Vom Herrmannplatz bis zur Yorckstrasse wälzten sich letzten Sonntag die Massen. In erster Linie junge Leute, viele extra angereist, um dieses Event, das inzwischen wie ein Ersatz für die Love Parade geworden zu sein scheint, ausgiebig zu feiern. Es wurde getrunken, gegessen, die Müllberge häuften sich. Ein Potpourri aus lauten Musikklängen und schwitzende Groovende tun ihr übriges, so dass man sich beim ersten Anblick am liebsten sofort wieder in die überfüllte U-Bahn zurückretten und verschwinden möchte. Hat man allerdings eine Mission und lässt sich auf das Gewimmel ein, nimmt Kontakt zu den Zuschauern und Leuten auf den Wagen auf, dann gerät man schnell selbst in das Fieber der multikulturellen Vereinigung.

Pressenza hat dieses Jahr den Wagen vom YAAM, der zusammen mit den Lampedusa-Flüchtlingen gestaltet worden war, begleitet, und dabei ein paar Meinungen zu der Lage der Flüchtlinge eingesammelt. So wollten wir wissen, was die Zuschauer und Mitlaufenden denken bezüglich des Aufenthaltrechtes für die Lampedusa-Flüchtlinge, was sie meinen, was die EU tun sollte im Mittelmeer und ob sie Ideen haben, was jeder einzelne von uns beitragen kann. Natürlich ist so eine Umfrage nicht im geringsten repräsentativ für die Allgemeinbevölkerung, denn zum einen gehen vermutlich vor allem Menschen zum Karneval der Kulturen, die offen gegenüber Menschen anderer Kulturen eingestellt sind. Zum anderen haben viele unserer Interviewpartner sich bereits beruflich mit Flüchtlingen beschäftigt und daher eine sehr dezidierte Meinung.

Bekämpfen von Vorurteilen und Öffnen legaler Einwanderungswege

Corinna aus Berlin zum Beispiel ist Journalistin und hat daher Kenntnis von der Lampedusa-Bewegung in der Stadt. Für sie ist es ein komplexes Thema und sie findet es schwierig, eine einfache Antwort zum Aufenthaltsrecht in Deutschland zu geben: „In Berlin und Deutschland gibt es Dutzende Situationen, die der der Lampedusa Flüchtlinge in Berlin ähneln, aber die definitiv versteckter sind. Von sehr vielen Flüchtlingen, die momentan in Berlin leben, bekommen wir garnichts mit. Dieselben Rechte sollten all diesen Menschen zugesprochen werden, aber es ist schwierig zu sagen, ob wir allen Aufenthalt bieten können.“ In ihrer Position als Journalistin trägt sie ein wenig zum Verständnis zwischen Flüchtlingen und dem Rest der Gesellschaft bei: „Als Journalistin versuche ich so viel wie möglich mit den Menschen über das Flüchtlingsproblem zu reden. Meine persönliche wie professionelle Selbstverpflichtung besteht darin, korrekte Information über Migranten und ihre Situation zu verbreiten, um einige der Vorurteile auszuräumen, die die öffentliche Debatte über Zuwanderung kontaminieren.“ Aber auch lokales Engagement ist für sie wichtig: „Vorurteile gegen Migranten beeinflussen die Integration und die gesamte Lebensqualität einer Stadt. In meiner Nachbarschaft versuche ich falsche Mythen über Fremde, zum Beispiel in Bezug auf Kriminalstatistiken, zu Fall zu bringen und Beziehungen zwischen Deutschen und Migranten herzustellen.“ Sie hat auch die Eskalation des Problems der Flucht übers Mittelmeer während der letzten Jahre beobachtet: „Ich erinnere mich an die Nachrichten der ersten kleinen Boote, die in Lampedusa angekommen sind und mir ist klar, dass dieses Phänomen dramatisch zugenommen hat während der letzten paar Jahre.“ Corinna macht sich Sorgen über das aktuelle Ausmaß der Situation: „Ich zweifel daran, dass eine einfache, schnelle Lösung gefunden werden kann. In jedem Fall sehe ich das Öffnen legaler Brücken für Flüchtlinge zwischen Afrika und Europa als eine praktikable Lösung, ohne Zweifel jedenfalls eine sehr viel adequatere als die momentane Europäische Migrationspolitik.“

Herzen und Augen öffnen

„Wir sind bereits Teil dieser Gesellschaft“, so knapp und klar drückt Samee, ein 32jähriger Pakistaner, es aus. Das ist der Grund, warum er findet, dass alle Lampedusa Flüchtlinge das Recht haben sollten, in Berlin zu bleiben, jenseits aller bürokratischen Prozeduren. Samee nimmt an der YAAM Karawane am Karneval der Kulturen teil. Er hat aktiv für die Einbindung der Flüchtlinge in ihrer neuen Heimat mitgewirkt. Als Mitglied des Refugee Club Impulse, einer Theatergruppe, die von geflüchteten Menschen ins Leben gerufen wurde, ist er jeden Tag in Kontakt mit den Bedürfnissen und Schwierigkeiten dieser Menschen: „Wir arbeiten jeden Tag mit Flüchtlingen und wissen, wie sie sich fühlen. Und sie fühlen, dass sie unsichtbar sind, dass sie nur wenig anerkannt sind“. Für ihn stellt das Theater ein machtvolles Werkzeug dar, um sie sichtbar zu machen und Brücken zur deutschen Gesellschaft aufzubauen: „Unser Ziel ist es, die Einstellung der Leute zu verändern. Wir wollen den Deutschen zeigen, dass wir ein friedliches Leben führen wollen, genauso wie sie.“ Seiner Meinung nach sollte die Position der EU zur Situation der Flüchtlinge, die das Mittelmeer überqueren, sich auf die Menschenrechte fokussieren: „Es ist eine Tatsache, dass die Menschen migrieren, aus Libyen und so weiter, und sie werden das weiterhin tun. In diesem Szenario sollte Europa das Leben der Menschen an erste Stelle setzen, danach können sie anfangen, Gesetze zu machen.“

Maya, die sich ebenfalls beim Refugee Club Impulse engagiert, darüber hinaus im Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in der Motardstrasse arbeitet, kann keine schnelle Antwort auf die Frage nach der Legalisierung der Lampedusa Flüchtlinge geben. Sie erinnert, dass das Asylsystem, so wie es momentan in Kraft ist, so funktioniert, dass individuell über die Asylgründe entschieden wird. Dementsprechend müsse das System geändert werden, wenn man Gruppen einen Aufenthaltsstatus geben möchte. Dann könne dieses Recht auch anderen Gruppen als den Lampedusa Flüchtlingen zugute kommen. Auch bei der „Mittelmeerfrage“ plädiert sie dafür, eine grundauf überdachte Asylpolitik zu entwickeln. Zum anderen solle man den Flüchtlingen, die hier Schutz suchen, besser zuhören, aus welchen Situationen sie kämen. Europa trage meist Verantwortung dafür. Im Bezug darauf, was wir tun könnten für die Menschen, die hier angekommen sind, sagt sie „Herzen und Augen öffnen“ und ebenfalls zuhören, was sie bräuchten. Generell würde immer zu viel über und zu wenig mit Flüchtlingen gesprochen werden.

Berlin ist so offen! Schau Dir diese Ausgelassenheit an!

Eine 25 Jährige aus Hamburg ist zusammen mit Freunden aus Los Angeles am Karneval der Kulturen. Sie erklärt, „Die sollen alle rein kommen, die Grenzen müssen geöffnet werden!“ Etwas genauer geht sie dann darauf ein, dass sie findet, die Europäischen Staaten sollen doch lieber einmal die Gründe für Migration bekämpfen, mit denen sie ja viel zu tun hätten. Ihr amerikanischer Freund ist durch den farbenfrohen Umzug total euphorisiert und ruft aus: „Berlin ist so offen! Schau Dir diese Ausgelassenheit an!“ Natürlich müssten die Flüchtlinge legalisiert werden. Deutschland sei ein Land mit vielen Einwohnern und könne viele Einwanderer verkraften.

Der 20jährige Björn, der erst vor kurzem für sein Studium nach Berlin gezogen ist, spricht sich ebenfalls für ein Aufenthaltsrecht der Lampedusa Flüchtlinge aus. Um die Todesfälle im Mittelmeer zu verhindern, solle die EU als erstes wieder eine Seenotrettung aufbauen und desweiteren eine legaliserte Einreise der Flüchtlinge ermöglichen, damit sie nicht mehr diese gefährlichen Routen wählen müssen. Persönlich solle man hier für die Flüchtlinge spenden und demonstrieren gehen. Sehr wichtig findet er, gegen die Ausgrenzung von Zuwanderern vorzugehen: „Da sind sie so weit und gefährlich gereist und müssen dann hier ein Leben in Diskriminierung führen!“

Interviews und Text: Natalie Ribés, Gianluca Iori, Johanna Heuveling

Fotos: Caroline Schenck