Vordergründig wurde ich auf dieses Sachbuch aus dem Verlag des österreichischen Gewerkschaftsbundes aufmerksam, da mir die Grafiken so gut gefallen haben, weiters dachte ich zuerst durch den Titel, dass hauptsächlich die unbezahlte Sorgearbeit von Frauen in Österreich thematisiert und sichtbar gemacht wird und es dadurch perfekt als einer meiner wichtigen Lesebeiträge zum Weltfrauentag passen würde.

Keine meiner Erwartungen wurde komplett erfüllt und trotzdem bin ich so angetan von den mir völlig neuen sehr international geprägten Inhalten dieses Buches über kluge Projekte und Probleme von Sorgearbeit aus Europa, dass ich es hier sogar dem vorwiegend deutschen Publikum vorstellen möchte, was ich ansonsten bei einem österreichischen Minderheitenprogramm nicht machen würde.

Die Kapitel sind thematisch lose aneinandergereiht und haben als einzige inhaltliche Klammer Projekte und Probleme mit Sorgearbeit.

Bereits im ersten Abschnitt Jugendarbeit und Familie kommt ein sehr kompetenter Mann zu Wort, der uns das Konzept der modernen Bubenarbeit vorstellt. Um toxische Männlichkeit von Anfang an zu vermeiden, sollen männlichen Kindern schon in der Schule stereotype Geschlechterklischees, Sexismus und andere Verhaltensweisen gar nicht antrainiert werden, beziehungsweise den Burschen auch alternative Konzepte von Männlichkeit abseits von Machogehabe und moderne Problemlösungsmechanismen vorgestellt werden. Kindern, die einmal vorgelebt bekommen, dass Hilfe in Situationen zu suchen, die nicht selbst bewältigt werden können, nichts Unmännliches ist, tappen auch als Erwachsene in Krisensituationen seltener in die Falle der toxischen Männlichkeit. Das verhindert sowohl Suizid als auch Femizid. So nebenbei reden die Burschen im Rahmen des Projektes auch über Tabuthemen wie Sex, Pornos und LGBT, was auch sehr zur Weiterentwicklung beiträgt.

In Kapitel zwei geht es um das moderne Modell der Väterkarenz beziehungsweise Elternzeit für Väter. Es zeigt anhand von Fallbeispielen, wie in dieser Situation mit viel Gegenwind gegen traditionelle Rollenbilder angegangen werden muss und welche Probleme dabei in sehr traditionell orientierten Gesellschaften wie Österreich und Deutschland entstehen. Dem werden die skandinavischen Problemlösungen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch mit den schon erwähnten schönen Grafiken gegenübergestellt.

Im zweiten Abschnitt geht es um Pflege und dabei um zwei total gegensätzliche Modelle. Das erste ist die Österreich–Variante mit weiblichen Vollzeit 24-Stunden-Betreuerinnen aus Rumänien und der Slowakei, die zwischen drei Wochen bis einen Monat ununterbrochen in einem österreichischen Haushalt arbeiten und erst dann wieder nach Hause fahren. Hier wird die Situation in Hochpreisländern wie Österreich geschildert, aber auch wie sich dieses Arbeitsmodell zu Hause in der Heimat der Pflegerinnen mit der Arbeitsverteilung zwischen Ehepartnern auswirkt.

Während in Österreich und in Deutschland händeringend nach Lösungen für Langzeitpflege gesucht wird, scheint sie Holland gefunden zu haben. Das Nachbarschafts-Pflegemodell BUUR wird vorgestellt, das einheimische Arbeitskräfte einsetzt, Menschlichkeit vor Bürokratie stellt, Selbstorganisation im Job und Zufriedenheit der abgesicherten Angestellten gewährleistet und dadurch Überforderung der Angehörigen und des Pflegepersonals verhindert. Zudem ist dieses Modell langfristig sogar kostengünstiger.

Im letzten Abschnitt wird das Freiwilligenengagement für die Gesellschaft dargestellt und wie die Arten der Tätigkeiten sich zwischen Männern und Frauen in Österreich strukturell unterscheiden. Diese Situation wird in Deutschland wahrscheinlich nicht anders sein. Männer arbeiten vorwiegend im Bereich Katastrophen- Rettungsdiensten und Vereinen, Frauen im Sozial- und Gesundheitsbereich.

Die offensichtliche Stärke des Buches zieht sich über alle Abschnitte: Fakten und detaillierte Modellbeschreibungen gewürzt mit ganz persönlichen Geschichten und wunderschön gezeichneten Statistiken. Der einzige Kritikpunkt, den ich persönlich anmerken möchte: Es war mir einfach zu kurz und die Themen hätte ich gerne noch umfassender behandelt gesehen. Aber wahrscheinlich würde das dem Werk dann ein bisschen die Leichtigkeit und die Innovationskraft nehmen. Ich bin eben ein Faktenfan ?.

Fazit: Eine große Überraschung und Leseempfehlung für dieses wunderschöne farbige Buch zum Thema Sorgearbeit, das im Verlag des Gewerkschaftsbundes herauskam. Da in allen erwähnten Teilbereichen Österreich, Deutschland und die Schweiz ähnlich ticken und sehr viele europäische Aspekte vorgestellt werden, ist es meiner Meinung nach EU-weit auch relevant.

Wen kümmert#s? Die (un-)sichtbare Sorgearbeit in der Gesellschaft von Elisa Thomaselli (Hrsg.) ist 2019 im ÖGB Verlag in flexiblen Einband erschienen. Nähere Infos zum Buch auf der Verlagsseite.

Rezension von Awogfli

Der Originalartikel kann hier besucht werden