Interview mit Luis Milani über die aktuellen Ereignisse in Lateinamerika.

Víctor Manuel Sánchez: Stehen die sozialen Phänomene wie kürzlich in Argentinien, Chile, und in Ecuador und das, was vor einigen Monaten in Venezuela oder vor mehr als einem Jahr in Mexiko mit der neuen Regierung passiert ist, mit dem, was Silo, Denker und Begründer des Universalistischen Humanismus gesagt hat, in Verbindung. Er weist ja in seinem Denksystem, genannt Siloismus, auf das Phänomen des inspirierten Bewusstseins hin, bei dem Menschen auf gewaltfreie Weise aus der Lethargie erwachen und gegen soziale Ungerechtigkeit rebellieren?

Luis Milani: Wir erleben gerade einen einzigartigen historischen Moment: es entsteht die erste planetarische Zivilisation, die Menschen verbinden sich zu einem psychologischen Volk. Diese neue Welt wird morgen noch nicht voll entwickelt sein, aber wir werden auch nicht Jahrhunderte darauf warten müssen.  Ein schnell fliegender Pfeil, der eine Vermenschlichung mit sich bringt, wurde bereits abgeschossen und seine Richtung ist nicht mehr zu ändern.

Der gegenwärtige Prozess der zunehmenden Globalisierung schafft es erstmals alle Völker und Kulturen zu vernetzen und zu informieren. Die Beschleunigung der geschichtlichen Zeit, die von der technologischen Revolution hervorgerufen wird, prallt auf Landschaften und Blicke, die in einer Zeit entstanden sind, die schon nicht mehr existiert und alle Bereiche des menschlichen Handelns umfasst.

Als Produkt der schnellen und unglaublichen Veränderungen, drehen sich die Zweifel schwindelerregend in unserem Kopf, als würden wir in einem „digitalen Karussell“ der Verwirrung sitzen.

Die Aussicht auf diese neue und erneuerte Welt weckt in uns eine wunderbare Hoffnung, während gleichzeitig in jedem Winkel neue Gewalt entsteht. Die Zeit des Friedens ist noch nicht gekommen, ganz im Gegenteil. Lokale, ethnische und religiöse Explosionen, Migrationen und kriegerische Konflikte in Kriegsgebieten bedrohen die Stabilität. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Aufstände und soziale Ausbrüche und es kommt zu neuen Szenarien, das Phänomen des Terrorismus wird zu einer immer größeren Gefahr, da spezialisierte Gruppen und Individuen Zugang zu den gefährlichsten Waffen haben.

Im gegenwärtigen Prozess der zunehmenden Globalisierung, in dem es endlich gelingen wird, alle Völker und Kulturen zu vernetzen und Feedback zu geben, stößt die Beschleunigung der historischen Zeit, die durch die technologische Revolution hervorgerufen wird, auf Landschaften und Blicke, die in einer Zeit entstanden sind, die nicht mehr existiert und alle Bereiche des menschlichen Handelns umfasst.

VMS: Du setzt dich seit über 40 Jahren für die Verbreitung des Siloismus ein, du hast in Lateinamerika, Europa und Afrika Kampagnen und Aktionen unterstützt. Was sagst du über die Zeit, in der wir jetzt leben, die gekennzeichnet ist von einer wachsenden Gewalt in all ihren Aspekten?

LM: Die Destrukturierung wächst in allen Bereichen und prägt unsere Denk-, Gefühls- und Handlungsweise. Wir werden davon mitgerissen und die Phänomene blenden uns durch ihre äußeren Formen und nicht durch ihre Inhalte, während unsere Fähigkeit zu abstrahieren abnimmt. Sie wird von einer analytischen Funktion ersetzt, die den Prozess oder die Reihenfolge, die ein Phänomen durchläuft, nicht wahrnimmt.

Es ist eine paradoxe Welt, in der die Möglichkeiten scheinbar größer sind, als je zuvor, während gleichzeitig die Ungleichheiten diese Rechte und Möglichkeiten wahrzunehmen auch immer größer werden; Völker und Kulturen schaffen es, sich global zu verbinden, und doch kommt es zu schrecklichen ethnischen Konflikten; Menschen leben konzentriert in großen Siedlungen und doch nehmen dort Einsamkeit und Individualismus zu; das Bewusstsein nimmt unglaubliche Zukunftsmöglichkeiten wahr und sucht dennoch Zuflucht in alten Überzeugungen und Dogmen.

Natürlich werden die Symptome in jeder kulturellen Region von einer Gesamtheit von Überzeugungen und Gewohnheiten begleitet, die zum lokalen Kolorit gehören und die nicht an jedem Ort synchron verlaufen und nicht gleich schnell sind. Das heißt die Phänomene sind an einigen geographischen Punkten offensichtlicher als an anderen. Aber in allen Fällen existiert gleichzeitig in diesem Kampf das Bild einer Welt, die bereits untergeht, und das Bild einer Welt, die unaufhaltsam näher rückt.  Dort findet ein wiederholter, bekannter geschichtlicher Kampf zwischen Konservieren und Verändern statt, zwischen dem Alten und dem Neuen, dem Disput zwischen einer mittelalterlichen Technologie und einer mächtigen und neuen humanistischen Renaissance.

Aber in keiner Weise kann man die aktuelle Krise als den finalen Zerfall sehen. Ganz im Gegenteil: es kann keinen bedeutenden Fortschritt ohne bedeutende Krisen geben und in diesem Zusammenhang taucht gleichzeitig eine neue Sensibilität auf und eine Erweiterung des Bewusstseins, die den neuen Zeiten entspricht.

Wir erleben die Auflösung von früheren Formen und Inhalten und dies geht einher damit, dass der Mensch die „Kleider“ ablegt, die ihm zu klein geworden sind. Ohne Zweifel durchläuft der Mensch, trotz den schlimmen Tragödien und der aktuellen Krise, einen Prozess, in dem er wächst. Dieser Kampf und diese Reibung von Gefühlen, die von der Struktur dieser Vorstellungen aus verschiedenen Zeiten, die sich kreuzen, geschaffen wird, bringt die aktuelle und unglaubliche psychosoziale Krise mit, die wir gerade erleben.

In der Geschichte haben Völker oder Zivilisationen an einem ähnlichen Scheideweg gestanden, aber heute befindet sich die gesamte Spezies, aufgrund der fortschrittlichen Kommunikationsmöglichkeiten und der Globalisierung, an diesem Punkt. Wie in den besten Science Fiction Geschichten wird die individuelle und gesellschaftliche Vorstellungskraft von Spekulationen gefördert, die einen Fächer an riesigen „Gefahren“, „Toten“, „Rettungsmöglichkeiten“ und vorstellbaren „Wegen zum Glück und Wohlbefinden“ aufzeigen.

Es ist keine partielle Krise, die sich auf einen bestimmten Sektor der Gesellschaft beschränkt, wie zum Beispiel auf den politischen, wirtschaftlichen Sektor oder auf die Kunst oder Religion, es handelt sich hingegen um eine strukturelle und globale Krise. Sie scheint sich auch nicht auf den Westen zu beschränken, sondern weitet sich auf alle Kulturen, auf die menschliche Zivilisation im Allgemeinen aus. Aber diese Krise sollte, wie schon gesagt, nicht im tragischen Sinne interpretiert werden.

Die Krise zeigt das Ende eines Prozessmomentes an, das Ende einer Bedingung, und sie weist auf eine radikale Veränderung der menschlichen Zivilisation hin, auch wenn diese komplex und schwierig ist. Auch wenn sie Gefahren und Bedrohungen birgt, beinhaltet sie ein Wachstum und einen Fortschritt für den Menschen.

Die Krise entsteht, weil der Mensch große Schritte nach vorne gemacht hat, aber wenig von dem was er tut, stellt ihn völlig zufrieden. Es handelt sich hier um ein System, dass die Notwendigkeiten des Menschen der zukünftigen globalen Zeit nicht mehr abdecken.

Schauen wir uns ein paar Beispiele an. Alle Korruptionsfälle, die ans Licht kommen, die fest installierten politischen Eliten, das Militär, die Wirtschaft; die Privilegien und Gewinne, die einige auf Kosten anderer machen, indem sie diese ausbeuten oder diskriminieren, das alles ist nicht erst jetzt entstanden. Jetzt beginnt man sich energisch dagegen auszusprechen und dank dieser Einfindung, dank dieses neuen Blicks, ist das erst möglich.

Auf unserem Weg gab es negative Tendenzen, die sich mit der Zeit verstärkt haben und die wir erst heute sehen können, die erst jetzt transparent sind und die heute allen vors Auge geführt werden. Die Tatsache, dass das Bewusstsein diese Dinge alle sieht, die man bisher vorzugsweise im Dunkeln ließ, beinhaltet nicht nur einen neuen und veränderten Blick, der zum Beispiel die Heuchelei erkennt, sondern spricht auch ohne Zweifel von einem Wachstum des menschlichen Bewusstseins. In diesem Sinne können wir bestätigen, dass ein größeres Bewusstsein sehen kann, was vorher unmöglich schien.

Auf diesem leuchtenden Pfad verändert der Mensch nicht nur die berührbare Welt, sondern er sucht auch, desillusioniert in seinem Inneren, neue Formen der Spiritualität, die auf tiefere Fragen Antwort geben. Eine neue Zivilisation wird geboren und in ihr wird der höchste Wert der andere Mensch sein.

VMS: Wie siehst du die Zukunft? Glaubst du es gibt einen Ausweg aus der Gewalt und was ist dein Vorschlag?

LM: Unsere Herzen können noch nicht erfassen, woher wir kommen oder wohin wir gehen, noch was der Sinn der Veränderungen ist, die uns bevorstehen. Aber wir haben begonnen ein universelles Fresko zu malen, welches eine besondere Sensibilität mit sich bringt, die man am besten folgendermaßen beschreiben kann:

  • Der Wert der Gerechtigkeit, bei der man die Subjektivität und die unberührbaren Dinge mit in Betracht zieht. Als gerecht wird jede Handlung gesehen, die dem Menschen ermöglicht seine Fähigkeiten ganzheitlich zu verwirklichen und seine eigene Persönlichkeit, ohne Vorurteile der anderen, zu bilden. Jede Handlung wird als ungerecht betrachtet, die die Freiheit der Wahl und andere essenzielle Rechte des Menschen ablehnt.
  • Nächstenliebe, verstanden als die Fähigkeit den Schmerz des anderen als eigenen Schmerz zu verstehen und die Absicht jeweils Hilfe oder Unterstützung zu leisten. Die anderen so empfinden, als seien sie man selbst, das ist die Haltung, die es erlaubt Feindlichkeit und Intoleranz zwischen Gruppen zu überwinden. Dies fordert uns ab, die Gewohnheit Menschen in nahestehende und weit entfernte Menschen einzuteilen, abzulegen.
  • Die Liebe als die psychologische Kraft bei der Handlung: Die geschwisterliche Liebe als Tendenz, die es erlaubt sich solidarisch mit den anderen auf der Grundlage ein und derselben menschlichen Würde zu verbinden. Aus dieser Haltung heraus nehmen viele Männer und Frauen an vielen Demonstrationen teil, obwohl sie von dem Thema gar nicht betroffen sind.
  • Kooperieren und Nachsinnen: Neue Beziehungen entstehen in einem Prozess einer neuen gemeinsamen Aktivität, in der die Ergebnisse gemeinsamer Aktionen angeregt und vervielfältigt werden. Extremer Individualismus wird abgelehnt, man ist sich der Folgen der eigenen Handlungen und der persönlichen Verantwortung in diese Richtung bewusst. Es gibt weniger dialektische Inhalte. Es gibt nicht nur Himmel und Hölle.
  • Freiwillige Arbeit: Mit Enthusiasmus bei der Sache, ohne sich darum zu kümmern, was man dabei gewinnt, oder ob man dabei etwas gewinnt. Die uneigennützige Handlung. Es geht nicht um Bezahlung, die Konsumkultur rückt in den Hintergrund, im Sinne einer Kultur, die einen Austausch von Gütern und Handlungen antreibt. Loslassen des Persönlichen. Eine Haltung zu helfen, altruistisch.
  • Eine erneuerte Art der Dialektik der Generationen, die die progressivsten Elemente der vorherigen Generationen einschließt.
  • Wachsende Gleichheit der Geschlechter, die Menschen werden in Theorie und Praxis immer mehr gleichbehandelt.
  • Kraft, die entsteht, wenn man gemeinsam mit anderen für eine andere Zukunft kämpft. Es ist nicht dasselbe zu denken, der Mensch würde sein Leben passiv verbringen, als eine Antwort auf die Bedingungen und Ereignisse, die ihn umgeben, als zu glauben, der Mensch würde diese Bedingungen und Ereignisse absichtlich verändern und schaffen. Die einheitliche und verändernde Handlung in der Welt produziert Kraft, anstatt zu erschöpfen. Zum Beispiel nicht mit der verfallenden Moral übereinzustimmen.
  • Die Suche nach neuen Formen der Entscheidungsfindung, Brüderlichkeit, flache Hierarchien und Nichtdiskriminierung werden bevorzugt. Die Suche danach zeigt sich darin, dass ein gegenseitiges Verständnis und eine Angleichung von Interessen und verschiedenen Meinungen durch Überzeugen und Verhandeln gesucht werden, eine erneuerte Toleranz.
  • Eine größere Klarheit über die Verantwortlichen der Krise: Man beobachtet eine wachsende Identifizierung und Vereinheitlichung der Konflikte und entlarvt damit das System als eine Gesamtstruktur und nicht in Teile zerlegt, die keine Verbindung miteinander haben.
  • Auf der individuellen Ebene, insbesondere in den jüngeren Generationen, zeigt sich die tiefe Suche nach neuen Bezugspunkten, die keine Vorgeschichte haben.
  • Bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit kann man Unterschiede zwischen den traditionellen Kommunikationsmedien, den Netzwerken und den digitalen Medien ausmachen. Eine neue Haltung gegenüber der Information. Die Suche nach neuen Quellen, kritische Haltungen und das Schaffen von Inhalten.
  • Manipulation wird abgelehnt. Die Distanz zwischen Menschen und Institutionen wird größer. Es gibt ein Bewusstsein davon, dass die Demokratie in einer Krise ist und vom Einfluss der wirtschaftlichen auf die politischen Mächte.
  • Die jungen Menschen und die neue Sensibilität: Die neuen Generationen interessieren die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modelle nicht als zentrale Themen, all das was täglich von den Meinungsmachern diskutiert wird. Sie erwarten hingegen, dass die Institutionen und die Führungskräfte nicht noch eine zusätzliche Last sind, die noch in dieser komplizierten Welt hinzukommt. Auf der einen Seite erwarten sie eine neue Alternative, weil die existierenden Modelle ihnen nicht mehr zeitgemäss scheinen und auf der anderen Seite sind sie nicht bereit Vorschlägen und Führungsstilen zu folgen, die nicht mit ihrer Sensibilität übereinstimmen. Das wird von vielen als eine Unverantwortlichkeit der jungen Leute gesehen, aber es geht nicht um Verantwortlichkeiten. Es geht um eine Art Sensibilität, die man ernsthaft in Betracht ziehen muss. Das ist kein Problem, was man mit Meinungsumfragen lösen kann, oder mit Befragungen, um rauszufinden, wie man die Gesellschaft am besten manipulieren kann. Das ist ein global auftretendes Problem und hat mit der Wertschätzung des konkreten Menschen zu tun, das bisher in der Theorie beschworen und in der Praxis verraten wurde.
  • Man sollte noch erwähnen, dass man ein bereits diskutiertes Bild des Menschen wieder hervorholt, was versucht den Menschen als Naturwesen zu definieren. Es gibt aber auch Denker, die bestätigen, dass der Mensch ein aktives Bewusstsein hat und nicht darauf wartet, dass die Objekte der Welt etwas mit ihm tun, sondern im Gegenteil er gestaltet diese Objekte und verleiht ihnen einen Sinn.
  • Der Mensch ist ein aktives Individuum, welches die Welt gestaltet, er hat Verantwortung in dieser Welt und einen geschichtlichen Kompromiss mit der Menschheit. Das beinhaltet, das das Bewusstsein nicht weiter darauf wartet von den Objekten bewegt zu werden, sondern dynamisch ist und die Welt selbst aufbaut. Im Gegensatz dazu ist der Gesichtspunkt der natürlichen Haltung ein dogmatischer Gesichtspunkt, der die Welt auf eine isolierte und absolute Welt wahrnimmt.

Werden Nihilismus und Geld zeitweilig und schnell voranschreiten, angetrieben von einer Vergangenheit, die ins Nichts führt oder wird die Kraft des Menschen wachsen, der sich vorurteilslos in ein beabsichtigtes Schicksal begibt?

Wird die Verwirrung zwischen bekannten und neuen Modellen noch lange anhalten?

Werden die neuen Generationen neue Bilder entwerfen, die in die Zukunft reichen?

Wird der Humanismus diese neue Schlacht gewinnen?

Wird diese neue historische Etappe überwunden werden?

Das wissen wir heute noch nicht. Wer könnte es wissen?

Aber wir wissen, dass dieser Moment nicht das Ende der Geschichte bedeutet.

Interview geführt von Víctor Manuel Sánchez, aus dem Spanischen übersetzt von Marita Simon aus dem ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige! 


Luis Milani ist seit 40 Jahren aktiv in der Humanistischen Bewegung, er kennt sich aus in den sozialen Prozessen auf der Welt und insbesondere in Lateinamerika. Er vertritt die Lehre Silos in ihren sozialen Entwürfen. Er verfügt über eine unendliche Anzahl von Schriften über die Organisation an der sozialen Basis mit Hilfe der Methodologie der Gewaltfreiheit, unter anderem: „Das inspirierte Bewusstsein in einem Moment der sozialen Zusammenführung.