Was versteht man unter Bedrohungen? Nach welchen Kriterien erfolgt die Analyse von Bedrohungen? Welcher Prozess führt dazu, dass wir ein bestimmtes Ereignis als bedrohlich empfinden? Wie kann man zwischen Rhetorik, die sich an die öffentliche Meinung richten, und einem tatsächlichen Risiko unterscheiden? Wer sich ein Bild von Bedrohungen machen möchte, muss sich mit zahlreichen Fragen auseinandersetzen.

Bedrohungen sind eher ein soziales Konstrukt als eine Realität. Laut Wörterbuch ist eine Bedrohung ein Verhalten oder eine Haltung, mit der man einer Person oder einer Gruppe von Personen gegenüber zum Ausdruck bringt, dass man ihnen Schaden zufügen oder sie zu Handlungen gegen ihren Willen zwingen will. Die Bedrohung geht also von diesem anderen aus, der als „Feind” betrachtet wird und durch Zwang oder Gewalt das an sich reißen will, was uns gehört.

Daher muss zunächst ermittelt werden, wer welche Drohung an welches Publikum richtet, um sich nicht von einer von anderen definierten Wahrnehmung und Narrativen mitreißen und in die Falle locken zu lassen. Darüber hinaus können Drohungen nicht nur im Hinblick auf ihre vermuteten Folgen analysiert werden. Sie müssen in einen langfristigen Kontext gestellt und die Kettenreaktion, die zu dieser Situation geführt hat, dekonstruiert werden. Nur so können wir auf die Ursachen einwirken, wenn wir sie entschärfen wollen. Andernfalls laufen wir Gefahr, in eine Eskalationsspirale zu geraten, deren Ausgang bekannt ist: eine Welle der Gewalt, ein Krieg aller gegen alle.

Kurz gesagt gehört die Bedrohung zu den Sammelbegriffen, die durch die Fixierung auf die Angst eine Analyse unserer Verantwortung sowie ein Handeln zur Verhinderung ihres Eintretens hinauszögern. Zudem wird die Wechselwirkung zwischen den Elementen sehr oft außer Acht gelassen. Jede Bedrohung wird für sich betrachtet, ohne dass eine Beziehung zu anderen hergestellt wird. Infolge inflationären Gebrauchs in verschiedenen Kontexten hat dieser Begriff deutlich an Bedeutung verloren.

Ist Frankreich bedroht oder bedrohlich?

Es besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung einer Bedrohung seitens der Öffentlichkeit, der tatsächlichen Gefahr und der Reaktion der Regierenden. Dies gilt auch für die militärische Bedrohung, die im Mittelpunkt des Dossiers von „Alternatives Non-Violentes (ANV)” steht.

Dies gilt umso mehr, da die Invasion der Ukraine durch russische Truppen im Jahr 2022, begleitet von der nuklearen Drohung durch Präsident Putin, die Angst vor einem Krieg in Europa wiederbelebt hat. Für viele Kommentatoren stellt dies ein „Zeitwende” dar, der eine Erhöhung der Budgets und die Beibehaltung der Logik der nuklearen Abschreckung rechtfertigen würde. Zahlreiche Medien haben dieses Thema seitdem auf ihre Titelseiten gebracht und fragen: „Sind wir bereit für den Krieg?” [i] Die einzige Perspektive dabei ist die weitere Stärkung des militärischen Apparats Frankreichs und die Militarisierung der Gesellschaft.

Dies führte Ende 2022 zur Ausarbeitung einer neuen nationalen Strategieüberprüfung [ii]. Im Gegensatz zu früheren, ähnlichen Überprüfungen, die das Ergebnis der Arbeit einer eigens dafür eingesetzten Kommission waren und vor allem auf Anhörungen basierten, wurde diese Überprüfung direkt von den Dienststellen des Élysée-Palasts und des Verteidigungsministeriums ausgearbeitet. Das Dokument gibt einen Überblick über die Bedrohungen und Risiken für Frankreich und stellt die Hauptlinien der Militärpolitik für die kommenden Jahre vor. Die Atomwaffe steht dabei im Mittelpunkt des Systems. Sie wird sogar als „Rückgrat unserer Sicherheit” bezeichnet. Russland und China werden darin ausdrücklich als zwei Staaten benannt, die eine besondere Bedrohung für Frankreich darstellen. Das Dokument dient als Grundlage für die Ausarbeitung der Militärprogrammgesetze (LPM). Im Frühjahr 2023 legte die Regierung den Abgeordneten ein neues LPM für die Jahre 2024 bis 2030 zur Abstimmung vor, das eine starke Erhöhung der Militärausgaben vorsieht[iii]. Damit schürt sie die Kriegsgefahr. Diese massive Rüstungsdynamik beeinträchtigt die Entwicklung öffentlicher Dienstleistungen und die Befridigung sozialer Bedürfnisse. Ganz zu schweigen davon, dass diese militaristische Vision der Gesellschaft das Ergebnis einer Minderheit ist – auch wenn sie mit dem demokratischen Anstrich einer parlamentarischen Abstimmung versehen ist – und nicht das Ergebnis einer echten demokratischen Debatte.

Die Atomwaffe ist ein typisches Beispiel, um dieses Paradoxon zu erklären. Die Strategie der nuklearen Abschreckung, deren Ziel es ist, den Frieden zu fördern und jegliche Beeinträchtigung „lebenswichtiger Interessen” zu verhindern, beruht auf der Androhung unverhältnismäßiger Vergeltung gegenüber dem Gegner, einschließlich des Ersteinsatzes einer Atombombe als „letzte Warnung”, um die Abschreckung wiederherzustellen, falls der Gegner die wahren Absichten falsch einschätzt. Wenn Atomwaffen und die Strategie der nuklearen Abschreckung „eine grundlegende Rolle für die Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit” spielen würden, wie Präsident Macron in Anlehnung an seine Vorgänger [iv]behauptet hat, würde es ausreichen, wenn jedes Land über einige wenige Exemplare verfügen würde – es gäbe dann keine Kriege mehr auf der Welt. Es ist offensichtlich, wie absurd eine solche Argumentation ist und welche Gefahr sie für die Menschheit mit sich bringen würde.

Als zweitgrößter Waffenexporteur der Welt trägt Frankreich erheblich zum Wettrüsten bei. Durch den Einsatz seiner Waffen, Munition und Komponenten ist es zudem an zahlreichen Konflikten in verschiedenen Ländern beteiligt. Bereits der Krieg im Jemen hatte in den letzten Jahren die Verantwortung Frankreichs für den Einsatz der von ihm verkauften Waffen in den Vordergrund gerückt. Dies wurde insbesondere durch mehrere vom Observatoire des Armements veröffentlichte Studien zum Krieg Russlands gegen die Ukraine oder Israels gegen die Hamas deutlich [v].

Anlässlich der Vorstellung dieser strategischen Überprüfung am 9. November 2022 erklärte Präsident Macron, dass sich Frankreich „auf eine Kriegswirtschaft einstellen“ müsse, und bekräftigte seinen Willen, die moralische Stärke insbesondere durch die Erweiterung des SNU, Universeller Nationaldienst, zu untermauern, um „alle seine militärischen und zivilen Kräfte für die Verteidigung unserer Souveränität zu bündeln“ [vi].

Dies steht im Widerspruch zu den von Frankreich als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen regelmäßig bekräftigten Verpflichtungen zur Stärkung der Friedenswerte. In Artikel 26 der UN-Charta heißt es eindeutig: „Um die Herstellung und Erhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu fördern, hat der Sicherheitsrat mit Unterstützung des in Artikel 47 vorgesehenen Stabskomitees Pläne auszuarbeiten, die den Mitgliedern der Organisation zur Schaffung eines Systems der Rüstungskontrolle vorgelegt werden[vii].“ Davon sind wir noch weit entfernt.

Was aber, wenn die größte Bedrohung gar nicht militärischer Natur wäre?

Frankreich bevorzugt einen von oben nach unten gerichteten Ansatz zur Bedrohungsanalyse, der sich an den von staatlichen Stellen definierten Sicherheitszielen wie dem Schutz des Staatsgebiets und der Stärkung der Infrastruktur zur Gewährleistung ihrer Funktionsfähigkeit orientiert. Dieser Ansatz stützt sich jedoch nicht auf die Ängste und Bedürfnisse der Bevölkerung sowie intermediärer Instanzen, wie verschiedener sozialer Gruppen und zahlreicher Vereinigungen, um diese einzubeziehen.

Dies führt zu einer erheblichen Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Bedrohungen seitens der Bevölkerung und der Reaktion des Staates darauf, sei es im Bereich der Sicherheit oder in verschiedenen anderen Bereichen (Migration, Terrorismusgefahr, Klimabedrohung usw.). Dabei erweist sich die Priorität, die der Entwicklung von Technologien zur Bewältigung von Sicherheitsrisiken eingeräumt wird, als Illusion. Tatsächlich ist dieser technologische Wettlauf – wie die Robotisierung und die künstliche Intelligenz zeigen – ein Faktor für neue Risiken. Dies gilt umso mehr, wenn man ihn nicht aus struktureller Sicht, also aus Sicht des Staates, sondern aus Sicht der Gesellschaft oder von Gruppen von Individuen betrachtet.

Das offensichtlichste Beispiel ist die universelle Verbreitung der Informatik als dominierendes Instrument für die Verwaltung von Unternehmen und unserem individuellen Leben. Die Anhäufung digitaler Daten und ihre Speicherung verursachen nicht nur einen hohen Energieverbrauch, sondern stellen auch eine Schwachstelle in Bezug auf die Sicherheit dieser Daten und deren Hacking dar. Somit entstehen neue Sicherheitsbedrohungen in einer Art Dialektik zwischen Schwert und Schild, die bereits auf militärischer Ebene vorhanden ist.

Tatsächlich dient in dieser nationalen Rhetorik, die von den Mainstream-Medien weit verbreitet wird, die Nutzung von Bedrohungen als Bindemittel, um die Bevölkerung je nach Zeitperiode mehr oder weniger effektiv hinter der Regierung zu vereinen. Bedrohungen werden hervorgehoben, um nicht konsensfähige, von einer Minderheit vertretene politische Entscheidungen zu verschleiern. Diese Entscheidungen dienen einer wirtschaftlichen Logik der Anhäufung von immer mehr Reichtum und der Verstärkung von Ungleichheiten, die wiederum die Ursache für Kriege sind. Die Rhetorik der Drohung dient gewissermaßen als einfacher Sündenbock, anstatt eine kollektive Debatte zu eröffnen und zu organisieren, um die strukturellen Ursachen der aufeinanderfolgenden Krisen, die unsere Gesellschaften durchleben, gemeinsam zu hinterfragen und Perspektiven zu entwickeln, um ihnen zu begegnen. Sei es auf interner oder externer Ebene.

Frankreich ist nicht das imaginäre Land, in dem wir alle in Harmonie leben und das wir gegen Eindringlinge verteidigen müssten und in dem humanistische Werte geachtet werden. Dies ist eine Illusion, die insbesondere der Vorstellung zugrunde liegt, dass es einerseits zwei unterschiedliche Phasen im gesellschaftlichen Leben gäbe – die des Friedens und die des Krieges – und andererseits zwei unterschiedliche Räume – den inneren und den äußeren.

Die Realität sieht ganz anders aus. Unsere Gesellschaft lebt in einem permanenten Konflikt – sowohl intern zwischen verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Interessen als auch extern in ihren Beziehungen zu anderen Ländern –, in dem wir ständig aktiv sind und reagieren. Wir sind auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen uns selbst und anderen und schwanken dabei zwischen den Gedanken „die Hölle, das sind die anderen” und „unser schlimmster Feind, das sind wir selbst”.

Ist es nicht genau das, was wir jeden Tag durch unser Engagement tun: unser Territorium verteidigen? Ist es nicht genau diese Dynamik, die wir verstärken und so weit wie möglich teilen müssen? Denn durch gemeinsam entwickelte Aktionen und Organisationsformen werden wir ein „Zusammenleben“ aufbauen. Liegt darin nicht die größte Gefahr?

Das Rüstungsbeobachtungszentrum (L’Observatoire des armements)

Obwohl die Logik des Krieges unsere Gesellschaften weiterhin prägt und unser Leben sowie unseren Planeten unaufhörlich beeinflusst, setzt sich die Organisation seit 1984 unermüdlich für die Abrüstung ein. Es veröffentlicht die Zeitschrift Damoclès in gedruckter und digitaler Form sowie Artikel und Studien, die eine wichtige und zuverlässige Quelle für Journalisten und Medien darstellen.

Siehe Website: https://www.obsarm.info/

Die Übersetzung aus dem Französichen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!

Artikel aus dem Dossier „La Défense civile non-violente DCNV” (Gewaltfreie Zivilverteidigung), veröffentlicht von Pressenza auf Französisch, Deutsch und Englisch.

Der Autor

Patrice Bouveret ist Mitbegründer und Direktor des Observatoire des armements, einem unabhängigen Sachverständigenzentrum, das 1984 in Lyon gegründet wurde. Er ist außerdem verantwortlich für die Veröffentlichungen des Observatoire des armements, darunter die Zeitschrift Damoclès, und Autor zahlreicher Beiträge, darunter „Le nucléaire comme catastrophe : sortir du déni” (Die Atomkatastrophe: Weg der Verleugnung) in Catastrophe(s): parlons-en! Ein multidisziplinärer Ansatz zu Katastrophen von Hiroshima bis Corona, herausgegeben von Patrick Dieuaide und Claire Garnier-Tardieu, Paris, L’Harmattan, 2022, 206 Seiten.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers „La Défense civile non-violente” (Gewaltfreie zivile Verteidigung), Ausgabe 213 (Sonderausgabe), Dezember 2024, der Zeitschrift Alternatives non-violentes.


[i] Jean-Dominique Merchet, Journalist und Spezialist für militärische Fragen, wird dies zum Titel eines im Januar 2024 im Robert-Laffont-Verlag erscheinenden Buches machen.

[ii] https://www.sgdsn.gouv.fr/publications/revue-nationale-strategique-2022

[iii] https://www.legifrance.gouv.fr/jorf/id/JORFSCTA000047914988

[iv] Vgl. auch die „Rede von Präsident Emmanuel Macron über die Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie vor den Kadetten des 27. Jahrgangs der École de guerre” vom 7. Januar 2020: https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2020/02/07/discours-du-president-emmanuel-macron-sur-la-strategie-de-defense-et-de-dissuasion-devant-les-stagiaires-de-la-27eme-promotion-de-lecole-de-guerre.

[v] Vgl. die Anmerkungen des Observatoire: „La guerre se fabrique près de chez nous” (Nr. 6, Mai 2022, 28 S.), „Comment la France contourne l’embargo” (Nr. 7, Juni 2023, 20 S.), die unter https://www.obsarm.info/spip.php?rubrique46 zum Download bereitstehen, sowie „Die militärische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Israel” (Mai 2017, 100 S.), abrufbar unter: https://www.obsarm.info/spip.php?article428.

[vi] https://www.defense.gouv.fr/actualites/nouvelle-revue-nationale-strategique-ce-quil-faut-retenir-du-discours-demmanuel-macron.

[vii] https://www.defense.gouv.fr/actualites/nouvelle-revue-nationale-strategique-ce-quil-faut-retenir-du-discours-demmanuel-macron