Diese Kolumne von unserem italienischen Pressenza-Redakteur Luca Cellini über die italienische Verfassung möchten wir auch den deutschsprachigen Lesern von Pressenza zugänglich machen. Insbesondere, da Deutschland über keine Verfassung verfügt, sondern nur über ein Grundgesetz, das von den drei westlichen Besatzungsmächte erarbeitet, ohne Volksabstimmung eingeführt wurde und nicht als dauerhafte Verfassung gedacht war.

Vor 70 Jahren überlebten unsere Väter einem Krieg, der ganze Länder zerstörte, der Völker vernichtete, der über 50 Millionen Opfer forderte und bei dem es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zum Einsatz der Atombombe gegen die Zivilbevölkerung (Hiroshima und Nagasaki) kam.

Vor 70 Jahren hatten unsere Väter und Großväter so viel an Gewalt miterlebt, dass sie sich bei ihren eigenen Leben schworen, zukünftige Generationen sollten nie wieder an den Schrecken und dem Wahnsinn des Krieges teilnehmen müssen, am Kampf von Mensch gegen Mensch, an Rassismus, an Diskriminierung und brutaler Gewalt, ausgeübt von den Stärksten an den Schwächsten.

Und so, in der Seele und im Bewusstsein zutiefst gezeichnet, aber endlich in Frieden, fanden sich überlebende Männer und Frauen zusammen, um den Frieden zu feiern. Sie sahen sich tief in die Augen und überwanden ihrer scheinbaren Differenzen, die ideologischen Gräben die sie trennten, und erkannten der eine im anderen die gleiche menschliche Wurzel, sie erkannten dass sie alle in einem gemeinsamen Haus wohnten, sie prägten sich diesen Moment in ihrem Bewusstsein ein und auch die Gewissheit, dass der einzig mögliche Weg, der vor ihnen lag, der des gemeinsamen und friedlichen Teilens der gleichen Erde war, die sie beheimatete.

So schlossen sie einen Pakt und gaben sich ein Versprechen… Niemals wieder Krieg! Niemals wieder Gebrauch von Waffen! Niemals wieder Gewalt! Niemals wieder Diskriminierung! Und um dieses Versprechen niemals zu vergessen, schrieben sie die italienische Verfassung.

Die Verfassung ist ein feierlicher Pakt, geschlossen von freien Frauen und Männern mit gutem Willen, er ist eine gemeinsame Wurzel, gepflanzt von Gläubigen und Nicht-Gläubigen, Arbeitern und Unternehmern, Studenten und Angestellten, von Wohlhabenden und weniger Wohlhabenden, Konfessionslosen und Christen, Kommunisten und Republikanern, Liberalen und Sozialisten, Konservativen und Progressisten, er spricht über uns, die wir die Söhne und Töchter dieser Verfassung sind, er spricht von Liebe, Gewaltfreiheit, von Nicht-Diskriminierung, von Rechten, von Humanität, vom Humanismus, von Respekt, gegenseitigem Verstehen, von Kenntnis, von Bewusstsein, von Bildung, von Gleichheit, von Solidarität, er spricht von Umverteilung von Vermögen und vom Akzeptieren des Anderen mit all seinen zu schätzenden Unterschieden. Er spricht vom gegenseitigen Annehmen…

Sie wurde von denen geschrieben, die Hunger, Bomben, Verfolgung, Exil und Gewalt ohne Ende widerstanden und auch den 25 Jahren eines einzigen herrschenden Gedankens.

Sie wurde mit der Leidenschaft, der Kraft und der Intelligenz geschrieben, die jemand besitzt, der tiefgehend über das Leben nachgedacht hat, der dem Tod ins Gesicht gesehen hat, sie wurde geschrieben, um ein Land wiederaufzubauen und das, was nach 5 Jahren absoluten Horrors und 20 Jahren materieller, ideologischer und schleichender Gewalt noch übrig war.

Sie wurde für uns geschrieben, als Vermächtnis für ein pazifistisches und friedvolles Zusammenleben innerhalb dieses unseres gemeinsamen Hauses.

Sie wurde geschrieben, indem an alle gedacht wurde, zu einem gewissem Grad auch an die, deren Unterdrückung besiegt wurde und denen als Individuen angeboten wurde, in Frieden zu leben und zu arbeiten, um das Land wieder aufzubauen. Dies ist der Grund dafür, dass unsere Verfassung zutiefst gewaltfrei ist, denn nach dem Krieg und durch die Verfassung wurde ein Schlussstrich unter all die Missetaten der vergangenen 20 Jahre gezogen und es wurde auf Vergeltung und neue Trennungen verzichtet, die uns sonst mit Sicherheit in einen neuen Bürgerkrieg geführt hätten.

Mit der Verfassung wurde ein gemeinsamer Beginn eines neuen Weges vorgeschlagen. Die italienische Verfassung gehört uns, sie ist der Pakt, der uns beschützt, der letzte Schrein, der uns von neuen Kriegen trennt, von neuen Schrecken, neuem Leid und Ignoranz.

Sie ist höchst aktuell, weil sie von öffentlicher Bildung spricht, von gemeinsamen Gütern, von würdevoller Arbeit, von menschlicher Würde, von Respekt uns selbst gegenüber und für die Umwelt in der wir leben.

Diejenigen, die uns jenseits der Dringlichkeit sagen, dass die Verfassung überholt sei, lügen, wohl wissend, dass sie lügen.

Diejenigen, die sagen, dass die Verfassung ein Hindernis für Entwicklung sei, haben wenig Vertrauen in ihr eigenes Herz, sie sind wie Wölfe im Schafspelz, sie sprechen mit trügerischen und verlockenden Worten von der Notwendigkeit wichtiger „verfassungsrechtlicher Änderungen“.

In Wirklichkeit wollen sie zum Recht des Stärkeren zurückkehren, zum Chaos, zur brutalen und mit Waffen durchzusetzenden Gewalt, Geld und Lügen, zu ideologischem Faschismus, der sich in einer einzigen Person ausdrückt, die alles entscheidet und alle anderen in gehorsamen Schweigen und Resignation hinterlässt.

Lassen wir uns vom Anschein derer nicht einlullen, die sich hinter einer scheinbaren Demokratie verbergen, in ihnen ist nichts demokratisches übrig geblieben.

Wir brauchen keine Änderung unserer Verfassung, wir brauchen vielmehr ihre praktische Anwendung und Umsetzung, und zwar durch diejenigen, die uns regieren und die sie ändern wollen.

Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter.