Während Aleppo beweint, über Walloniens Nein zu Ceta lamentiert und der Krieg im Jemen ignoriert wird, zieht die Nato an den Ostgrenzen der Europäischen Union Truppen zusammen. Ein Kommentar über den Charakter einer Patrone.

Jeder Text benötigt einen Anlass. Er sollte zumindest einen haben. In diesem Fall liefert der Onlineableger einer Tageszeitung das Motiv. Die WELT titelt:

Nato treibt Stationierung von Kampftruppen in Osteuropa voran

Es hätte auch der Tagesspiegel sein können, der vom Nato-Einsatz im Baltikum und über ein Signal an Wladimir Putin schreibt oder die rote Linie für Putin in der Stuttgarter Zeitung.

Die Lesedauer des Artikels in der WELT beträgt drei Minuten. 180 Sekunden kann ich investieren, um zu erfahren, dass die North Atlantic Treaty Organization (Nato) vier Kampfbataillone nach Osteuropa verlegt.

Warum? Weil es, wie es im Text heißt, eine Reaktion auf das Vorgehen von Russland im Ukrainekonflikt sei und weil eben dieses Russland seinen Kurs „militärischer Drohgebärden“ fortsetzt, wie zu lesen ist.

Aufmarschgebiet sind das Baltikum und Polen. Deutschland marschiert mit. Einige Hundert Soldaten ziehen die Knobelbecher an und stehen künftig stramm in Litauen – vorläufig. Niederländer, Norweger, Belgier, Franzosen, Kroaten und Luxemburger sind auch dabei.

Weitere Einheiten der Nato sollen in den Südosten: Rumänien, so steht es in dem Beitrag, wird „an Land eine multinationale Rahmenbrigade führen“. Dann schließt sich die Frontlinie: Man will auch im Schwarzen Meer verstärken.

Was bedeutet defensiv …

Die Worte sind sachlich, die Sätze nüchtern, der Text routiniert dahingeschrieben.Was man in dem Beitrag vergeblich sucht, ist eine kritische Anmerkung, die zumindest den Eindruck hinterlassen könnte, dieser Truppenaufmarsch sei bedenklich, zweifelhaft, vielleicht unheimlich oder sogar falsch. Nichts dergleichen. Keine Kritik.

Wenn im besagten Artikel die Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) dahin gehend zitiert wird, dass die Stationierung der Einheiten „defensiv“ angelegt sei, verbessert es die Lage nicht. Ich möchte aufschreien: Was bedeutet defensiv …

Militärische Operationen mit defensivem Charakter haben das Ziel gegnerische Operationen zu verhindern, zu behindern und nebenher eigene Offensivoperationen vorzubereiten und einzuleiten.

Eine Patrone hat keinen Charakter!

Gibt es defensive Panzerkampfwagen? Sind Jagdflugzeuge defensiv? Wo ist in einer Granate das defensive Element zu finden? Zeigt eine Patrone ihren defensiven Charakter im Munitionsgürtel oder etwa Skrupel nach dem Abschuss, bis das Projektil eine Hirnschale durchschlägt und das schlechte Gewissen sich in der leeren Hülse breitmacht? Eine Patrone hat keinen Charakter!

Der Soldat ist vermutlich gemeint, der den Finger am Abzug hat. Diese mutige und arme Gestalt, die im neuen Europa an einen Platz im Irgendwo gestellt wird, wo es um Kopf und Kragen gehen kann. Der Soldat hat Charakter, unterwirft er sich doch einer Sachlichkeit, die keinen Charakter kennt: Der Kriegsmaschine.

Soldaten sind defensiv, wenn sie dort bleiben, wo sie hingehören: in die Kaserne. Waffen sind defensiv, wenn sie dort bleiben, wo sie hingehören: auf den Schrottplatz.

Das System des Tötens und Murphy’s Law

Nun ist der Einwurf statthaft, niemand wolle eine Auseinandersetzung zwischen Nato und Russland. Totale Vernichtung wäre die Folge. Gott sei Dank lässt sich mit ein paar Bataillonen ohnehin kein Krieg gewinnen. Das stimmt.

Wäre da nicht ein Nachteil: Mit diesen wenigen Einheiten lässt sich ein kriegerischer Konflikt leicht vom Zaun brechen. Natürlich ohne böse Absicht. Wer ist schon per se böse.

Es sind die Fehlerquellen im komplexen System des Tötens, die daneben gehen lassen, was nicht daneben gehen sollte.

Es ist die charakterlose Rakete, die ins falsche Haus einschlägt und es ist die charakterlose Patrone, die versehentlich einen Menschen tötet. Und es sind vor allem charakterlose Menschen, die keine Strategien der Fehlervermeidung vorhalten und von Defensive reden. Es ist ihr Versagen, wenn Murphy’s Law eintritt:

Anything that can go wrong will go wrong.

Von Gunther Sosna für Neue Debatte

Der Originalartikel kann hier besucht werden