Seit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und der Revolution in Frankreich hat sich die politische Beteiligung kaum entwickelt. Die westlichen Gesellschaften sind weit entfernt von einer Lösung der demokratischen Frage. Warum? Mathieu Aucouturier reflektiert auf die antidemokratischen Gründerväter und die gestohlene Demokratie.

Wir haben uns daran gewöhnt die politischen Systeme des Westens als „demokratisch“ zu bezeichnen, weil wir meinen, dass die Wahl der Regierenden die Souveränität des Volkes gewährleistet. Die zunehmende Missbilligung der politischen Klasse durch die Bevölkerung in diesen Ländern scheint die Grenzen eines solchen Systems aufzuzeigen.

Ob man den Fall der USA im Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) oder den Fall Frankreich während der Revolution (1789) nimmt, das Wort Demokratie wird kaum benutzt; dieser Begriff hat sogar eine sehr abwertende Bedeutung und die Gründerväter unserer repräsentativen Demokratien sind ganz offen antidemokratisch, wie aus gewissen Erklärungen hervorgeht.


„Die Bürger, die sich Repräsentanten nennen, verzichten und müssen darauf verzichten selbst zu regieren: sie dürfen also keinen bestimmten Willen durchsetzen. (…) Wenn sie einen bestimmten Willen aufzwingen würden, dann wäre (Frankreich) nicht dieser repräsentative Staat; es wäre ein demokratischer Staat. (…) Das Volk, ich wiederhole es, in einem Land, das keine Demokratie ist (und Frankreich ist keine solche), das Volk kann weder reden noch handeln, es sei denn durch seine Repräsentanten.“

Emmanuel Joseph Sieyès, Haupttheoretiker der Französischen Revolution, 1789


„Die Demokratie lebt nicht lange. Sie verbraucht sich, sie ermüdet und am Ende stellt sie ihren Betrieb ein. Es gibt keine Demokratie, die nicht im Selbstmord geendet hätte.“

John Adams, zweiter Präsident der USA, 1814


Diese Männer dachten das Volk als Masse von egoistischen und irrationellen Individuen, die die Idee des Gemeinwohls nicht verstehen könnten. Daher soll ihrer Meinung nach eine Wähleraristokratie gebildet werden, bestehend aus einer moralisch und intellektuell höher stehenden Elite, die fähig ist das Volk zu führen; sie legitimieren so ihre eigene Macht.

Am Ende des 18. Jahrhunderts konnte der schwache Alphabetisierungsgrad als Rechtfertigung dafür dienen, das Volk nicht in die direkte Entscheidungsfindung einzubinden; es scheint in der Tat schwierig Leute über Gesetze abstimmen zu lassen, die nicht lesen können, und die daher ein beschränktes Verständnis der Gesetzestexte haben, über die sie abstimmen sollen.

Wenn wir also der Überlegung folgen, dass die Bevölkerung des 18. Jahrhunderts nicht über die notwendigen Mittel verfügte, die eine größere Einbindung ins politische Leben des Landes ermöglicht hätte, dann kommen wir zum Schluss, dass heute mit dem Fortschritt der Alphabetisierung und der Informationstechnologie diese Mittel uns nun zur Verfügung stehen.

Vormachtstellung der herrschenden Klasse

Wie kann man es also unter diesen Umständen rechtfertigen, dass die politische Beteiligung sich seither nicht entwickelt hat (wir sehen hier einmal von den strukturellen Fortschritten ab wie das Frauenwahlrecht oder das allgemeine Wahlrecht – universell, direkt/indirekt -, die die Modalitäten der Beteiligung verändern, aber kaum ihren Grad)?

War dieser geringe Alphabetisierungsgrad, der als Argument für die fehlende politische Beteiligung des niederen Volkes diente, nicht in Realität ein Feigenblatt für den erklärten Willen der Bourgeoisie sich ihre Vormachtstellung zu sichern trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit?

Die Hypothese scheint durchaus glaubwürdig, wenn man bedenkt, dass die Gründerväter der USA niemand anderes waren als 55 reiche Großgrundbesitzer oder Industrielle, die gar nichts davon hielten, dass einfache Arbeiter, die für die Unabhängigkeit der USA gekämpft hatten, nun ein gleichgroßes Stück vom Kuchen einforderten.

Die Heiligsprechung des Wahlakts

Erst im 19. Jahrhundert beginnen die politischen Eliten, sich als demokratisch zu bezeichnen. Sie verstehen, dass sie Stimmen gewinnen können, wenn sie eine Bevölkerung gegen eine korrupte Aristokratie verteidigen, die gerade das Wahlrecht erhalten hat und aus Kleinbauern oder Arbeitern besteht.

In den USA wird Andrew Jackson 1828 der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der sich in seiner Wahlkampagne als Demokrat bezeichnete. In Frankreich übernehmen die gemäßigten Republikaner und die Konservativen das Wort Demokratie bei den Wahlen von 1848 nach der republikanischen Revolution. Innerhalb kurzer Zeit wird der Begriff von allen politischen Lagern übernommen.

Die Demokratie wird heute automatisch gleichgesetzt mit dem Wahlrecht und dem Begriff der Meinungsfreiheit. Es ist amüsant zu sehen, dass Leute, die wenig oder gar nicht politisch interessiert sind, in die Wahlkabine eilen, um ihre Bürgerpflicht zu erfüllen mit dem Eindruck, dass sie dadurch zum Erhalt unserer schönen Demokratie beitragen, und dass sie damit dem Andenken derjenigen Ehre erweisen, die für die Erkämpfung dieser Rechte gestorben sind.

Ein wesentliches Element der Gleichsetzung von Demokratie und Wahlrecht ist in der Tat die Heiligsprechung des Wahlakts, eine emotionale Strategie, die jeglichen Versuch des Nachdenkens zu unterbinden sucht.

Der perfekte Raubüberfall

Von Kindheit an lernen wir, dass das Wählen ein Recht ist, aber auch eine Pflicht, man erzählt uns, dass Menschen gestorben sind, um dieses Recht zu erringen – was falsch ist – und man flößt den Nicht-Wählern schlechtes Gewissen ein; es ist jedoch so, dass der Wahlakt ein magerer Ersatz für Demokratie ist, denn sie bräuchte eine ständige und direkte Beteiligung der Bürger.

Der Raubüberfall ist perfekt: man beraubt das Volk der Macht und bescheinigt ihm gleichzeitig, dass es ihr Besitzer ist und jeder, der das Band zwischen Demokratie und Wahlrecht infrage stellt, zum Beispiel durch Wahlenthaltung wird automatisch unglaubwürdig und als schlechter Bürger hingestellt.

Aber es kommt noch schlimmer: Leute, die demokratisch stärkere Ausdrucksmittel gebrauchen wie das Streikrecht, den Boykott und den zivilen Ungehorsam, werden regelmäßig beschuldigt, die Demokratie in Gefahr zu bringen.

Demokratie im Zentrum der Debatte

Auch wenn wir heute über die notwendigen Elemente einer Demokratie verfügen, sind sie keineswegs hinreichend und zu oft wackelig in ihrer Anwendung, als dass wir von einer echten Demokratie sprechen könnten.

Entgegen der Mehrheitsmeinung sind wir weit davon entfernt die demokratische Frage in unseren westlichen Gesellschaften gelöst zu haben; in dem Moment, wo unsere in Skandale verwickelten politischen Volksvertreter unser täglich Brot geworden sind, und wo die Lüge zur Regel geworden ist, muss die Demokratie im Zentrum unserer Debatten bleiben.

Der Beitrag von Mathieu Aucouturier erschien erstmals bei Gazette Debout.
Mit besonderem Dank an Dr. Susanne Hildebrandt für die Übersetzung.

Der Originalartikel kann hier besucht werden