Der französische Bürgerrat legt weitreichende Vorschläge zum Klimaschutz vor. Er möchte für das Klima sogar die Verfassung ändern.

Daniela Gschweng für die Online-Zeitung INFOsperber

Wenn Bürgerinnen und Bürger selbst über den Kurs der Regierung entscheiden, sind ihre Vorschläge überraschend radikal. Das Tempo runter auf maximal 110 Kilometer pro Stunde, keine Inlandflüge mehr und in Kantinen soll künftig immer Veggie-Day sein. Diese Aufzählung ist keine Wunschliste einer Umweltorganisation, sondern der Wille des französischen Volkes.

Oder zumindest eines repräsentativen Teils davon. Ende Juni hat der französische Bürgerrat 149 Empfehlungen zum Klimaschutz verabschiedet. Die «Convention Citoyenne pour le Climat» wurde im vergangenen Jahr einberufen. Nicht zuletzt, um nach Macrons Gelbwesten-Debakel das Vertrauen der Wähler in die französische Politik wiederherzustellen.

Ausschuss aus zufällig ausgewählten Bürgern

Das temporäre Gremium besteht aus 150 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Dabei wurde auf eine demografisch möglichst repräsentative Auswahl von Jungen und Alten, Männern und Frauen, urbanen und nicht-urbanen Bürgern sowie Mitgliedern verschiedener Bildungs- und Vermögensstände und Migrationshintergründe geachtet.

Seit Oktober 2019 haben die Mitglieder des Rats an sieben Wochenenden getagt, sich Fachvorträge angehört und sich mit bestehenden Gesetzen beschäftigt. Dabei wurden sie von Expertinnen und Experten unterstützt – eine Arbeit, wie sie sonst Politikerinnen und Politiker machen. Die erarbeiteten Massnahmen sollen den CO2-Ausstoss Frankreichs bis 2030 um 40 Prozent reduzieren.

Kerosinsteuer, Reichensteuer, Dividendenbesteuerung: Frankreich soll per Gesetz grüner werden

Das 500 Seiten starke Bürgergutachten enthält dazu überraschend radikale Vorschläge in den Bereichen Konsum, Verkehr, Wohnen, Produktion, Landwirtschaft und Ernährung. Die Ratsmitglieder sind beispielsweise dafür, eine Kerosinsteuer zu erheben und den Neu- und Ausbau von Flughäfen zu verbieten. Inlandflüge soll es ab 2025 gar nur noch geben, wenn es auf der betreffenden Strecke keine Alternativen gibt.

Die private Nutzung von Autos soll durch Anreize reduziert werden, alle Gebäude sollen bis 2040 energetisch saniert sein. Werbung für klimaschädlichere Produkte wie SUVs oder Fleisch soll untersagt werden. Produkte, die in Frankreich verkauft werden, sollen zwingend reparierbar sein und Plastik schon ab 2023 umfassend recycelt werden. Firmen, die hohe Dividenden ausschütten, sollen künftig einen Teil davon zum Klimaschutz abtreten.

Nicht alle Vorschläge fanden Zustimmung. So lehnte der Rat eine Arbeitszeitverkürzung auf 28 Stunden pro Woche ab. Auch die Tempo-110-Vorlage schaffte es mit 60 Prozent Zustimmung nur knapp ins Papier.

Die strikte Klimapolitik soll nicht auf Kosten finanziell Schwächerer gehen. So sollen Bedürftige beispielsweise Gutscheine für lokales Bio-Essen bekommen. Finanziert werden soll der Wandel durch eine Reichensteuer.

Umweltschutz soll in die Verfassung

Die vielleicht grössten Änderungen: Der Schutz der Umwelt soll in der französischen Verfassung verankert werden. Der Rat möchte dazu zusätzlich den Straftatbestand des «Ökozids» einführen. Zu beidem sollen in Frankreich Referenden abgehalten werden. Der Bürgerrat empfiehlt ausserdem das Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA der EU mit Fokus auf Umweltziele neu zu verhandeln.

Die vom Klima-Bürgerrat erarbeiteten Punkte sind nur Vorschläge. Nicht darauf einzugehen kann sich der französische Präsident Emmanuel Macron aber politisch kaum leisten. Schliesslich war er es, der den Klimarat als direktdemokratisches Element einberufen hat. Nicht zuletzt als Reaktion auf die anhaltenden Ausschreitungen der Gilets jaunes gegen seine CO2-Steuer.

Dazu kommt, dass der Liberale Macron bisher eher nicht für sein grünes Herz bekannt ist. Einige Wahlversprechen von 2017 wie ein Glyphosat-Verbot setzte seine Regierung nicht um, 2018 schmiss dann auch noch Umweltminister Nicolas Hulot seinen Posten frustriert hin. Macrons Partei «La République en Marche» (LREM) laufen zunehmend die Wähler weg. Ein Prozess, den die Corona-Pandemie noch beschleunigte. Bei den französischen Kommunalwahlen Ende Juni verlor sie Städte wie Paris, Lyon und Toulouse an grüne oder linke Kandidaten. Macron hat am 30. Juni bereits angekündigt, dass er 146 der 149 Vorschläge des Rates ins Parlament einbringen möchte.

Bürgerräte treffen überraschend radikale Entscheidungen

Der Bürgerrat ist ein bisher einmaliges Gremium in Frankreich, das von vielen Seiten begrüsst wird. Sonst sitzen bei politischen Fragen meist dieselben am Tisch: Non-Profit-Organisationen, Lobbyverbände, Berufspolitiker.

Ähnliche Ansätze für Gremien aus einer demografisch repräsentativen Gruppe zufällig ausgewählter Bürger gibt es in ganz Europa, beispielsweise in Grossbritannien, Deutschland und Österreich. Der erste Bürgerrat, der sehr weitreichende Ideen auf den Weg brachte, war eine «Citizens Assembly» in Irland. Ihre Vorschläge sorgten 2015 dafür, dass im katholischen Irland die «Ehe für alle» durch ein Referendum legalisiert wurde.