Frühlingswetter hat die Europäische Union tatsächlich bitter nötig, um aus der Dauerkrise herauszufinden. Die Prognosen sind allerdings trübe, der internationale Nationalismus ist im Vormarsch und droht, das EU Parlament in den anstehenden Wahlen aufzumischen.

Dem will DEMOKRATIE IN EUROPA – DiEM25 zusammen mit Partnerparteien etwas entgegensetzten und tritt in acht europäischen Staaten unter dem Namen EUROPEAN SPRING zu den EU-Wahlen an. Als Novum werden dabei transnationale Listen präsentiert. In Deutschland wurde der Wahlflügel gemeinsam mit DEMOKRATIE IN BEWEGUNG gegründet, die in der letzten Bundestagswahl einen Achtungserfolg erzielten.

Pressenza traf sich mit den beiden Kandidat*innen Regine Deutsch und Jasper Finkeldey sowie dem Wahlkampfaktivisten Harry Unger zum Gespräch.

Reto Thumiger: Bitte stellt euch kurz vor.

Regine Deutsch: Ich komme aus der Pfalz und seit vielen Jahren selbstständig. Und erlebe es dort, wie schwierig es sein kann, sich über Wasser zu halten. Ich bin Erzieherin, arbeite Teilzeit in einem Hort und habe das Gefühl, dass wir unseren zukünftigen Generationen etwas schuldig sind, dass wir jetzt was tun müssen gegen Klimawandel und für die Umwelt. Und damit uns die Kinder nicht irgendwann mal fragen, habt ihr das nicht gemerkt? Wo wart ihr eigentlich, habt ihr geschlafen? Das treibt mich an.

Jasper Finkeldey: Ich bin promovierter Sozialwissenschaftler und komme aus Berlin. Ich habe lange im Ausland gelebt und immer nach einer politischen Heimat gesucht. Während des Brexits habe ich in England gelebt und konnte nicht mitstimmen. Das war eine gewisse Ohnmacht, hat aber auch einen gewissen Aktionismus freigemacht. Ich habe eine politische Artikulation gesucht, um mich aktiv einbringen zu können. In deutschen politischen Parteien habe ich es nur begrenzt gefunden. Als DiEM25 ein Wahlflügel gegründet hat, wollte ich unbedingt daran teilhaben. Der Antritt zur Europawahl ist ein Weg, unserer Stimme mehr Gewicht zu verleihen.

Harry Unger: Ich lebe in Südhessen, für mich ist es in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, mehr Mitgefühl in der Gesellschaft zu verankern und den Ausgrenzungsbestrebungen der Rechten etwas entgegen zu setzen. Da habe ich bei DEMOAKRATIE IN EUROPA – DiEM25 das beste Programm gefunden, dass man auch verwirklichen kann, und habe von Anfang an den Wahlflügel Demokratie in Europa unterstützt.

EUROPEAN SPRING ist ein neugegründeter Wahlflügel und die erste Kandidatur ist für das europäische Parlament. Was sind eure Ziele?

Jasper: Europäische Wahlen werden überhaupt nicht mit europäischen Themen gefüllt, sondern verlaufen entlang nationaler Linien. Das heißt, ein Programm zu entwerfen mit den Parteien in mehreren Ländern antreten, ist ein Novum. EUROPEAN SPRING bedeutet, dass progressive Parteien in ganz Europa sich über ein gemeinsames Programm verständigen und gemeinsam antreten.

Inhaltlich steht der GREEN NEW DEAL sehr im Vordergrund. Das ist ein grünes Investitionsprogramm, was gleichzeitig grüne Jobs schaffen will und diese Teile Europas, die sehr unter der Austeritätspolitik gelitten haben, wiederbeleben möchte, aber auf eine nachhaltige Art und Weise.

Das heißt, ihr würdet euch im europäischen Parlament in erster Linie für eine nachhaltige Wiederbelebung der Wirtschaft einsetzten. Wie sehen denn die strukturellen Vorschläge für die EU aus? Die Union krankt, sie ist am Auseinanderfallen. Das sogenannte europäische Friedensprojekt ist doch in Tat und Wahrheit in erster Linie eine Wirtschaftsunion.

Jasper: Das soziale Europa wurde immer mitgedacht bei der Gründung der Europäischen Union. Die ökonomische Union kann langfristig ohne ein soziales Europa nicht existieren. Das wussten auch Leute wie Jacques Delors. Nur irgendwann hat sich die wirtschaftliche Seite verselbständigt. Es blieb nur noch der freie Dienstleistungs-, Waren- und Personenverkehr. Ich gebe dir Recht, dass es ein sehr marktwirtschaftliches Projekt geblieben ist. Das Fundament eines sozialen Europas, dass, um miteinander gerecht Wirtschaft treiben zu können, man soziale Rechte braucht, die gewisse Standards einhalten, ist erst in der späteren Entwicklung verloren gegangen.

Regine: In Europa müssen wir aufhören, dass jeder nur an sich denkt. Wir haben unsere Schäfchen im Trockenen und wie es den Italiener*innen, Spanier*innen und Griech*innen damit geht, ist uns egal. Das funktioniert so nicht. Es gibt viele Probleme wie Klimawandel, Umweltschutz, Armut, etc., die wir global denken müssen und da müssen wir mit Europa anfangen. Wir sind es zukünftigen Generationen schuldig, dass wir diese Probleme jetzt lösen. Weil uns die Zeit davonläuft.

Du sprichst jetzt die Überwindung des Nationalstaates an, um auf europäischer Ebene Probleme zu lösen. Allerdings führt das ja im aktuellen Modell zu einer Zentralisierung und einer Verringerung der Demokratie in Europa.

Jasper: Man begeht einen Fehler, wenn man sagt, deutsche Demokratie, italienische Demokratie, französische Demokratie und europäische Demokratie müssen nach den gleichen Funktionsmustern arbeiten. Viele von uns glauben, dass der Nationalstaat in seiner jetzigen Form mit seiner Vertretung im europäischen Rat als fundamentales Interessenorgan einzelner Länder dem gesamteuropäischen Interesse entgegensteht. Eine Lösung dafür wäre es, die Rolle des Nationalstaates relativ zu entmachten, um der Ebene darunter, der regionalen Ebene mehr Gewicht zu geben; Städte, Gemeinden und Kommunen mehr entscheiden zu lassen. Die ganz zentralen Fragen, wie wir leben wollen als Kommune und als Region, stellen zu können. Aber die Regelungsmechanismen für Klimawandel, außenpolitisches Auftreten – Europa wird ja demographisch immer kleiner und darum macht ein gesamteuropäischer Auftritt ja Sinn -, wie gestalten wir eine gerechte Währungsunion, diese Fragen müssen und sollen europäisch gelöst werden. Dieses Dilemma ist in gewisser Weise eine Schuld unseres Mehrebenen-Systems, in dem der Nationalstaat zu große Privilegien hat.

Regine: Das EU-Parlament ist ja das gewählte Organ und es muss mit Gesetzgebungskompetenzen ausgestattet werden, es müssen Initiativen entstehen können, die auch ins Gesetzgebungsverfahren gelangen und umgesetzt werden. Die Teilnahme der Menschen an diesen Prozessen muss unbedingt erleichtert werden. Es muss Beteiligungsmöglichkeiten geben, dass die Menschen nicht das Gefühl haben, die in Brüssel machen ja sowieso was sie wollen. Das ist es, was die Menschen brauchen, damit sie sich mitgenommen und nicht ferngesteuert fühlen.

Harry: Wir haben ja auch das Problem von Regionalkonflikten innerhalb der Nationalstaaten Europas, Katalonien, um ein Beispiel zu nennen. Wir denken auch, dass man mit den Regionalkonflikten viel leichter umgehen kann, wenn die Regionen mehr Autonomie erhalten und in der Richtung eines Kommunalismus entwickelt werden.

Euer wirtschaftliche Vorschlag, der GREEN NEW DEAL, ist sehr detailliert ausgearbeitet und entsprechend auch umfangreich. Könnt ihr die wesentlichen Aspekte hervorheben?

Jasper: Die Diagnose, die DiEM25 seit ein paar Jahren gestellt hat, und das Programm, an dem die Partnerparteien und NGOs mitgearbeitet haben, beruht auf der Erkenntnis, dass es ein Europa der Entsolidarisierung gibt. Krisen werden mit Sparen beantwortet. Aus der Vergangenheit weiß man, dass Austerität gerade in Krisensituationen zu einer Abwärtsspirale führt. Was im EUROPEAN GREEN NEW DEAL deshalb jetzt in dieser Krisensituation, die die südlichen Länder in Europa und auch ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland erleben, vorgeschlagen wird, ist, dass massiv investiert werden muss. Dieser Investitionsstau koppelt sich mit einer ökologischen Krise. Man kann nicht wie in den 30er Jahren, wo Roosevelt viel Geld in die Hand genommen hat, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, einfach nur in Infrastruktur und Arbeitsplätze investieren. Wir müssen heute darüber nachdenken wie Urbanität nachhaltig gestaltet werden kann, damit nachfolgende Generationen davon profitieren.

Die Lösung kann also ein unbeschränktes Wirtschaftswachstum nicht sein?

Jasper: Richtig, es gibt Grenzen des Wachstums und wenn heute von Wirtschaftswachstum gesprochen wird, stellt sich die Frage, welches Wachstum ist gemeint und Wachstum für wen? Sind wir gesamtgesellschaftlich schon auf einem Niveau, wo wir überhaupt noch wachsen müssen, und haben wir die richtigen Indikatoren dafür? Die Antwort ist, dass wir bei unserem jetzigen Ressourcenverbrauch über unsere Verhältnisse leben und dass wir es schaffen müssen, Ressourcen so einzusetzen, dass wir in Zukunft nachhaltig wirtschaften können. Wir können in einer postindustriellen Gesellschaft realistischerweise nicht mehr viel wachsen.

Deutschland selbst hat ja gute Jahre hinter sich, dennoch wächst das Prekariat, der Sozialstaat wird weiter abgebaut, die Gesundheitsversorgung, die Bildung verschlechtert sich. Diese Idee, dass wenn die Wirtschaft wächst, auch der allgemeine Wohlstand in der Gesellschaft steigt, ist ja offensichtlich falsch?

Harry: Der sogenannte Trickle-Down-Effekt, denn du da ansprichst, der funktioniert so nicht. Im GREEN NEW DEAL geht es nicht nur um ökologische, sondern auch um sozial nachhaltige Investitionen, was auch die soziale Fürsorge miteinbezieht.

Jasper: Wie gesagt sind wir in einer Zeit des Kapitalismus angelangt, wo Ökonomien nicht einfach mehr so wachsen. Gleichzeitig haben wir riesige Tech-Unternehmen, die sehr große Gewinne machen. Diese Gewinne werden eigentlich mit unserer Arbeitskraft gemacht. Wir generieren diese Gewinne durch unsere Präferenzen, durch unsere Profile, durch die Inhalte, die wir online stellen… Data-Mining ist der Gewinnpool von Google, Facebook & Co. Im Prinzip sind wir bereits Anteilseigner, indem wir das Koproduzieren. Die großen Tech-Firmen sind auf schulische Bildung und öffentliche Infrastruktur angewiesen, für die sie alle nicht mitbezahlen. Ein Vorschlag ist, bei Börsengängen von neuen Unternehmen einen Anteil der Aktien als öffentliches Gut zur Verfügung zu stellen und allen Bürgerinnen und Bürgern in Europa auszuzahlen. Das ist nicht mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu verwechseln, das im Gegensatz zu unserem Vorschlag steuerfinanziert wäre.

Regine: Ein Grundeinkommen auf der Basis von Rendite, aber auch auf der Basis einer anderen Grundhaltung. Nicht den Menschen Almosen zu geben, damit sie dieses Hamsterrad weiterdrehen können, sondern den Menschen ihren Anteil am Wirtschaftswachstum zurückzugeben. Deswegen nennt es sich Bürgerdividende und hat mit einer Sozialförderung überhaupt nichts zu tun.

Harry: Die Diskussion, dass Einzelpersonen für die Kommerzialisierung ihrer Daten bezahlt werden sollen, hat in den letzten 2-3 Jahren an Raum gewonnen. In Holland gibt es bereits die erste Datengewerkschaft, vom EU-Abgeordneten Paul Tang ins Leben gerufen.

Ihr kandidiert in Deutschland mit einer transnationalen Liste für das Europäische Parlament, das ist ein Novum. Die Wählerstimmen müsst ihr aber ausschließlich in Deutschland holen. Wenn man vom solidarischen Europa spricht, entsteht sehr schnell das Gefühl hierzulande, dass man den Leuten etwas wegnehmen will.

Regine: Es können ja alle EU-Bürger, die in Deutschland wohnhaft sind, für uns wählen. Also können uns nicht nur Bundesbürger, sondern auch alle anderen EU-Bürger, die in Deutschland zu Hause sind, wählen. Leider wissen das viele EU-Bürger gar nicht und auch nicht, wie sie das machen müssen. Die Eintragung ins Wahlregister muss extra beantragt werden. Dieser Aspekt macht die EU-Wahl zu etwas ganz Besonderem und für die Bürger aus anderen Ländern zu einer Chance, die hier sonst nicht mitreden dürfen.

Jasper: Zur etwas populistischen Rhetorik, dass mehr Europa zu weniger Geld in Deutschland führt, sagen wir, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Deutschlands Export-Finanzierung wird sich nicht ins Unendliche drehen, weil die Export-Märkte irgendwann wirtschaftlich so abgehängt sein werden, dass sie die deutschen Produkte gar nicht mehr bezahlen können. Dieses Ungleichgewicht ist auch für Deutschland mittelfristig schädlich. Deshalb unsere Forderung, dass Export-Überschüsse und Export-Defizite genau gleich behandelt werden sollen. Bisher werden Export-Defizite von der europäischen Kommission mit Argwohn begutachtet, die Überschüsse hingegen eher als ein Leistungsausweis einer Volkswirtschaft. Wir weisen darauf hin, dass es in Deutschland einen Export-Überschuss gibt, weil die Löhne niedriger als zum Beispiel in Frankreich sind. Wenn Deutschland es schaffen würde, eine größere Binnennachfrage zu generieren und Löhne zu stärken, hätten hiesige Arbeiter*innen etwas davon und gleichzeitig müssten sich die europäischen Partner nicht mit relativ billigen deutschen Produkten rumschlagen, die ihre eigene Volkswirtschaft in Gefahr bringen.

Harry: Es wird ja immer vom Exportüberschuss gesprochen, das bleibt aber etwas nebulös in der Bedeutung. Schlussendlich finden 85% der deutschen Exporte innerhalb Europas statt und wenn die europäischen Partnerländer in Europa zunehmend schwächer in ihrer Wirtschaftskraft werden, dann werden die 15% weltweiten Exports Deutschland auch nicht mehr helfen.

Diese Probleme hat ja in erster Linie der Euro geschaffen. Eine Währungsunion ohne funktionierenden Finanzausgleich ist problematisch.

Jasper: Da stimme ich dir zu. Viele gut beratene südeuropäischen Länder würden heute wohl dem Euro nicht mehr beitreten. Die Antwort auf die Frage, ob sie heute die Währungsunion verlassen sollten, ist jedoch eher Nein. Weil die Abwertung der eigenen Währung so groß wäre, dass sie nicht mehr Fuß fassen könnten. Ganz wichtig ist, dass wir ein soziales und politisches Europa wieder ganz nach oben auf die Tagesordnung bringen müssen. Weil diese Ungleichgewichte bei Arbeitslosigkeit, bei Bezahlung und in der regionalen Infrastruktur nur dazu führen können, dass eine Währung für ein ökonomisch starkes Land wie Deutschland sehr gut ist, weil es eine zu billige Währung hat, und für eine Volkswirtschaft wie Griechenland eben sehr schlecht ist, weil die Währung für sie zu teuer ist. Soziale Harmonisierung, was nicht eine Schlechterstellung Deutschlands heißen muss, ist nicht nur einfach ein Slogan, sondern bitter nötig.

Harry: Das schließt sich der Kreis auch mit dem, was wir zu Beginn gesagt haben, nämlich dass der GREEN NEW DEAL nicht ausschließlich ein Wirtschaftsprogramm, sondern ein Solidaritätsprogramm ist. Unser Bestreben ist es, die Arbeitsplätze und die hochtechnologischen Unternehmen über ganz Europa zu verteilen. Es kann ja nicht sein, dass die hochbezahlten technologischen Arbeitsplätze alle im Norden sind und im Süden nur Tomaten gezüchtet werden. Da gibt es schon eine Verantwortung, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Regine: Natürlich muss man auch dafür sorgen, dass die, die Tomaten pflanzen, auch anständig davon leben können.

Tatsächlich hat die Globalisierung sehr große Unterschiede geschaffen, in dem sie Wirtschaftszweige in ganzen Regionen zerstört und in anderen konzentriert hat.

Regine: Deshalb ist im GREEN NEW DEAL angedacht, über das Thema der Subventionen nochmals grundlegend nachzudenken. Damit Agrarsubventionen nicht mit der Gießkanne verteilt, sondern Bedingungen daran geknüpft werden. Wenn wir unsere Umwelt und unser Klima retten wollen, müssen wir nachhaltig und ökologisch arbeiten. Da dran müssen die Subventionen geknüpft werden. Die Betriebe, die sich entsprechend engagieren, bekommen ihre Produkte auch ordentlich bezahlt, ohne dass der Verbraucher mit den heutigen Löhnen sich das hinterher nicht mehr leisten kann. So würden diese riesigen Monokulturen, wenn sie nicht mehr subventioniert werden, von alleine wieder verschwinden.

Jasper: Man darf nicht den Fehler begehen, die Globalisierung als Naturgesetz zu sehen. Es sind politische Stellschrauben, die bereits in den 70er Jahren gelockert und im Falle von Deutschland Anfangs der Nuller-Jahre weiter geöffnet wurden. Sozialstandards und soziale Mindestsicherung, natürlich sind das nationale Kämpfe, aber wenn man sie nur national sieht, dann bleibt es beim Unterbietungskampf von einzelnen Niedriglohnsektoren. Man hat es beim Brexit gesehen, einer der ersten Kommentare bei der Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und der EU war, passt bloß auf, dass wir die Löhne nicht noch weiter senken, damit wir noch billiger Ware produzieren können. Wenn es bei diesem Unterbietungskampf bleibt, dann werden wir auch weiterhin Globalisierung nennen, was eigentlich politisch gewollt ist. Es waren die politischen Entscheide, die die Globalisierung zu solchen Automatismen, auch in unserem Denken, geführt haben.

Regine: Die Politik macht die Regeln und sie muss die Regeln halt so machen, dass sie dem Menschen und der Umwelt zu Gute kommen. Wenn das nicht mehr so ist dann ist etwas schief gelaufen. Dann müssen wir erst recht dafür sorgen, dass die Kompetenz und die Entscheidungsgewalt der Politik zurückzugeben wird. Was jetzt unter anderen diesen Lobbyismus betrifft. Da ist das neue Transparenzgesetz zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber wir brauchen da viel mehr Aufklärung, wer nimmt Einfluss auf was und wie.

Wie bereits erwähnt, müssen wir darüber nachdenken, wie wir einen Beteiligungsprozess europaweit hinbekommen. Da sehe ich die aktuelle repräsentative Form nicht unkritisch. Deutschland hat 96 Sitze im europäischen Parlament und kleinere Staaten, die aber von den Gesetzten genauso beeinflusst werden und zum Teil den Schaden davontragen, haben viel weniger Mitspracherecht. Malta mit 4 Sitzen hat schlichtweg nichts zu melden.

Gehen wir nun über Europa hinaus zum Thema Flucht und Migration. Europa hat ja ganz offensichtlich ein Menschenrechtsproblem?

Regine: Europa hat ein Menschenwürdeproblem! Ich kann das europäische Äquivalent nicht zitieren, aber im deutschen Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und da frage ich, was ist der Unterschied zwischen einem Journalisten, der in einer Botschaft in der Türkei ermordet wird und weltweite Empörung auslöst und der Würde eines somalischen Flüchtlings, der im Mittelmeer ertrinkt? Und da brauchen wir eigentlich gar nicht weiter zu reden. Da müssen wir wieder hin, dass die Würde des Menschen wieder unantastbar wird, und dass genauso intensiv versucht wird, diesen Menschen zu helfen und sie zu retten, wie es versucht wird, wenn eine englische Seglerin auf dem Atlantik verschollen geht. Wie man das macht, dazu müssen wir tatsächlich global denken.

Jasper: Was man jetzt auf dem Mittelmeer sieht, ist natürlich ein unerträgliches Sterben von Menschen, von denen jeder einzelne Tote eigentlich vermeidbar wäre. Als Bewegung und Partei unterstützen wir Initiativen wie Sea-Watch oder die Seebrücke, die eben eine sichere Überfahrt fordern. Da, wo die Europäische Union gerade versagt, Menschenleben zu retten, versuchen das Privatinitiativen zu leisten. Was vernachlässigt wird, ist dass die jetzigen Handelsverträge mit afrikanischen Staaten immer noch neokolonialen Denkmuster unterliegen. Handelsverträge werden eben nur dann abgeschlossen, wenn die Zölle sehr gering sind. Was dazu führt, dass Agrarprodukte, die in Europa nicht mehr gebraucht werden, afrikanische Märkte überschwemmen. Und so die männliche arbeitende Bevölkerung – darum sehen wir so viele Männer, die ihr Glück versuchen – nach draußen drängen.

Es gibt ein Ungleichgewicht zwischen der EU und den afrikanischen Partnerländern, das auf verschiedene Weise dazu führt, dass auf dem Mittelmeer gerade ein Sterben stattfindet.

Langfristig kann das Problem der sogenannten Wirtschaftsmigration nur mit wirtschaftlichen Maßnahmen und mit fairem Handel gelöst werden. Auf das Thema der Kriegsursachen kommen wir noch. Wie soll denn in der Zwischenzeit mit den Flüchtenden umgegangen werden?

Jasper: Es muss auf jedem Fall sichere Einreisewege nach Europa geben. Es muss möglich sein, in Botschaften auf der ganzen Welt Asylanträge an die EU zu stellen. Im Moment kann man von afrikanischer Seite nur illegal nach Europa einreisen. Wenn es möglich wäre, Asylanträge in den betreffenden Ländern zu stellen und sichere Wege nach Europa zu finden, wäre ein erster Schritt gemacht.

Regine: Und vielleicht wäre es auch der erste Schritt, diese Menschen vor Ort zu unterstützen, damit sie diesen weiten Weg gar nicht erst auf sich nehmen müssen.

Jasper: Legale und sichere Einreisewege müssen geschaffen werden, das Problem darf nicht an die libysche Küstenwache ausverkauft werden, und die Handelsverträge mit den afrikanischen Ländern müssen überdacht werden.

Die andere Hauptfluchtursache ist ja Krieg…

Regine: Für mich hängt das aber zusammen, weil diese wirtschaftliche Not, die wir produzieren, erzeugt wiederum diese Konflikte. Diese wirtschaftliche Ausbeutung – ich nenne das auch Wirtschafts-Kolonialismus – die wir zurzeit betreiben, muss wieder auf eine faire Ebene kommen. Wieder ist das falsche Wort, da es noch nie faire Beziehungen gegeben hat. Damit die Rohstoffe, und es sind ja ausschließlich die Rohstoffe, zu einem fairen Preis abgenommen werden. Dabei wird auch keine Rücksicht auf Umweltstandards genommen. Wir exportieren Fabriken aus Deutschland irgendwohin, weil unsere Umweltstandards diese hier nicht mehr zulassen. Und dann werden sie woanders hingestellt, wo sie dann die Luft und das Wasser verpesten dürfen. Da müssen wir uns doch fragen, wie wir uns die Welt in den nächsten Jahren vorstellen. Können wir das verantworten und was können wir tun? Da gibt es sicher kein Patentrezept, darum müssen wir auch gemeinsam Lösungen suchen.

Jasper: Manche Dinge könnten wir sofort tun, z.B. Waffenlieferungen an Despoten verbieten.

Regine: Es macht natürlich keinen Sinn, sich einerseits über die Kriegsflüchtlinge zu „beschweren“ und andererseits die Waffen zu produzieren, mit denen sie aus ihren Häusern gebombt werden.

Jasper: Für uns, und ich glaube auch für die meisten Leute, ist Europa als Friedensprojekt wichtig und das ist auch generationsübergreifend und betrifft nicht nur die Generation unserer Großeltern, die Kriege miterleben mussten. Daran müssen wir uns immer wieder erinnern und wenn man jetzt gesamteuropäisch denkt, muss man sich fragen, wofür tritt Europa ein? Ist es eine Politik des Friedens, eine Entspannungspolitik oder eine Politik des Mitrüstens, des Aufrüstens und der Waffenexporte? Ich glaube die Antwort ist klar.

Ich danke euch für dieses interessante Gespräch!