Ein Erdentag, sechs Astronaut*innen, eine Raumstation, eine Erdumrundung in 90 Minuten und damit 16 mal Sonnenaufgang und 16 mal Sonnenuntergang und ein sich extrem schnell und wütend bildender Taifun. Das ist der Rahmen für Samantha Harveys 2024 mit einem der ältesten Literaturpreise Großbritanniens, dem Hawthornden Prize (1919 von Alice Warrander gegründet) und dem Booker Prize ausgezeichneten Roman. Vier Romane und ein literarisches Memoir hat sie bereits verfasst, mit Umlaufbahnen sind nun vier ihrer Werke in deutscher Sprache erhältlich. Umlaufbahnen scheint bei vielen Menschen einen Nerv getroffen zu haben und obwohl ich nicht im geringsten jemals den Drang verspürt habe, mich ins All zu begeben – mein größter Albtraum wäre es wie in David Bowies Song Major Tom zu enden, erscheint mir der Weltraum doch als unendlich, kalt und still – wurde ich neugierig, als ich aus vielen Ecken meiner literarischen Bloggerblase nur Positives über diesen Roman hörte.

Viele Rezensionen zu Umlaufbahnen heben vor allem im Feuilleton auf die Umstände ab, in denen die Astronaut*innen auf einer Raumstation für eine gewisse Zeit leben müssen. Schwerelosigkeit, mehrfache tägliche Sonnenauf- und -untergänge, die Enge, die Wiederaufbereitung der verbrauchten Luft, die Versorgungsproblematik was Nahrung und Wasser angeht, die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf Körper und Geist stehen naturgemäß in einem Roman, der sich in einer abgeschlossenen Kapsel im Weltraum abspielt, im Zentrum. Wer ein Fan der erfolgreichen Serie Big Bang Theory ist, wird sich an ein paar Folgen erinnern, in denen Howard Wolowitz, der einzige in der Truppe Nerds, der sein Ingenieursstudium am MIT absolviert, aber keinen Doktortitel erworben hat, als Astronaut ins All fliegt. Die Szenen, in denen er nach ein paar Wochen Aufenthalt seine Frau Bernadette während eines Facetime-Telefonats verzweifelt und mit irrem Blick bittet, einen Stift oder ähnliches fallen zu lassen, bringt unglaublich witzig und gleichzeitig wahrhaftig auf den Punkt, was man wohl alles so vermisst, wenn man für längere Zeit nicht auf unserem Planeten weilt, sondern in zigtausend Kilometer Entfernung irre schnell um ihn kreist.

Samantha Harvey verschweigt uns nichts davon. Gleichzeitig zeigt sie, wie sehr wir Menschen mit unserem Planeten doch verbunden sind. Schade nur, dass manches erst in der großen Entfernung deutlicher wird. Und vielleicht liegt es auch an dem Wetterphänomen, dass die Astronaut*innen neben ihren täglichen Arbeiten beobachten und dokumentieren sollen, dass einiges noch deutlicher wird. Dank ihrer Fotos können die Vorhersagen zu einem der größten bisher dokumentierten Taifune, die vor allem die Inselgruppe der Philippinen treffen wird, ein wenig genauer sein. Doch wer sich auf einer der Inseln befindet, wird davon keinen großen Nutzen haben. So schnell, wie der Taifun sich bildet, ausweitet und heranrast, so schnell kann man nicht fliehen, wenn man nicht gerade vermögend ist. Dazu kommt noch, dass wir Menschen dazu geneigt sind, unser Hab und Gut schützen zu wollen – auch wenn wir dabei Leib und Leben verlieren sollten. Und wohin soll man auch gehen?

Jede*r der Astronaut*innen hat eine besondere Verbindung zur Erde und Harvey zeigt sie uns in deren Träumen. Träume, die wiederkehren, die verstören, die Knoten lösen oder Sehnsucht hervorrufen. Die Sprache, in der Harvey die Gedanken und Träume der beiden Frauen und vier Männer in der Station, die ein bisschen so etwas wie eine Spiegelung unserer diversen Welt auf der Erde in nuce darstellt, ist ruhig. Man muss sich darauf einlassen können. Aber wenn man es getan hat, dann fasziniert und bindet sie einen, wie es vielleicht der Ausblick aus dem Fenster einer Weltraumstation auf den blauen Planeten könnte.

Im Grunde ist Umlaufbahnen ein vehementes Plädoyer dafür, unseren Planeten als Geschenk anzusehen. Als geliehene Heimat, die man schützen muss. Schützen vor noch mehr menschlichem Verlangen nach noch mehr. Denn eigentlich ist es ein Wunder an sich, dass dieser Planet so gut für uns eingerichtet ist. Allerdings ändert sich gerade das im Moment extrem. Weshalb sollten wir nach neuen Planeten suchen, auf denen wir leben können? Lasst uns doch endlich diesen, unseren Planeten nicht weiter verformen.

Für mich stellt Harvey nicht das Leben der Astronaut*innen auf der Station oder ihre Verbindungen zur Erde in den Mittelpunkt. Die Beschreibungen des Alltags im Weltraum nutzt sie lediglich, um Distanz zu den realen Geschehnissen aufzubauen und diese schärfer darzustellen. Einerseits ist es die Menschheit, die den Planeten verändert hat, um ihn auszubeuten, um ein Verlangen zu stillen, das selbstzerstörerisch enden kann. Andererseits zeigt Harvey die Schönheit dieses Planeten, der auch durch unsere Diversität, so wunderbar vielstimmig sein kann – auch hier trägt die Menschheit einen Teil dazu bei. Ein Spannungsfeld, das mich immer wieder staunen lässt und das Harvey sehr gekonnt und auf vielen Ebenen im Roman aufzeigt. Dabei fühlt man sich während der Lektüre oft auch ein wenig schwerelos im luftleeren Raum.

Weitere Besprechungen finden sich unter anderem bei Zeichen & Zeiten, Kommunikatives Lesen, Bücheratlas.

Umlaufbahnen von Samantha Harvey ist als Hardcover, übersetzt von Julia Wolf, bei DTV erschienen. Für mehr Informationen zum Buch per Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

Rezension von  

Der Originalartikel kann hier besucht werden