Harald Haarmann ist deutscher Linguiste, Kulturwissenschaftler, Verfasser von mehr als 50 Büchern und ein wahres Sprachgenie. Mit ihm habe ich mich über Themen wie Frieden, Gleichberechtigung der Frau und über seine Studien zu Alteuropa unterhalten.
Was bedeutet für Sie die Gleichberechtigung der Frau?
Gleichberechtigung der Frau bedeutet für mich die rechtliche Gleichstellung mit dem Mann, soziale Entscheidungsfreiheit (z.B. freie Wahl des Partners, sei es in freier Partnerschaft oder Ehebündnis), gleiche Bedingungen in der Schul- und Universitätsausbildung, gleiches Lohnniveau wie das des Mannes im Berufsleben, gleiche Aufstiegschancen wie der Mann, bis in die Leitung von Wirtschaftsunternehmen und in die politische Führungselite.
Es gibt nur wenige Länder, wo die Gleichberechtigung der Frau weitgehend erreicht ist. Dies sind die skandinavischen Staaten, wobei Finnland seit Jahren in der Statistik des World Economic Forum an der Spitze steht. Lediglich was das Lohnniveau betrifft, ist hier noch Nachholbedarf, und die Gleichstellung auch in diesem Punkt wird von Frauenrechtlerinnen in Finnland energisch angemahnt.
Ich habe in meinem Buch “Modern Finland” (Jefferson, NC: McFarland 2016) die Geschichte der Frauenemanzipation in Finnland dargestellt. Diese Geschichte geht bis in die Zeit der Wikinger zurück (und noch weiter in die Prähistorie).
Wie unterstützen historische und kulturhistorische Funde und Studien eine Gleichberechtigung der Frau?
Die traditionelle Darstellung der Weltgeschichte als eine gradlinige Entwicklung hin zum Patriarchat ist ein Klischee, das im Licht der modernen Forschung ausgedient hat.
Die Sozialgeschichte der Menschen war viel variantenreicher, als dies allgemein bekannt ist. In der Welt des eurasischen Schamanismus waren weibliche Schamanen hoch angesehen (hierzu die Studie von Haarmann/Marler “Introducing the Mythological Crescent”, Wiesbaden: Harrassowitz 2008).
Schamaninnen genossen in Altchina während der Ära der Shang-Dynastie besonderes Prestige, und Priesterinnen waren tonangebend bei den Divinationsritualen im Zusammenhang mit den Orakeltexten (ab ca. 1200 v. Chr.). Noch früher als in Altchina spielten Schamaninnen eine wichtige Rolle im Ritualwesen der Leute von Ürümchi in Westchina, am Rande der Taklimakan-Wüste. Die dortige Kultur aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. ist wegen der Mumien bekannt geworden.
Einige der am besten erhaltenen Mumien sind solche von Frauen (begraben in Schamanenkleidung mit rituellen Utensilien), die Mumien von Subeshi. Hierüber handele ich u.a. in einer Studie “Vergessene Kulturen”, die im kommenden Jahr bei Beck erscheinen wird.
Für die frühneolithische Siedlung von Çatalhöyük (die älteste “Stadt” in Anatolien) ist soziale Gleichberechtigung der Frau bezeugt, ebenso für Alteuropa.
Für bestimmte Tätigkeiten in Alteuropa kann man eine Arbeitsteilung (im Sinn einer Gleichberechtigung der Geschlechter) feststellen, so in der Keramikherstellung. Den Männern oblag die Materialbeschaffung (Tonerde) und die Herstellung von Rohlingen, während Frauen die Feinarbeiten leisteten (Glasur und Ornamentierung, sowie auch Beschriftung).
Der Handel über die große Wasserstraße (Donau und ihre Nebenflüsse) lag überwiegend in der Verantwortung von Frauen (hierzu Informationen in meinem Buch über die “Donauzivilisation”, München: Beck 3. Aufl. 2017 mit Hinweisen auf die Sekundärliteratur zum Thema).
Was bedeuten Sprachen für Sie?
Sprachen sind für mich ein Kulturspiegel. Häufig kann die Geschichte von Wörtern oder auch ganzer Terminologien “Bände sprechen” über die kulturelle Entwicklung. Im Wortschatz des Altgriechischen gibt es beispielsweise Wörter wie amilla “friedlicher Wettbewerb” und eirene “Frieden” (auch personifiziert als Göttin).
Diese Kernbegriffe sind keine griechischen Erbwörter (indoeuropäischer Herkunft), sondern alte Lehnwörter aus der Sprache der vorgriechischen Bevölkerung in Hellas, den Nachkommen der Alteuropäer. Die Griechen übernahmen die Begriffe mitsamt ihren Bezeichnungen von denen, die vor ihnen in Griechenland lebten, wohl deshalb, weil sie sich des Werts dieser Begriffe bewusst waren.
Allerdings war die Gesellschaft der Griechen häufig, viel zu häufig, von eris “Rivalität; gewaltsame Auseinandersetzung, militärische Aktion” bestimmt (eris ist ein indoeuropäisches Wort). Wie und wann genau die Griechen lernten, Schiffe zu bauen und aufs Meer zu fahren, lässt sich archäologisch nicht dokumentieren.
Aber die zahlreichen vorgriechischen Lehnwörter der Schiffsbauterminologie (angefangen mit ankyra “Anker”) weisen darauf hin, dass die Nachkommen der Alteuropäer den Griechen dieses Handwerk und das maritime Know-how beigebracht haben.
Analysen hierzu finden Sie in meinen Studien “Roots of ancient Greek civilization”, Amherst, NY: Cambria 2014) und “Wer zivilisierte die Alten Griechen?”, Wiesbaden: Verlagshaus Roemerweg (erscheint im September).
Wofür steht für Sie Alteuropa symbolisch?
Alteuropa (auch “Donauzivilisation” genannt in neueren Studien) steht symbolisch für Errungenschaften mit zeitlosem, bleibendem Wert: soziale und ökonomische Gleichberechtigung, Gleichstellung der Geschlechter, Gesellschaftsleben mit der Maxime friedlicher Kooperation.
Wie gelangen wir über Alteuropa hin in die weite Welt?
Alteuropa ist ein wichtiger Meilenstein (landmark) in der Geschichte der frühen Zivilisationen. Ich habe mich seit Jahren bemüht (in mehreren Büchern und zahllosen Artikeln), Alteuropa vergleichend in den Kreis der anderen alten Zivilisationen der Welt zu stellen und den berechtigten Platz der Donauzivilisation mit anderen Kulturkomplexen zu beleuchten. Es zeichnet sich allmählich eine Belebung der Diskussion über diese Thematik in akademischen Kreisen ab.
Aber die Mühlen der Wissenschaftsrezeption “mahlen langsam” (aber Hauptsache ist, sie mahlen). Immerhin sind einige meiner Gedanken zu diesem Themenkomplex bis in deutsche Schulbücher gelangt. Und für meine “Ausleuchtungen” habe ich aus Frankreich und Italien Literaturpreise bekommen.
Wie können wir durch Studien wie die Ihrigen die Völkerverständigung fördern?
Was mir am Herzen liegt, ist ein Bekanntmachen der Welt und der Errungenschaften Alteuropas, um Augen zu öffnen und um aufgeschlossene Menschen zum Nachdenken zu bringen.
Manchmal sehe ich im Traum, wie Marija Gimbutas mit einer Fackel in der Hand auf mich zukommt, mir diese Fackel übergibt und mich verpflichtet, ihr Werk weiterzuführen. So übernehme ich die Fackel und laufe meinen eigenen Friedensmarathon …