Bevor Han Kang den Nobelpreis für Literatur erhielt, hatte ich schon zwei Romane von ihr gelesen: „Griechischstunde“ und „Die Vegetarierin“. Ich habe -wie immer – nicht analysiert, warum sie mir gefallen haben. denn ich will Freude am Lesen haben, vielleicht manchmal eine Erkenntnis, aber bitte nicht zuviel. Dafür habe ich Zeitungen, Zeitschriften, Sachbücher, viele davon im Internet. Wenn ich abends im Bett lese, will ich in eine andere Welt eintauchen, die, bitte, nicht so schrecklich ist wie die, von der ich täglich lese, höre, sehe. Im Grunde war ich immer eine Schnell-Leserin, die sich nicht am literarischen Wert eines Buches orientiert. Han Kangs Bücher haben mein Lesen, haben mich verändert. Diese Bücher kann ich nicht vor dem Schlafen lesen, sonst geht Schlafen nicht mehr.
Dies gilt insbesondere für die beiden Romane „Menschenwerk“ (erstmals 2014 auf koreanisch erschienen) und „Unmöglicher Abschied“ (erstmals 2021 auf koreanisch erschienen). In beiden Werken steht jeweils ein Massaker im Mittelpunkt, zwei von vielen, die Korea im letzten Jahrhundert heimgesucht haben. Ich wusste nichts von Korea, außer dass es den Koreakrieg gab. Ich begann, meine diesbezüglichen Bildungslücken zu füllen.
Das Kaiserreich Korea wurde 1910 von Japan annektiert und war seitdem japanische Kolonie. Die Teilung des Landes in Nord- und Südkorea wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten in Absprache zwischen der Sowjetunion und den USA beschlossen, anstatt Korea die vollständige Souveränität zuzugestehen. Beide Besatzungsmächte ließen Wahlen durchführen und etablierten 1948 zwei koreanische Staaten, deren Regierungen jeweils ihren Kurs vertraten. Die vereinbarte Grenze zwischen Nord- und Südkorea wurde von nordkoreanischen Truppen 1950 überschritten, was den Korea-Krieg (1950-1953) auslöste. Es entstand ein Stellvertreter-Krieg zwischen der Sowjetunion, später auch China, und den USA. Durch die unterschiedlichen Systeme in Nord- und Südkorea und die Gegnerschaft ihrer jeweiligen Unterstützer entwickelte sich eine große Feindseligkeit zwischen den beiden Staaten, gestützt durch autoritäre bis hin zu diktatorischen Machthabern.
Während das Massaker von Jeju, gestützt von den US-amerikanischen Besatzern, auf der Verteufelung der Kommunisten in Nordkorea basierte, reagierte die damals herrschende Militärdiktatur in Gwangju (Südkorea) auf Demonstrationen von Kritiker:innen der Regierung. In beiden Fällen wurden Tausende ohne Anklage dahin geschlachtet, ohne dass irgendwann eine Aufarbeitung stattgefunden hätte. Diese leisten u.a. Romane wie die von Hang Kang.
„Menschenwerk“ beschreibt das Massaker von Gjangju in der Zeit vom 18. bis 27. Mai 1980. Schon zu Beginn geht es um die Aufbewahrung und Transporte von Leichen. Die Hauptperson, ein 15jähriger Junge namens Dong-Ho, ist in die Arbeit einbezogen und will den Rückzugsort für die Aufständischen nicht verlassen. Eigentlich sucht er seinen Freund, findet ihn nicht und wird später ebenfalls ermordet, so wie viele andere, vorwiegend junge Menschen, die gegen die Militärdiktatur demonstrieren wollten. In diesem Roman können die Seelen der Verstorbenen noch denken und nehmen das Grauen wahr: Das Übereinanderschichten der toten Körper, die Fahrten mit dem Lastwagen, die langsame Verwesung. So erleben wir das Massaker nach, und dabei bleibt es nicht: Die Zeit nach dem Massaker ist durch Festnahmen und Folter der engagierten Schüler, Lehrer und Studierenden gekennzeichnet. Die Folgen sind die Zerstörung von überlebenden Männern und Frauen durch anhaltende Traumatisierungen, ganz zu schweigen von körperlichen Leiden und Behinderungen. Diese Langzeitfolgen des Massakers werden anhand einzelner Schicksale von Menschen beschrieben, die während des Massakers aktiv Widerstand leisteten. Han Kang macht deutlich, dass die Schrecken nicht mit dem Ende des Krieges aufhören. Sie zerstören nicht nur das Leben der unmittelbar Betroffenen, sondern wirken, wie wir auch aus der Forschung über den Nationalsozialismus wissen, vergiftend auf die nachfolgenden Generationen.
Diese langfristige Wirkung wird noch stärker aufgegriffen in „Unmöglicher Abschied“. Der Roman ist 2024 in deutscher Übersetzung erschienen und deckt nach und nach die Schrecken der Massaker auf, die 1950 auf der Insel Jeju stattgefunden haben. Er beginnt mit einem Traum, der sich zunächst jeder Deutung entzieht, allmählich aber zu einer Grundlage für die Beschäftigung mit dem Massaker wird. Zwei Themen stehen dann nebeneinander: die Freundschaft zwischen zwei Frauen und die Aufdeckung des Massakers. Beide Themen werden in mehreren Geschichten immer stärker miteinander verwoben. Da ist vordergründig die Freundschaft zwischen Gyeongha und Inseon, die über eine starke Sympathie hinaus durch ein geplantes Projekt miteinander verbunden sind. Da ist die individuelle Sinnsuche beider Frauen, die sich in diesem gemeinsamen Projekt trifft. Da ist die Beziehung Inseons zu ihrer Mutter, die allmählich dement wird. Und dann die Erzählungen über ein Massaker auf der Insel Jejo, das vor dem Beginn des Koreakrieges stattgefunden hat. Letztendlich ist „Unmöglicher Abschied“ auch eine Geschichte über die Hartnäckigkeit von zwei Frauen, die, unterstützt von ihrer Liebe füreinander, sich nicht damit begnügen, zu wissen, was bei den Massakern geschehen ist, sondern mit ihrer Arbeit – einem Film – die Ermordeten und das Leid ihrer Lieben dem Vergessen entreißen wollen.
Das Besondere an Han Kangs Texten ist die geradezu liebevolle Beschreibung von Details des Alltags, die unser Leben bestimmen, und die gleiche Genauigkeit bei der Sichtbarmachung menschlicher Grausamkeit. Dabei sind es die Geschehnisse des Alltags, die unser aller Leben mit bestimmen. Sie sind es auch, die uns vom Blick auf das „Große Ganze“, auf die Verhältnisse, die unseren Alltag formen, zeitweilig ablenken. Durch dieses Nebeneinander von historisch bedeutsamen Ereignissen und der genauen Schilderung des täglichen Lebens führt Han Kang das einzelne Schicksal mit dem Allgemeinen zusammen: Sie „leads the reader into the very heart of human experience, where the singular crosses the universal“(The White Review). Neben dieser genauen Beachtung des anscheinend Nebensächlichen wandelt die Erzählerin in „Unmöglicher Abschied“ ständig zwischen den Zeiten. Mal ist es die Gegenwart, mal eine Begegnung vor einigen Jahren, und dann verschiedene Vergangenheiten. Die Leserin muss aufmerksam lesen, sonst kommt sie durcheinander. Durch die gesteigerte Aufmerksamkeit gerät sie aber auch stärker in den Sog der Erzählung, kann sich nicht mehr innerlich zurückziehen. Insofern ist die Spannung, die entsteht, eine andere als bei einem Krimi.
Im Schreiben von Han Kang hat Manches eine Bedeutung, die sich der Leserin nicht immer erschließt, zum Beispiel Träume. „Manche Träume sagen mir etws Entscheidendes. Das geschah, als ich begann, Unmöglicher Abschied zu schreiben. Es gibt diesen Traum, in dem es schneit, der auf den ersten beiden Seiten beschrieben wird. Ich wollte, dass das Buch selbst irgendwann in den Traum eintritt. Ich wollte, dass der Schnee von Anfang bist Ende fällt….Natürlich geht es in dem Buch auch um das Massaker von Jeju. Aber ich wollte mich auch mit ganz leichten und weichen Dingen beschäftigen“ (Interview Zeit). So entsteht Atmosphäre. Der man sich allerdings übereignen muss. Wer nur auf die Handlung starrt, erlebt sie nicht. Auch brennende Kerzen, die es in beiden Romanen gibt, haben eine besondere Bedeutung. Im Hinblick auf „Menschenwerk“, so Han Kang, werden die Toten in der flackernden Flamme der Kerze Teil der Gegenwart und Trauer wird möglich. Die Toten und die Lebenden begegnen sich: „I wanted to light a candle at the very beginning and end of the book, to mourn in the best way available to me. Because figures had resurfaced of a person or people coming back to us through the heart of a guttering flame, having crossed a span of thirty years. In that way, I wanted to have past and present, the dead and the living, encounter each other in the candle flame. Suddenly it was clear in my mind how I ought to order the chapters, and I was able to begin the novel itself in March 2013. Once I started right, what I soon realised was that in this book I myself was unimportant. In a surprisingly natural fashion, my self-consciousness disappeared. I wanted to lend my feelings, my body, my life, to them (The White Review). Das Selbstbewusstsein, die Gefühle, ja, ihr Leben überantwortet sie dem Schreiben – sie selbst ist nicht mehr wichtig. Sie hat eine Aufgabe.
In beiden Romanen verlässt die Autorin an einigen Stellen die Realität. In „Menschenwerk“ geschieht dies vor allem am Anfang, als die Seele des verstorbenen Freundes den 15jährigen Dong Ha begleitet und das erschütternde Geschehen beschreibt, obwohl dieser ihre Gedanken nicht verfolgen kann. In „Unmöglicher Abschied“ findet die Handlung in einer langen Passage als Traum oder als Vision statt. Auf diese Weise werden die zutage geförderten Geschehnisse des Massakers als persönliches Erleben der beiden Freundinnen sichtbar.
Warum widmet sich eine Frau – oder ein Mann – solchen Themen ? Warum macht die Autorin das Grauen durch Schreiben lebendig? Bei Han Kang spielt zuächst ihre Biographie eine Rolle. Sie war 9 Jahre alt, als ihre Familie von Gwangju nach Seoul zog. Kurz darauf geschah das Massaker von Gwangju. Sie konnte nicht verstehen, was passiert war, sie konnte es auch nicht fassen. Schon seit ihrer Kindheit trieb sie die Frage um: Wie ist es möglich,dass Menschen zu großer Fürsorge und Liebe für Andere, aber auch zu unvorstellbarer Grausamkeit in der Lage sind? „Humans will not hesitate to lay down their own lives to rescue a child who had fallen onto the train tracks, yet are also perpetrators of appalling violence, like in Auschwitz. The broad spectrum of humanity, which runs from the sublime to the brutal, has for me been like a difficult homework problem ever since I was a child“ (The White Review).
Sie hatte Schuldgefühle, weil es nur einem Zufall – dem Umzug nach Seoul – zu verdanken war, dass ihre Familie das Massaker überlebte. Wie auch andere koreanische Autor:innen, die nicht direkt betroffen waren, zog sie daraus den Schluss, „that we ought instead to be making political pronouncements through our work.“
Die politische Dimension ihrer Arbeit ergab sich schon daraus, dass beide Massaker in Korea tabuisiert waren – man sprach und schrieb nicht darüber. Angehörige blieben mit ihrem Verlust und ihrer Trauer allein, jahrzehntelang.
Beim Schreiben über das Massaker in Gwangju machte sie die Erfahrung, „that Gwangju was now a name that applied to something universal rather than particular to any one place or country, the documents I read subsequently related not only to Gwangju, but also to Auschwitz, Bosnia, Nanjing, and the massacre of Native Americans.“‘Gwangju’, Han says, has become another word ‘for all that has been mutilated beyond repair. The radioactive spread is ongoing.’ Thus Human Acts is a book with a banging door – it is fiction as a form of alternative historiography where the unresolved past pollutes the present. „
Traumata vergiften die Menschen, auch die nachkommenden Generationen. Es geht Han Kang um das Lebendigmachen des Traumas, dem in der Gegenwart ein Platz des Erinnerns und der Würdigung des verursachenden Geschehens zugestanden wird, gegen den Wunsch, es zu verdrängen. Die Trauer bringt die Toten zu den Lebenden: “ I believe that trauma is something to be embraced rather than healed or recovered from. I believe that grief is something which situates the place/space of the dead within the living; and that, through repeatedly revisiting that place, through our pained and silent embrace of it over the course of a whole life, life is, perhaps paradoxically, made possible.“ Die Überlebenden oder die Nachfahren müssen die Schrecken zur Kenntnis nehmen. Dabei geht es Han Kang “ nicht um Schlichtung und Schiedsspruch, sondern darum, eine Sprache zu finden für das Unsagbare, den Geistern der Vergangenheit Form zu geben, so dass sie weniger neues Unheil anrichten können. Darin liegt die Bedeutung ihrer Werke (Eggert 2025).“
Was ich lerne
Wir erinnern uns zur Zeit an das Massaker von Srebrenica, den größten Völkermord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieses Massaker ist immer in meinem Gedächtnis, und nicht nur in meinem. Konsequent sind derzeit zwei Frauen dabei, die Leichen der in Massengräbern Verscharrten auszugraben und zu identifizieren. Auf diese Weise geben sie den Angehörigen die Möglichkeit eines Begräbnisses des Vaters, des Sohnes, des Bruders (vgl. Tervonen 2025). Die Arbeit für die Verstorbenen ist heilsam für die Überlebenden und man kann sich nur wünschen, dass diejenigen Serben, die die Verbrechen leugnen, von ihrer Verdrängung absehen mögen.
Es ist kein großer Trost, wenn, wie in Srebrenica und bei Han Kang, den Toten die Aufmerksamkeit widerfährt, die ihnen zusteht. Aber die Erinnerung an das Leid und an das Unrecht muss wach gehalten werden, um die kulturellen Schranken gegenüber Grausamkeit zu stabilisieren. Auch wenn wir die aktuellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht aufhalten können, so demonstrieren wir doch – allein oder in einer Gruppe – dass die Toten nicht vergessen werden.
Quellen
Bücher
2019 Kang, Han: Menschenwerk. Berlin: Aufbau-Verlage
2024 Kang, Han: Unmöglicher Abschied. Berlin: Aufbau-Verlage
2025 Tervonen, Taina: Die Reparatur der Lebenden. Zwei Frauen in Bosnien-Herzegowina auf der Suche nach den Ermordeten des Krieges. Wien: Paul Zsolnay
Internet
2025 Ernst, Sonja: Der blutige Aufstand in Gwangju. https://www.deutschlandfunk.de/suedkorea-gwangju-aufstand-100.html
2024 Interview mit Marion Eggert: https://taz.de/Interview-zu-Nobelpreistraegerin-Han-Kang/!6055090/
2024 https://www.zeit.de/2024/55/han-kang-literaturnobelpreis-autorin-suedkorea/seite-2
2016: Interview mit Han Kang in The White Review
https://www.perlentaucher.de/buch/han-kang/menschenwerk.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Teilung_Koreas
https://de.wikipedia.org/wiki/Koreakrieg
faz Interview mit Han Kang https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/han-kang-ueber-menschenwerk-in-der-neuen-faq-15193608.html









