Die frühere Parlamentspräsidentin von Katalonien, Carme Forcadell, sitzt seit fast einem Jahr im Gefängnis. Die spanische Justiz wirft ihr Rebellion vor. Sie wartet auf ihren Prozess, der zum europäischen Politikum werden dürfte.

Zu den Regionalwahlen im Dezember 2017 empfing Carme Forcadell Journalisten in einem mit Edelholz eingerichteten Büro. Fotos auf einem Wandregal erzählten vom unermüdlichen Einsatz der damaligen Parlamentspräsidentin für ihr geliebtes Katalonien. Jahrelang hatte Forcadell die Massen als Vorsitzende der ANC, eine der größten Bürgerorganisationen, die sich für die Unabhängigkeit einsetzt, begeistert. Bei den Wahlen 2015 verkörperte sie den Traum vieler Unabhängigkeitsbefürworter von gelebter Demokratie als sie als Aktivistin in das höchste Amt der Volksvertretung gewählt wurde. Für viele Gegner blieb sie ideologisch „zu unflexibel“.

Jetzt sitzt Carme Forcadell in einem grauen Zweiteiler hinter einer Glaswand und spricht hastig in eine Telefonmuschel, als ob sie Sorge hätte, eine Gefängniswärterin könnte sie ihr aus der Hand nehmen.

Das Gefängnis Mas d’Enric, wo Forcadell seit Juli 2018 in Untersuchungshaft sitzt, wurde 2015 eingeweiht. Rund 700 Männer und 30 Frauen sitzen hier lange Haftstrafen, oft wegen Gewaltverbrechen und Drogendelikten, ab. Trotz der modernen Ausstattung überwiegt der Eindruck des nüchternen grauen Betonbaus. Im Schleusenprinzip durchquert der Besucher acht Sicherheitstüren aus Stahlgittern, mehrere Gänge, zwei Gebäude und einen großen leeren Platz, um in den Gesprächssaal von gefühlt einhundert Glaskabinen zu gelangen.

Es ginge ihr den Umständen entsprechend, sagt Carme ins Telefon. Dabei wirkt sie zerbrechlich. Jeden der inzwischen mehr als 280 Tage, die sie in Untersuchungshaft ist, hat sie auf einem Papierkalender durchgekreuzt. „Wie beim Militär“, scherzt sie trocken. Dieses für männliche Häftlinge konzipierte Gefängnis in der Nähe von Tarragona sei besonders hart. Sie habe es gewählt, weil es das einzige in der Nähe ihrer 90-jährigen Mutter und der Enkelkinder ist.

In Madrid, wo sie seit dem 23. März mit der ehemaligen Ministerin für Arbeit und Soziales, Dolors Bassas, in Haft war, lebten sie in einem lockeren Regime mit offenen Zellen. In Mas d’Enric verbringt Forcadell 16 Stunden am Tag in ihrer fünfzehn Quadratmeter großen Zelle. In der Nacht wird sie eingeschlossen. Die anderen Insassen haben wenig mit ihren Kollegen im Parlament gemeinsam. Hier ist die ehemalige Präsidentin eine Frau unter vielen, die sie als „teilweise sehr aggressiv“ bezeichnet. Im Gefängnisalltag gebe es keinen Unterschied zwischen ihr, in Untersuchungshaft, und den Straftäterinnen.

Angst vor unfairem Prozess

Sollte die 63-jährige im anstehenden Gerichtsprozess gegen die Führungsriege der Unabhängigkeitsbewegung wegen Rebellion verurteilt werden, drohen ihr viele Jahre Haft. Hatte sie nicht mit dem Gefängnis gerechnet, als sie die Anweisungen des Verfassungsgerichts wissentlich ignorierte? „Als ich mich 2015 mit Junts pel Sí (Gemeinsam für das Ja) zur Wahl stellte, hätte ich nie gedacht, drei Jahre später im Gefängnis zu landen“, antwortet Forcadell. Sie habe höchstens mit einer Anklage wegen Ungehorsam gerechnet, aber nie wegen Rebellion. Der friedliche Charakter der Unabhängigkeitsbewegung sei allgemein bekannt gewesen. „Ich habe die Debatte im Parlament erlaubt. Ich habe verhindert, dass die parlamentarische Initiative durch ein Gericht zensuriert wird. Ich kann nicht verstehen, was das mit Rebellion zu tun hat“, sagt sie empört.

„Es gibt offensichtlich ein Interesse daran, dass wir im Gefängnis sind.“

Hat sie Angst? Forcadell antwortet zögernd: „Ich habe Angst, keinen fairen Prozess zu bekommen“. Der Staatsanwalt stütze sich in vollem Umfang nur auf einen Bericht der Guardia Civil. „Sie haben in der Anklage sogar die gleichen Fehler übernommen, zum Beispiel falsche Angaben bezüglich meiner Tätigkeit in der ANC. Dagegen ist keine meiner Aussagen vor Gericht berücksichtigt worden“, erklärt sie. Auch könne sie nicht nachvollziehen, warum ihre Stimme im Parlamentspräsidium mehr Gewicht habe als die ihrer Kollegen, die für genau die gleichen Entscheidungen nur wegen Ungehorsam verklagt werden. Und die lange Untersuchungshaft sei nicht gerechtfertigt.

Forcadell hatte eine Kaution von 150.000 Euro gezahlt, monatelang alle gerichtlichen Auflagen erfüllt. Ihres Erachtens war der Grund, warum sie später dennoch in Gewahrsam genommen wurde, die Fortsetzung ihrer politischen Tätigkeit als Abgeordnete: „Es hatte keinerlei Veränderung der Situation zwischen dem 21. März 2018, als ich als Abgeordnete an der Investitur des Ministerpräsidenten teilnahm und dem 23. März 2018, als ich in Untersuchungshaft kam, gegeben“. Alle fünf juristisch verfolgten Abgeordneten gingen damals in Untersuchungshaft, darunter Jordi Turull, der Präsidentschaftskandidat. „Es gibt offensichtlich ein Interesse daran, dass wir im Gefängnis sind“, sagt Forcadell ins Telefon. Sie sieht sehr müde aus.

Politisierung der Justiz

Forcadells Anwältin, Olga Arderiu, erklärt in einem anschließenden Gespräch, sie halte die Sorge ihrer Mandantin für berechtigt. Sie hätte in ihrer zwanzigjährigen Tätigkeit nie eine derartige Politisierung der Justiz erlebt und bestätigt, es gebe kein rechtliches Argument, warum Forcadell der Rebellion verklagt wird und andere Angeklagte, die die gleichen Entscheidungen trafen, des Ungehorsams. Zudem stütze sich die gesamte Klage auf eine angebliche Gewalt am Tag des vom Verfassungsgericht als illegal erklärten Referendums und den Ausschreitungen vor dem Wirtschaftsministerium am 20. September 2017, die nie in dem Maße vorgelegen habe wie sie im spanischen Strafrecht nach dem Putschversuch von 1981 verankert wurde.

Carme Forcadell sieht einen klaren Grund hinter dieser Anklage: „Ich bin nicht hier wegen meiner Entscheidungen als Parlamentspräsidentin, sondern weil ich die Vorsitzende der ANC war. Das ist der einzige qualitative Unterschied zu meinen Kollegen und aus meiner Sicht die einzig objektive Erklärung.“ Forcadells Anwältin ist überzeugt, es gehe in diesem juristischen Verfahren nicht darum, konkrete Tatbestände auf ein Delikt zu prüfen, sondern um die Desaktivierung der Unabhängigkeitsbewegung und damit ihrer Führung.

Auch Amnesty International in Spanien stellt den Prozess infrage. Die NGO hat angekündigt, die Gerichtsverhandlungen beobachten zu wollen. Vor wenigen Wochen erlitt die spanische Justiz einen Rückschlag vor dem EGMR in Straßburg, das dem baskischen Separatisten Arnaldo Otegi Recht gab, er habe in Spanien keinen fairen Prozess erhalten. Forcadell und ihre Verteidigung setzen große Hoffnungen in die europäische Justiz. Forcadell ist überzeugt, dass sie von den spanischen Richtern verurteilt wird. „Ob drei oder siebzehn Jahre, ich werde verurteilt.“

Gerichtsprozess wegweisend

Von der europäischen Politik jedoch fühlten sich viele Katalanen und Katalaninnen im Stich gelassen, sagt Forcadell. Zwischen dem 1. Oktober 2017 und der symbolischen Unabhängigkeitserklärung am 27.10. hofften sie auf Unterstützung aus Brüssel, die ausblieb. „Unsere Bewegung war stets pro-europäisch und wir glauben, dass unsere Selbstbestimmung unser Recht ist. Die EU sollte uns nicht bei der Unabhängigkeit unterstützen, aber bei der Ausübung unserer Rechte“, erklärt die ehemalige Parlamentspräsidentin.

Forcadell hält die anstehende Gerichtsverhandlung gegen die Führung der Unabhängigkeitsbewegung für wegweisend: „Es wird um unsere Meinungsfreiheit und unsere ideologische Freiheit gehen. Diese Rechte werden das erste Mal seit der spanischen Demokratie vor Gericht gebracht. Das sollte Angst machen“. Zur Causa, der Unabhängigkeit, sagt Forcadell: „Es geht längst nicht mehr um die Unabhängigkeit, es geht um unsere Freiheiten und Rechte. Die Gesetze können sich ändern, aber unsere Rechte sind unantastbar. Ansonsten gehen wir als Gesellschaft rückwärts. Ich weigere mich, das hinzunehmen.“

Umerziehung und Resozialisierung

Die politische Lage in Katalonien bleibt allerdings weiterhin durch eine fehlende gemeinsame Strategie der Unabhängigkeitsparteien gekennzeichnet. Dennoch fühlt sich Carme Forcadell in ihrer Gefängniszelle nicht allein gelassen: „Wir sind alle Menschen. Die Unterdrückung wiegt schwer. Ich verurteile niemanden dafür, was er tut oder nicht tut angesichts dieser Repression“, sagt sie. Jetzt wüssten die Menschen, was der Preis sei. „Im Gefängnis zu sein, bedeutet, den Menschen, die du liebst, nicht nah sein zu können“.

Allerdings glaubt sie, dass ihre Situation und die ihrer inhaftierten Mitstreiter mehr Menschen in Katalonien und auch in Spanien einigen kann: „Viele sind gegen die Repression, auch Gegner der Unabhängigkeit. Achtzig Prozent wollen weiterhin ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben. Ich glaube, es ist nie zu spät für den Dialog.“ Aber sie habe keinerlei Motivation, zur Märtyrerin zu werden. „Ich will meine Freiheit zurückgewinnen und bei meiner Familie sein“ antwortet sie pragmatisch.

„Auch die Gefängniswelt wird von Männern dominiert. Nur wenn wir uns gemeinsam stark machen, können wir die Dinge ändern.“

Die einfachen Leute unterstützen sie. Seit Monaten spielt Oscar Cid auf seinem Saxophon jeden Abend um 19 Uhr für sie vorm Gefängnis. Carme kann seine Musik zwar nicht hören, aber Oscar erklärt gerührt, wie sie ihn im Gefängnis empfangen habe, um ihm für seine Geste zu danken. Ein Dutzend Unterstützer jeden Alters kommen hinzu. Sie gehören den Komitees zur Verteidigung der Republik (CDRs) an. Ein älterer Mann mit Bierbauch besprüht fachmännisch gelbe Westen mit der Estelada, der katalanischen Unabhängigkeitsflagge. Sie wollen für die katalanische Republik weiterkämpfen.

Auch einige Politiker wie der ehemalige Regierungschef Carles Puigdemont, in Belgien im Exil, geben sich kämpferisch. Puigdemont hat einen Rat der Republik mitgegründet, der von Waterloo aus die katalanische Republik promovieren soll. Den medialen Auftritt in seiner Heimat nutzte er, um eine Botschaft Richtung Madrid und die eigenen Reihen zu senden: „Uns können sie nichts mehr anhaben. Wir haben keine Angst und werden ohne die Einschränkung unserer Meinungsfreiheit agieren“. Sein Amtsnachfolger, Quim Torra, unterstützte Puigdemons Diskurs: „Wir sind zu allem bereit, um unsere Freiheit zu erlangen“.

In der Zwischenzeit kämpft Carme Forcadell im Frauentrakt von Mas d’Enric um so mondäne Dinge wie einen Fön, den es in Männergefängnissen nicht gibt. Oder Farbe, um eine Wand mit einem grünen Wald zu bemalen. Sie hält diese Aktivitäten für die inhaftierten Frauen für wichtig. „Auch die Gefängniswelt wird von Männern dominiert. Nur wenn wir uns gemeinsam stark machen, können wir die Dinge ändern“, sagt sie bestimmt.

Beim Verlassen des Gefängnisses erinnert ein groß an die Wand geschriebener Auszug aus der spanischen Verfassung den Besucher an den Zweck der Haft: „Die Strafen mit Freiheitsentzug und Sicherheitsmaßnahmen dienen der Umerziehung und der Resozialisierung“.

Redaktioneller Hinweis: Das Interview mit Carme Forcadell erschien in einer gekürzten Fassung erstmals unter der Überschrift „16 Stunden auf 15 Quadratmetern“ in der Wochenzeitung Der Freitag (Ausgabe 01/2019). Die aktualisierte und ungekürzte Version wurde von unserem Medienpartner Neue Debatte übernommen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden