Folgenden Augenzeugenbericht eines unserer Leser, der sich zurzeit in Istanbul aufhält, möchten wir wiedergeben. Dem Wunsch des Verfassers, anonym zu bleiben, kommen wir nach (Name der Red. bekannt).

Am Freitag Nachmittag befanden wir uns auf dem Taksim Platz in Istanbul. Ein Hubschrauber flog über uns hinweg. Es war eine gespenstische Atmosphäre.

Gerüchte über einen Staatsstreich seitens Teilen des Militärs, die Regierung des Landes übernehmen zu wollen, wurden später am Freitag Abend bekannt gegeben.

Kurz vor Mitternacht erhielten wir die Nachricht von einem Freund bei TRT, dass Soldaten den Sender gestürmt und den Journalisten befohlen hätten, in Busse zu steigen und nach Hause zu gehen. Die Proklamation der Aufständischen des sogenannten „Friedensrat“ erklärt ihre Gründe für die Entscheidung, das Land übernehmen zu wollen.

In den frühen Morgenstunden des Samstags (01:35 Uhr) hören wir den Ruf des Muezzin der nahegelegenen Moschee auf dem Taksim Platz. Aber dies ist keine Zeit zum Beten. Er ruft die Menschen zur Demonstration gegen den Coup auf, der in den vorangegangenen Stunden lanciert worden war.

Gewehrschüsse sind zu hören. Die Bosporus-Brücke und die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke sind von den Aufständischen gesperrt worden. Europa und Asien sind voneinander abgeschnitten. Menschen fliehen von den Plätzen, um Schießereien und Tränengas zu entgehen. Feuergefechte auch in Ankara.

Nach den andauernden terroristischen Attacken und so vielen Opfern in den Straßen und auf den Plätzen intensiviert dieser Coup den alltäglichen Terror und die Unsicherheit der letzten Monate. Es wird Gewalt geben. Aber für wie lange? Für zwei Tage? Für mehr?

Die Liste „seiner“ Feinde ist lang; Schreckensszenarien überall. Wir erhalten eine sms vom Staat, während die Moscheen die Menschen über Lautsprecher dazu aufrufen, auf die Straßen zu gehen. Was ist das für ein Staatsoberhaupt, der seine Bürger ins Chaos schickt?

Kurz darauf sehen wir eine fanatische Menge, die jeden attackieren könnte, der anders denkt, und die aber im Namen der Demokratie und Erdogans herumschreit. Es scheint so absurd, aber ist dennoch wahr.

Mehr Hubschrauber fliegen nun tief über uns hinweg. Es ist eine endlose Nacht. Durch die Fenster hindurch hört man Schießereien. Wir machen Tee. Das Telefon klingelt ständig. Freunde, Menschen aus unserem Land, die sich ebenfalls in der Türkei befinden, Auslandskorrespondenten und Konsulatsangestellte tauschen Informationen und Gedanken aus, reden über Pässe und stornierte Flüge.

Gegen 4 Uhr morgens beschließen wir, uns auszuruhen. Zehn Minuten später werden wir durch einen lauten Knall geweckt, das Herz bleibt uns fast stehen. Wir dachten erst, es wäre eine Bombe, aber es war ein Militärflugzeug, das so tief flog, dass die Fensterscheiben der uns umgebenden Häuser zerbrachen und unsere eigenen erzitterten. Wir atmeten tief durch. Ein zweiter Knall, ziemlich nahe. Wir packen unsere Sachen und gehen in den Flur, weg von den Fenstern, wo wir bis zum Morgen bleiben.

Am nächsten Tag lesen wir, dass 6.000 Soldaten und circa 3.000 Justizbeamte festgenommen wurden, für Opfer („Märtyrer“), die Erdogan unterstützen, für Köpfungen von Erdogans Unterstützern auf der Bosporus-Brücke.

Nichts ist vorbei. Im Gegenteil, diejenigen, die bereits durch das Regime gefährdet sind, warten nun auf die große Welle an Obskurantismus; sie spüren sie in jeder Pore.

Die fanatische Menge schwingt rote Fahnen und bläst in Hörner, für weitere zwei Tage, bis zum Umfallen. Sie zeigt ihre Zähne und spuckt mit Worten wie „Sieg“ und „Demokratie“ um sich.

„Das wirst Du nicht vergessen“ sagt ein Freund neben mir. Natürlich, das werde ich nicht vergessen.