich will sicherstellen, dass Frauen einen (oder zwei) Sitze am Tisch haben und an allen Verhandlungen beteiligt sind. Ich stehe für eine strategisch ausgerichtete Kommunikation und habe Global Cadence gegründet. Als Beraterin für sozial ausgerichtete Unternehmen bin ich im Vorstand von Democracy Today Armenien, beratende Vorständin der CARBON Group Global und BizGees FinTech und Mitglied der Arbeitsgruppe Women, Democracy, Human Rights and Security (WDHRS) des Forums 2000 mit dem Fokus auf Frauen als Akteurinnen der Veränderung, setze mich ein für Empowering von Mädchen, Gleichberechtigung und Frauenrechte weltweit.