Roberto Mazzini ist Vizepräsident der Cooperativa Giolli, mit deren Hilfe er das Engagement des interaktiven Theaters und Methodenreihe Theater der Unterdrückten unterstützt und vorantreibt.  Das Theater der Unterdrückten verbindet politische Bewusstseinsbildung mit befreiender Pädagogik und nutzt das Theater als öffentliches Forum. Giolli ist einer der Veranstalter des IX. Internationalen Treffens des Forums Paulo Freire, das zur Zeit vom 17. bis 20. September in Turin stattfindet.

Roberto, welche Ziele verfolgt dieses internationale Treffen und wie wird es in groben Zügen verlaufen?

Das Treffen soll die Zusammenarbeit von Einzelpersonen und Gruppen in aller Welt stärken, die mit der Methode Freire (bewusstseinsbildende Pädagogik) im Bereich Erziehung und Bildung arbeiten, auch im Hinblick auf die politische Dimension.

Gewaltlosigkeit, Humanismus, Spiritualität sind die Themen dieses Forums, die damit gefördert werden sollen?

Das Forum stellt Fragen zu unserem Modell des stetigen Wachstums, zur Krise der Globalisierung und den vorangegangenen Formen der Kritik am Kapitalismus (wie dem Kommunismus), die in der Realisierung gescheitert sind. Es möchte insbesondere die Bereiche Kunst, Ökologie, Bildung von Gemeinschaften und Bürgerpartizipation vertiefen.

Wie kann Freire uns helfen, unser Wachstumsmodell zu überdenken und der Enthumanisierung der heutigen Gesellschaft entgegenzuwirken, um Kollektive zu schaffen, die sich sowohl der Risiken, denen wir gegenüberstehen, bewusst sind, als auch der neuen Möglichkeiten, die sich gerade aufgrund der ungeheuren Dimension eben dieser weltweiten Krise ergeben? Die Teilnehmer des Forums werden sich, ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen, mit diesen Themen auseinandersetzten, in einer Begegnung, deren Schwerpunkt auf dem „Lernen von Unten“ liegt, also eine Begegnung all derer, die soziale und edukative Bildung tagtäglich praktizieren.

Aus der eigenen Erfahrung heraus werden sich die Teilnehmer je nach Sachgebiet Schlüsselfragen stellen, und versuchen, mögliche Antworten gemeinsam zu vertiefen. Deshalb ist es auch schwierig,  Ergebnisse vorwegzunehmen, es gibt keine fundamentalen Grundsätze, die es zu lernen gilt, sondern darum, gemeinsames Wissen zu bilden, indem die unzähligen Praktiken der einzelnen Teilnehmer systematisch zusammengeführt werden.

Diese Art der Organisation des Forums stehen im übrigen im Einklang mit den Lehren von Freire und Boal.

Können Sie den ursprünglichen und heutigen Zusammenhang zwischen Freire und Boal, also zwischen der Pädagogik der Unterdrückten und dem Theater der Unterdrückten, in einfachen Worten erklären?

Beide sind im Brasilien der 50er und 60er Jahre geboren, also im selben kulturellen Umfeld, das sich mit der Unterdrückung des Volkes beschäftigte, zielgerichtet auf historische Wahrnehmung und   Ausdruck eigener Werte in der Welt. In der Tat würde ich das Theater der Unterdrückten und die Pädagogik Freires als sich gegenseitig ergänzend bezeichnen, anders ausgedrückt hat Boal Freire „ins Theater übersetzt“.

Es gibt viele Ähnlichkeiten, angefangen von der Grundidee, daß man nicht einfach hergehen kann und andere von seinen Ideen überzeugen, ohne dabei den Hintergrund und Wissensstand derjenigen zu beachten. Eine Wissenserweiterung kann nur in der Begegnung stattfinden, als gemeinsame Anstrengung, nicht aus einer hierarchischen Situation heraus. So lehrt Freire den Analphabeten, das eigene Wissen im Dialog mit anderen zu wertschätzen und zu erweitern, während Boal dazu aufruft, eigene Lösungen zum Thema Unterdrückung zu finden und sich somit vom Ideologischen Theater distanziert.

Leider haben die beiden großen Denker nie direkt an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet, aber die Überschneidungen und Schlüssigkeit in ihrem Denken sind unübersehbar.

In pädagogischen Kreisen wird Freire manchmal als Figur der Vergangenheit angesehen. Worin liegt Ihrer Meinung nach seine Aktualität und Möglichkeit, auf die heutige Welt Einfluss zu nehmen?

Das gleiche gilt auch für Boal, aber ich meine, dass angesichts der Tatsache, dass es immer noch Unterdrückung gibt, beide sehr nützlich bei der Suche nach Wandel und Freiheit sind, vor allem auch, weil beide Methoden kreativ vorgehen, sie wollen nicht die Wiederholung des Festgelegten, sondern eine Aktualisierung und Angleichung an die heutige Welt, die im stetigen Wandel ist. Freire  war immer gegen die Wiederholungen alter Prozeduren und hat sich jedes Mal aufs Neue gefragt, welcher Weg jeweils der geeignetste sei. Boal hat seine Techniken stets der jeweiligen Realität angeglichen, angefangen von Theater der Bilder der peruanischen Indios bis zum Legislativen Theater im Parlament von Rio.

Ich glaube dass beide sehr kraftvolle Instrumente darstellen, weil sie Personen und Gruppen Handlungsfähigkeit geben, nicht indem sie Lösungen anzeigen, sondern durch die Potenzierung der  Möglichkeiten und auch des Willens, diese gemeinsam zu finden.

Weil die Unterdrückung existiert, haben die Pädagogik und das Theater der Unterdrückten einen Sinn.

Weil es maieutische Methoden sind, die das Empowerment stärken, machen sie auch heute Sinn.

Weil sie fortwährend experimentieren, warum also sollte man sie nicht auch auf die heutigen Herausforderungen anwenden?

Mit dem Theater der Unterdrückten verfolgen und koordinieren Sie zahlreiche Bildungsmaßnahmen. Wo müssen Sie da bei ihren Schülern ansetzen, besonders bei den Jüngeren?

Das Bedürfnis, sich auszudrücken, ist groß, es geht hauptsächlich um den Ausdruck eigener Wünsche und Sorgen. Das Bedürfnis, eine eigene Stimme zu haben, ist groß, sowie auch das, die eigene Würde respektiert zu sehen, als Individuum und nicht bloß als Verbraucher wahrgenommen zu werden. Sicherlich fordern das nicht alle, aber der Großteil der jungen Leute schon. Die Neugierde am Theater von Boal und dessen Faszination sind groß, das gilt etwas weniger für Freire, vielleicht weil er mit der Arbeit mit den Analphabeten assoziiert wird, wobei wir durch das nationale Netz Freire-Giolli immer wieder entdecken, dass es viele interessante Realitäten gibt, die von Freire inspiriert wurden, ohne es zu wissen.

Es gilt zu verstehen, dass die Unterdrückung heute eher versteckt existiert, die Distanz zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern vergrößert sich immer mehr und entgleitet uns, deshalb brauchen wir eine Methode, die den Menschen dabei hilft, sich zu orientieren, die Mechanismen und die dahinterstehenden Personen offenzulegen, die unser Leben beeinflussen und die inzwischen in eine Richtung gehen, die alles andere als nachhaltig ist, sei es in physischer, sozialer oder psychologischer Hinsicht.

Letztendlich brauchen wir Hoffnung und Freude am gegenseitigen Austausch von Werten, nicht auf sektiererische, gewaltsame oder dogmatische Weise, sondern als Bejahung notwendiger Entscheidungen, angesichts der Tatsache, dass eine Hälfte der Menschheit im Konsumüberfluss lebt und die andere in Krieg und Elend.

Eines der Themen Freires ist die Bewusstseinsbildung. Können Sie diesen Aspekt beleuchten und wie er sich in der Pädagogik als auch im Theater konkretisiert?

Die Bewusstseinsbildung wird manchmal mit Propaganda oder Aufoktroyieren von Ideen verwechselt, entgegen dem tatsächlichen Gedanken von Freire und Boal.

Bewusstseinsbildung bedeutet zusammen entdecken, eine gemeinsame Suche in Gang bringen. Genau das Gegenteil davon, unsere ach so schöne und in Stein gemeißelte Wahrheit einfach nur den anderen vorzusetzen.

Es bedeutet Hilfe für unterdrückte Menschen, zu entdecken, dass ihr Wissen vielleicht nicht umfassend ist, dafür aber, zusammen mit dem von anderen, in Erkenntnis münden kann, die dann wahre Veränderung möglich macht. Wissen ist Macht, aber wenn Wissen von oben eingetrichtert wird, ist es lediglich ein Instrument zur Beherrschung, nicht zur Befreiung.

Deshalb findet Bewusstseinsbildung im Dialog statt. Freire nutzt hauptsächlich den verbalen Dialog, während Boal den des Theaters nutzt, das heißt der Zuschauer wird mit eingebunden und wird dadurch selber zum Protagonist gegen Unterdrückung.

In beiden Fällen ist der Dialog elementar. Es geht nicht einfach nur ums Reden, sondern vielmehr auch ums Zuhören und Verstehen der Situation der Unterdrückten, der Bedürfnisse aller Beteiligten, der unterdrückenden Mechanismen. Bis hin zum Dialog mit dem Unterdrücker in dieser bestimmten Situation, der bei Zeiten selber unterdrückt wird und dem wiederum geholfen werden kann, indem er sich als Unterdrücker erkennt und davon befreit, manchmal friedlich, manchmal auch durch gewaltfreien Kampf.

Dialog bedeutet mitnichten alles zu akzeptieren, was der andere sagt, nur um des Dialog Willens, er kann auch verbale Auseinandersetzung bedeuten, sowie den Kampf, jemanden zum Dialog zu bringen, wenn dieser anfangs dazu nicht bereit war. In diesem Zusammenhang erinnert uns das auch an Gandhi und die Gewaltlosigkeit.

Weiterführende Links:
Paulo Freire Kooperation e.V.
Paulo Freire Zentrum

Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter