Mit Polizeigewalt unterdrückte Demonstrationen in Frankreich, Erlass von Gesetzen, die die Meinungs- und Versammlungsfreiheit massiv einschränken in Spanien, Vorstöße zur Regulierung der freien Meinungsäußerung vor Wahlen in Deutschland.

Dies alles sind Anzeichen dafür, dass das wirtschaftliche und politische System, in dem wir leben, ins Taumeln gerät. Es wird totalitär. Doch immer weniger Menschen lassen sich von dem kunterbunten Konsumtreiben blenden. Sie beginnen, laut und massiv gegen die Verhältnisse zu protestieren.

Die kurze Angst vor dem Kapitalismus

Verwertbarkeit, Gewinnerzielung und ewiges Wirtschaftswachstum, identisch mit einem ins Unendliche ansteigenden Ressourcenverbrauch, sind im Kapitalismus die Taktgeber. Alles andere ist nicht von Belang. Menschliche Werte wie Mitgefühl, Solidarität und Freiheit bleiben auf der Strecke. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Um so mehr verwundert, dass historische Erfahrungen zu keiner Änderung der Fahrtrichtung führen.

Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs, der auch ein Resultat eines ausufernden, nahezu Welt umspannenden und von Krisen geschüttelten kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftssystems war, zeigte sich die Politik in Deutschland antikapitalistisch. Einen Glockenschlag nach der Stunde Null bekundeten die Parteien ihre Bereitschaft, das angst­ein­flö­ßende Monster „Kapitalismus“ an die Kette zu legen.

Das Ahlener Programm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), vorgestellt am 3. Februar 1947, ist ein beispielhafter Ausdruck der Bemühungen.

(…) Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.

Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.

(…) Stärkung der wirtschaftlichen Stellung und Freiheit des einzelnen; Verhinderung der Zusammenballung wirtschaftlicher Kräfte in der Hand von Einzelpersonen, von Gesellschaften, privaten oder öffentlichen Organisationen, durch die die wirtschaftliche oder politische Freiheit gefährdet werden könnte. Auszug aus dem Ahlener Programm von 1947; Quelle: Konrad Adenauer Stiftung

Noch 1959 formulierte die heute auf Talfahrt in die Bedeutungslosigkeit befindliche Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) im Godesberger Programm die Gefahren durch Konzerne und Kapitalkonzentration:

(…) Ein wesentliches Kennzeichen der modernen Wirtschaft ist der ständig sich verstärkende Konzentrationsprozess. Die Großunternehmen bestimmen nicht nur entscheidend die Entwicklung der Wirtschaft und des Lebensstandards, sie verändern auch die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft: Wer in den Großorganisationen der Wirtschaft die Verfügung über Millionenwerte und über Zehntausende von Arbeitnehmern hat, der wirtschaftet nicht nur, er übt Herrschaftsmacht über Menschen aus; die Abhängigkeit der Arbeiter und Angestellten geht weit über das Ökonomisch-Materielle hinaus.

Wo das Großunternehmen vorherrscht, gibt es keinen freien Wettbewerb. Wer nicht über gleiche Macht verfügt, hat nicht die gleiche Entfaltungsmöglichkeit, er ist mehr oder minder unfrei. Die schwächste Stellung in der Wirtschaft hat der Mensch als Verbraucher. Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluss auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht.

Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheit und Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft sind. Die Bändigung der Macht der Großwirtschaft ist darum zentrale Aufgabe einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik. Staat und Gesellschaft dürfen nicht zur Beute mächtiger Interessengruppen werden.

Auszug aus dem Godesberger Programm von 1959; Quelle: SPD.de

Wie ist der aktuelle Stand? 72 Jahre nach dem Ahlener und 60 Jahre nach dem Godesberger Programm ist von den oben genannten Bedenken und Befürchtungen in der „Realpolitik“ vor allem von CDU und SPD nichts mehr zu finden. Der Kapitalismus erblüht, die Parteibosse sind erfreut.

Schneller Sinneswandel

Die alten Vorsätze waren löblich, ohne Zweifel, es wurde jedoch schnell deutlich, wo die Macht im kapitalistischen System zu suchen ist: aufseiten der Wirtschaft und des Kapitals. Die Parteien, und in der Folge der Verwaltungs- und Beamtenapparat, letztlich die entscheidenden Komponenten für das Funktionieren eines Staates, setzen um, was für das Kapital gut ist. Mensch und Natur sind dabei nachrangig.

Bei der CDU dauerte es kaum zwei Jahre, um wieder auf Kapitalkurs zu sein. 1949 stellte die Partei der Öffentlichkeit die sogenannten „Düsseldorfer Leitsätze“, das wirtschafts- und sozialpolitische Programm für die erste Bundestagswahl, vor [1]. Diese rückten deutlich vom Ahlener Programm ab. Es war die Rede von einer „sozialen Marktwirtschaft“ in Kombination mit einer planvollen „Beeinflussung der Wirtschaft mit den organischen Mitteln einer umfassenden Wirtschaftspolitik auf Grund einer elastischen Anpassung an die Marktbeobachtung“. Bildlich gesprochen: Man wollte ein bisschen schwanger sein.

Ein unmögliches Unterfangen im Kapitalismus. Ein System, in dem besitzende Klassen von der Abschöpfung jener Menschen leben, die sich mangels Besitz durch „Lohnarbeit“ verwerten müssen, ist nicht sozial. Dies ändert sich auch nicht, wenn ihm das Adjektiv „sozial“ auf das Etikett geschrieben wird.

Das Beispiel I.G. Farben

Welche Rücksichtslosigkeit sich im Kapitalismus entfalten kann, wenn beispielsweise Konzerne sich jeder moralischen und gesellschaftliche Verantwortung entledigen können, zeigt das historische Beispiel der I.G. Farben [2]. Etwa vier Jahre vor dem New Yorker Börsencrash, der im Oktober 1929 die Weltwirtschaftskrise auslöste, bildete sich aus dem Zusammenschluss von acht deutschen Unternehmen die Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG. Die I.G. Farben stieg zum größten Pharma- und Chemiekonzern der Welt auf.

Es braucht nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass damit ein Zentrum der wirtschaftlichen und somit politischen Macht entstand. In anderen Bereichen sah es ähnlich aus.

Unternehmen der Kohle- und Stahlindustrie und Großbanken stiegen zu Giganten auf. Gewinnmaximierung und Verwertbarkeit war damals wie heute oberste Direktive. Die Aufrüstung Deutschlands unter den Nationalsozialisten bot eine glänzende Gelegenheit, Geschäfte zu machen und Profit einzufahren. Moralische Bedenken gab es nicht, kritische Stimmen blieben die Ausnahme. NS-Regime und Wirtschaftsbosse arbeiteten gut zusammen.

Geschäfte mit dem Tod

Nach der totalen militärischen Niederlage des Dritten Reichs fanden sich die führenden Köpfe der I.G. Farben auf der Anklagebank wieder. Der Vorstand und leitende Angestellte wurden 1947 in Nürnberg vor ein US-amerikanisches Militärgericht gestellt. Anklage wurde erhoben unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden sowie Folter und Ermordung versklavter Kriegsgefangener, von KZ-Häftlingen und Zivilisten aus den besetzen Gebieten.

Dass die I.G. Farben nicht nur kriegswichtige Güter wie zum Beispiel synthetisches Benzin produzierte, sondern über die Firma Degesch (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m.b.H.) die SS mit Zyklon B beliefert hatte, war unstrittig. Das Mittel wurde in Konzentrationslagern zum Massenmord verwendet. Die „Wirtschaftsbosse“ hatten selbst aber nie gemordet, sondern lediglich gute Geschäfte mit dem Tod gemacht.

Die Nachfolger der I.G. Farben

Der Prozess endete im Sommer 1948 mit zehn Freisprüchen und dreizehn Verurteilungen zu Haftstrafen. Keiner der Verurteilten musste seine Strafe absitzen. Alle wurden frühzeitig entlassen und fanden wieder Verwendung in Wirtschaft oder Politik. So zum Beispiel auch Otto Ambros [3], federführend bei der Planung des Lagers Buna (später umbenannt in KZ Auschwitz III Monowitz), dessen Aufbau von der I.G. Farben finanziert wurde. Das Tausende Arbeitsunfähige selektiert und  ermordet wurden, störte offensichtlich weder Ambros noch sonst einen der beteiligten Schreibtischtäter.

Was passierte mit dem Konzern? Das Vermögen der I.G. Farben war schon im September 1945 beschlagnahmt worden. Seit 1947 wurde das Unternehmen von der BIFCO (Bipartite IG Farben Control Office) kontrolliert. 1952 wurde die I.G. Farben in seine ursprünglichen Bestandteile zerlegt. Zu den sogenannten Farbennachfolgern gehörten unter anderem die Farbwerke Hoechst AG, BASF und die Bayer AG.

Die DNA des Bösen

Schon im Sommer 1945 begannen die Alliierten mit der Entnazifizierung. Der Nationalsozialismus und seine schändlichen Einflüsse sollten aus allen Bereichen der Gesellschaft entfernt und jeder NS-Verbrecher bestraft werden. Eine hehre Absicht. Die Hauptkriegsverbrecher wurden bei den Nürnberger Prozessen angeklagt und abgeurteilt. Die Organisationen der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei), SS (Schutzstaffel) und Geheime Staatspolizei (Gestapo) wurden zu kriminellen Vereinigungen erklärt.

Aber es kommt Sand ins Getriebe. Die mit rein administrativen Aufgaben befassten Mitglieder der Gestapo, des Sicherheitsdienst des Reichsführers SS und in niederen Rängen angesiedelte Funktionäre der NSDAP sowie der Waffen-SS wurden nicht pauschal einbezogen.

Die Erfahrungen des Nationalsozialismus, die DNA des Bösen, steckte in jeder Ecke. Politik, Kultur, Medien, Justiz oder Wirtschaft; alles war befallen. Und auch der Verwaltungs- und Beamtenapparat, ohne den kein Staat funktioniert. Um Deutschland durch die erste Nachkriegsphase zu führen, aufzubauen und eine marktwirtschaftlich orientierte Grundordnung überhaupt umsetzen zu können, wurde das Know-how auch jener gebraucht, die als Mitläufer bezeichnet wurden oder, wie im Falle Otto Ambros, Kriegsverbrecher gewesen sind. Der schaffte den Übergang in die neue Demokratie. Selbst Bundeskanzler Konrad Adenauer soll sich Rat beim Planer von Auschwitz III Monowitz geholt haben [4].

Experten für die Wirtschaft

Ende der 40er Jahre, als der Kalte Krieg zwischen West und Ost einsetzte, erlahmte in Deutschland langsam der Elan bei der Verfolgung der NS-Verbrecher. Es entstand somit lediglich der Eindruck einer großen Entnazifizierung. Der Apparat und die kleinen Räder im großen Getriebe des Horrors, die es ermöglichten, eine menschenverachtende Ideologie in Praxis umzusetzen, sollten die neue Repräsentative Demokratie und vor allem die Wirtschaft antreiben. Fachwissen wurde gebraucht.

Laut den Wirtschaftshistorikern Werner Abelshauser und Albrecht Ritschl, die sich in der Dokumentation „Unser Wirtschaftswunder – Die wahre Geschichte“ [5] zu dieser Thematik äußerten, nutzen die USA das Know-how und die freien Kapazitäten der deutschen Rüstungsindustrie, um militärisches Material für den Krieg im fernen Osten herzustellen und langfristig ein Übergreifen des Kommunismus auf den Westen zu verhindern.

Anders als es die Bilder der zerstörten deutschen Städte vermitteln, war die Rüstungsindustrie nicht so stark von den Bombardierungen der Alliierten betroffen. Die Nazis hatten kriegswichtige Betriebe und Rüstungsfabriken verlagert. Teilweise wurden sie unter der Erde angelegt oder befanden sich weit im Osten, außerhalb der Reichweite der alliierten Bomberstaffeln. Das verschaffte der jungen Bundesrepublik bei der Produktion einen Vorteil gegenüber anderen europäischen Ländern, deren Fabriken in Trümmern lagen. Und dann waren da ja noch Experten wie Heinrich Nordhoff.

Nordhoff wurde 1942 Vorstandsmitglied bei der Adam Opel AG. Im gleichen Jahr übernahm er die Leitung des Opel LKW Werks in Brandenburg. Dort wurden auch Zwangsarbeiter in der Produktion eingesetzt. Am Ende des Krieges floh Nordhoff in die von den Westalliierten besetzte Zone. Im Zuge der Entnazifizierung musste er seinen Posten als Vorstandsmitglied bei der Adam Opel AG niederlegen. Bereits drei Jahre später, 1948, wurde er mit Unterstützung der britischen Militärregierung zum Generaldirektor der Volkswagenwerk GmbH ernannt.

Auch weitere Ingenieure, die im Dritten Reich zum Umfeld von Albert Speer, dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition, gehörten, übernahmen in der Bundesrepublik Posten in Industrie und Wirtschaft.

Ex-Nazis in der Politik

Die Politik blieb ebenfalls nicht frei von vormaligen Unterstützern und Befürwortern des Hitler-Regimes und seiner Vernichtungsideologie. Ehemalige Mitglieder der NSDAP, die im Oktober 1945 von den Alliierten auf Grundlage des Kontrollratsgesetz Nr. 2 zur Auflösung und Liquidierung der Naziorganisationen verboten wurde, fanden in nahezu allen im Bundestag vertretenen Parteien der jungen Republik eine neue politische Heimat [6]. Darunter zwei spätere Bundespräsidenten.

Hier zeigt sich der Kern des Übels. Nach den Schrecken des Krieges und dem industriellen Massenmord, wäre es nur logisch gewesen, niemanden den Aufbau einer neuen Gesellschaft anzuvertrauen, der dem Nazi-Reich direkt oder indirekte gedient hatte. Aber in der Praxis ist dies unmöglich.

Die Intention dieses Artikels ist, zu verdeutlichen, dass die Ideologie des Nationalsozialismus bis weit in die Zeit der Bundesrepublik erhalten blieb. Sie steckte in den Strukturen und den Köpfen. Egal, ob es sich dabei um einen Politiker, Postboten, Arzt, Lehrer, Polizisten oder Generaldirektor eines Automobilherstellers handelte.

Das ideologische Erbgut wurde, gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, weitergegeben. So ist es nicht verwunderlich, dass wir heute eine Situation vorfinden, die der vor der Machtübernahme der Nazis ähnelt.

Menschen verachtender Extremismus wird in Teilen der Gesellschaft salonfähig, auch in der sogenannten Mitte. Vor allem, für bestehende, aber eben selbstverursachte Missstände, Schuldige gesucht werden.

Eine Frage

Was hat das alles mit dem Raubtierkapitalismus zu tun? Diese Frage lässt sich in meinen Augen relativ leicht beantworten. Der Kapitalismus als solches ist das Problem.

Er ist frei von politischer Ideologie. Es spielt überhaupt keine Rolle, welche Staatsform in einem Land vorliegt, sondern ob sich der Kapitalismus entfalten kann. Ist es eine repräsentative Demokratie, wunderbar. Werden die besten Geschäfte in einer grausamen Diktatur gemacht, auch gut. Die einzigen Dinge, die den Kapitalismus beseelen, sind Verwertbarkeit, Gewinnmaximierung, Wachstum und Profit. Dabei unterscheidet er nicht zwischen Hautfarbe, Herkunft oder Religion, sondern zwischen verwertbar oder nicht verwertbar.

Nach dem Zweiten Weltkrieg standen sich zwei Wirtschaftsmodelle gegenüber, die auf den ersten Blick vollkommen verschieden waren. Das sozialistische Modell im Osten, getragen von der Idee sozialer Gleichheit und Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder, aber durch seinen totalitären Ansatz von der Utopie himmelweit entfernt, übte Faszination auf viele Menschen aus.

Es hätte ja vielleicht klappen können, mit der Gleichheit aller Menschen. Damit wäre der Kapitalismus am Ende.

Der Westen suchte nach Wegen, um die Bevölkerung an sich zu binden und ein militärisches wie auch ideologisches Bollwerk gegen den Kommunismus aufzubauen. Mit sozialen Zugeständnissen, einem gewissen Wohlstand für den größten Teil der Bevölkerung und mit der nötigen Propaganda über die Rote Gefahr, wurde dies in der Bundesrepublik erreicht. Es gab dabei wenig Skrupel, sich der Hilfe von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Kriegsverbrechern zu bedienen. Das war in der DDR nicht anders, selbst wenn dort mehr NS-Täter verurteilt wurden als in der BRD. Hüben wie drüben blieb die Entnazifizierung also eine halbe Wahrheit [7].

Die Entfesselung einer Krankheit

Das kapitalistische System zeigte mehr als ein Mal, dass es mit harten Bandagen agiert: Regime change und Installation totalitärer Regime inbegriffen.

Auf die Verstaatlichung der Ölförder- und Raffinerieanlagen im Iran 1953 unter Premierminister Mohammad Mossadegh reagierte der Westen zum Beispiel mit einer Geheimdienstopertion, um die Regierung zu stürzen. In Chile zeigte Salvador Allende seinen Willen, eine radikal soziale Politik umzusetzen. Dazu gehörte eine Agrarreform, die Teilverstaatlichung von Industriebetrieben und Banken und die Verstaatlichung des größten Staatsschatzes, der Kupferminen. 1973 putschte das Militär, der US-Auslandsgeheimdienst CIA war beteiligt.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er war der gesellschaftliche Gegenentwurf verschwunden. Das kapitalistische System explodierte und fraß sich in die ehemaligen Sowjetrepubliken. Selbst das kommunistische China spielt heute streng genommen nach kapitalistischen Regeln.

Jeder Winkel der Erde ist mittlerweile befallen mit Kapitalismus. Der Kapitalismus ist eine Krankheit, die seit 2008 in einer Verwertungskrise steckt. Wohin mit dem ganzen Kapital? Es wird aufgekauft, was nicht niet- und nagelfest ist. Die Privatisierung von Gemeineigentum und die aberwitzigen Ausgaben für Kriegsgerät, sind Ausdruck dieser Krise.

Und jetzt kommt die Industrialisierung 4.0. Die Ressource „Mensch“ wird immer unwichtiger im Produktionsprozess. Die Einnahme durch Lohnerwerb fehlt, die Preise steigen, die Menschen verlieren Haus und Hof und verarmen. Und es wird rücksichtslos weitergemacht im Kapitalismus.

Eine radikale Erneuerung

Es ist nicht verwunderlich, dass beispielsweise in den USA mittlerweile 43 % aller Haushalte im Monat so wenig Geld zur Verfügung haben, dass das Budget nicht mehr ausreicht für Unterkunft, Essen, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung, Transport und ein Handy.

Das führt zu immer mehr Spannungen. Nicht umsonst werden Stimmen lauter, die ein Bedingungsloses Grundeinkommen fordern, um sich den sozialen Frieden zu erkaufen. Kann das reichen? Nein, sagt Reverend Dr. William J. Barber II. Er ist einer der wichtigste Köpfe der wiedererstarkten „Poor Peoples Campaign„, die eine moralische Neuausrichtung der USA fordert, wo Ausbeutung, der soziale Krieg gegen die Armen und der reale Krieg um Ressourcen und Macht zum „Business“ gehören.

Europa befindet sich auf dem Pfad der Vereinigten Staaten: Privatisierung, Abbau des Sozialstaats, Aufrüstung, Kriegsbeteiligung und freie Fahrt für das Kapital. Dieser Marktfundamentalismus zerstört die Gesellschaften.

Was ist zu tun? Deutschland, die EU und Europa brauchen eine radikale Veränderung, hin zu einer sozialen Wirtschaftsordnung mit einer moralischen, humanistischen und naturfreundlichen Ausrichtung. Dies ist bitter nötig. Denn nur so besteht die Möglichkeit, dass die Spezies Mensch nicht als Fehlversuch der Natur in die Geschichte eingeht.

Quellen und Anmerkungen

[1] Düsseldorfer Leitsätze verfügbar auf http://www.gesellschaft-und-visionen.de/PDF/Strategie/Duesseldorfer%20Leitsaetze%20KAS.pdf (abgerufen am 26.06.2019).
[2] Norbert Wollheim Memorial: I.G. Farben. Auf http://www.wollheim-memorial.de/de/ig_farben (abgerufen am 27.06.2019).
[3] Norbert Wollheim Memorial: Biografien von Otto Ambros (1901–1990). Auf http://www.wollheim-memorial.de/de/otto_ambros_19011990 (abgerufen am 27.06.2019).
[4] ZEIT Online (3. Mai 1991): Hochstimmung im Schatten der I.G. Auschwitz. Auf https://www.zeit.de/1991/19/hochstimmung-im-schatten-der-ig-auschwitz (abgerufen am 27.06.2019).
[5] Geschichte im Ersten: „Unser Wirtschaftswunder – Die wahre Geschichte“. Auf https://programm.ard.de/TV/daserste/2013/07/15/unser-wirtschaftswunder—die-wahre-geschichte/eid_2810610240061314 (abgerufen am 28.06.2019); über https://www.youtube.com/watch?v=DV8DsMmS65I&feature=youtu.be auf YouTube verfügbar.
[6] Wikipedia: Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, die nach Mai 1945 politisch tätig waren. Auf https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_ehemaliger_NSDAP-Mitglieder,_die_nach_Mai_1945_politisch_tätig_waren (abgerufen am 28.06.2019).
[7] MDR.de: Nazi-Karrieren in der DDR. Auf https://www.mdr.de/zeitreise/nazis-in-der-ddr-100.html (abgerufen am 29.06.2019).
[8] CNN: Almost half of US families can’t afford basics like rent and food. Auf money.cnn.com/2018/05/17/news/economy/us-middle-class-basics-study/index.html (abgerufen am 29.06.2019).

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