Der erbittert geführte Arbeitskampf am Audi-Werk im ungarischen Győr hält an und führt erstmals zu einem Produktionsstillstand in der Bundesrepublik. Audi weigert sich auch beinahe eine Woche nach dem Beginn eines Streiks in Győr, den Forderungen der dortigen Arbeiter zu entsprechen und ihre Löhne, die niedrigsten innerhalb des Konzerns in ganz Europa, angemessen zu erhöhen.

Weil das dortige Motorenwerk, das größte der Welt, nicht produziert, ist jetzt auch am Audi-Stammwerk in Ingolstadt die Arbeit eingestellt worden. Der Streik folgt Massenprotesten gegen ein Gesetz, das eine dramatische Ausweitung der Überstunden in Ungarn vorsieht und dem Interesse deutscher Kfz-Konzerne Rechnung trägt: Diese wollen ihre Produktion in Ungarn erheblich ausweiten, leiden dort jedoch unter Arbeitskräftemangel – unter anderem, weil die Regierung Orbán die Zuwanderung von Arbeitskräften verweigert. Das neue Gesetz, das ersatzweise die Arbeitszeit per Ausweitung der Überstunden verlängert, wird als „Sklavengesetz“, zuweilen auch als „Lex Audi“ kritisiert“.

Arbeitskampf in Győr

Der Arbeitskampf in den Audi-Werken im ungarischen Győr hält an. Die Arbeiter dort hatten am vergangenen Donnerstag einen einwöchigen Streik begonnen, um eine Lohnerhöhung in Höhe von 18 Prozent durchzusetzen. Aktuell liegt der Durchschnittslohn in der Montage in Győr bei 1.100 Euro brutto im Monat; das sind laut Angaben von Gewerkschaftern 28 Prozent weniger als der Durchschnittslohn in den slowakischen Audi-Werken und 39 Prozent weniger als die Einkommen bei Audi in Polen, während Audi-Arbeiter in Belgien im Durchschnitt das 3,6-fache ihrer Kollegen in Ungarn verdienen – dies, obwohl die Lebenshaltungskosten in ungarischen Städten wie Győr nicht signifikant niedriger sind als in Westeuropa. Die Arbeiter fordern eine Lohnerhöhung von 18 Prozent, mindestens aber 75.000 Forint (rund 236 Euro). Obwohl sie damit immer noch die am schlechtesten bezahlten Audi-Arbeiter des gesamten europäischen Kontinents wären, weigert sich die deutsche Volkswagen-Tochter, ihrem Verlangen nachzugeben. Seit Montag ruht daher auch die Arbeit im deutschen Audi-Stammwerk in Ingolstadt: Es fehlen Motoren, die in Győr produziert werden.

Kfz-Standort Ungarn

Audi Hungaria ist mit einem Investitionsvolumen von fast neun Milliarden Euro seit 1993 die größte ausländische Direktinvestition in Ungarn. In Győr werden nicht nur mehr als 100.000 Pkw pro Jahr produziert, sondern auch rund zwei Millionen Motoren, die in Fahrzeuge der Marke Audi sowie der Marke VW eingebaut werden. Das Motorenwerk gilt als das größte seiner Art weltweit. Neben Audi betreibt auch Daimler seit 2012 ein Werk in Ungarn; in Kecskemét wurden im Jahr 2017 rund 190.000 Fahrzeuge montiert, mehr als an jedem anderen ungarischen Kfz-Standort. Während Daimler in Kecskemét für etwa eine Milliarde Euro ein zweites Werk errichtet, hat auch BMW als dritter deutscher Kfz-Hersteller angekündigt, eine Fabrik in Ungarn zu bauen; rund eine Milliarde Euro soll an einem neuen Standort bei Debrecen investiert werden. Parallel zu den drei großen deutschen Autoproduzenten haben sich auch zahlreiche deutsche Zulieferer in Ungarn angesiedelt, darunter Bosch, Continental, Schaeffler und ZF Friedrichshafen. Manche von ihnen weiten ihre Aktivitäten ebenfalls aus; Bosch etwa hat angekündigt, sein Engineering Center in der Hauptstadt Budapest für 120 Millionen Euro zu erweitern. FAG Magyarország, eine Tochterfirma der deutschen Schaeffler Group, hat soeben eine neue Produktionsstätte in Debrecen eröffnet.

Deutsche Dominanz

Die umfangreichen und immer weiter zunehmenden Investitionen der deutschen Autobranche, die von den niedrigen Löhnen in Ungarn profitieren, haben zu einem doppelten Effekt geführt. Zum einen dominiert die Kfz-Industrie die Wirtschaft des Landes: Sie stellt zur Zeit fast 30 Prozent der Produktion des verarbeitenden Gewerbes. Dabei wird sie von ausländischen Firmen beherrscht, während die kleinen und mittleren einheimischen Unternehmen, wie es in einer österreichisch-deutschen Darstellung heißt, „eher lokal agieren und kaum in die Zulieferkette der internationalen Produzenten eingebunden sind“.[1] Gleichzeitig dominiert unter den auswärtigen Konzernen die deutsche Industrie. Neben Audi, Daimler und künftig BMW produziert Suzuki in Estzergom etwa 176.000 Autos pro Jahr, während Opel in Szentgotthárd knapp 500.000 Motoren jährlich herstellt; beide liegen damit deutlich hinter der Gesamtproduktion der deutschen Unternehmen in Ungarn zurück. Laut Angaben der Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (gtai) stammt der Bestand ausländischer Direktinvestitionen in Ungarn zu fast einem Viertel (22,9 Prozent) aus Deutschland; die Vermutung, dass sich auch hinter den Investoren Nummer zwei (die Niederlande mit 18,6 Prozent) und Nummer drei (Österreich mit 10,6 Prozent) teils deutsche Unternehmen verbergen, ist begründet; beide Länder sind als Relaisstationen deutscher Auslandsinvestitionen bekannt.

Die „Lex Audi“

Der Ausbau deutscher Kfz-Fabriken in Ungarn hat seinen Grund – neben den niedrigen Löhnen – auch in der bislang schwachen Stellung der Gewerkschaften und in anderen konzernfreundlichen Rahmenbedingungen im Land. So hat die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán im Jahr 2017 die Sozialabgaben von 27,5 auf 19,5 Prozent gesenkt und den Körperschaftssteuersatz auf neun Prozent reduziert; letzteres ist der geringste Wert in der EU. Die Gesamtproduktion soll von knapp 500.000 Pkw im Jahr 2015 auf mehr als 710.000 Exemplare im Jahr 2025 sowie über 780.000 im Jahr 2027 steigen. Allerdings werden schon jetzt die Arbeitskräfte knapp. Weil die Regierung Orbán jedoch Zuwanderung ablehnt – auch die Zuwanderung von Arbeitskräften [2] -, hat sie einen anderen Weg gewählt und im Dezember ein Gesetz beschlossen, das ersatzweise die Arbeitszeit drastisch erhöht. So können Unternehmen ihre Mitarbeiter künftig nicht mehr nur zu 250, sondern zu 400 Überstunden pro Jahr verpflichten; Ausgleich dafür müssen sie nicht mehr binnen eines Jahres, sondern nur noch innerhalb von drei Jahren leisten. Beobachter stimmen überein, dass das Gesetz de facto die verdeckte Einführung der Sechstagewoche ermöglicht. Weil das Gesetz vor allem dem Interesse deutscher Kfz-Konzerne Rechnung trägt, wird es in Ungarn nicht nur weithin als „Sklavengesetz“, sondern zuweilen auch als „Lex Audi“, als „Lex Mercedes“ oder „Lex BMW“ bezeichnet.[3]

Das System Orbán

Tatsächlich ermöglicht es die Zurichtung Ungarns nach den Interessen deutscher Konzerne dem ungarischen Ministerpräsidenten, den repressiven Umbau des Staates [4] voranzutreiben: Die Kfz-Standorte sichern dem Land eine wichtige Rolle im System der kontinentalen Wirtschaft – und sie schaffen dank der zunehmenden Kooperationsinteressen der deutschen Industrie einen gewissen Rückhalt für Orbán bei der Zentralmacht der EU.

In Frage gestellt

Durch die jüngsten Proteste in Ungarn wird dieses Modell nun erstmals in Frage gestellt. Bereits gegen das neue Überstundengesetz ging die Opposition in einer bislang für Ungarn nicht üblichen Breite und Einigkeit auf die Straße. Im Dezember erkämpften die Arbeiter im Daimler-Werk in Kecskemét eine Erhöhung ihrer Löhne um 22 Prozent in diesem und um weitere 13 Prozent im kommenden Jahr. Der aktuelle Streik bei Audi in Győr erhöht den Druck, die Sonderprofite deutscher Konzerne im Orbán-Ungarn zu reduzieren, ein Stück mehr.

[1] IHK Bayern, Außenwirtschaft Austria: Exportbericht Ungarn. Wien/Nürnberg, Dezember 2018.
[2] András Szigetvari: „Ohne Einwanderer mehr Überstunden“. derstandard.at 18.12.2018.
[3] Alfons Frese, Henrik Mortsiefer, Thomas Roser: „Sklavengesetz“ hilft deutschen Autobauern. tagesspiegel.de 08.01.2019.
[4] S. dazu Nation ohne Grenzen, Der nationale Schulterschluss und Die Ära des Revisionismus (III).

Der Originalartikel kann hier besucht werden