Weshalb folgen so viele Menschen Populisten, Soziopathen und Narzissten? Wie kann es sein, dass die Welt in diesen Zustand in dem sie sich gerade befindet kam? Wer momentan verzweifelt nach Antworten und Trost sucht könnte in Moralophobia einige finden. Autor Jörg-Uwe Albig hat etliche Misanthropen und sonstiges unmoralisches Geziefer untersucht und festgestellt, dass sie die Verlierer des Fortschritts waren, nicht zukunftsfähig, die Neandertaler der Menschheit. Gerade tauchen solche überholten Gestalten wieder vermehrt auf, besonders bei der Partei die gerade verzweifelt versucht, ein neues Thema für ihre abspringenden Wähler zu finden, aber außer Verweigerung vor den Tatsachen und Ansprüchen, keine Lösungsmöglichkeiten als Faschismus und Gegröle anbietet. Manchen Menschen reicht das. Weshalb, wird anhand Donald Trump interessant beleuchtet. Statt sich auf eine Reise ins Ungewisse, in die Zukunft zu begeben, leben sie lieber in der Vergangenheit, auch das ist psychologisch zu erklären. Die Reise beginnt mit Borsalino trinkenden SUV fahrenden Boomern und sie ist lohnenswert.

Mieses Verhalten nimmt zu in unserer Gesellschaft. Die eigenen Bedürfnisse werden über die anderer gestellt. Behindertenparkplätze und Radwege werden zugeparkt, Leute werfen Müll in die Landschaft, regen sich über VeganerInnen auf, beschimpfen Menschen, die sich engagieren als „Gutmenschen“. Rücksichtnahme? Empathie? Verständis für die Sorgen der jungen Generation? Fehlanzeige.

Wieso wollen Menschen über andere Menschen bestimmen? Weshalb fühlen sich Leute auf den Schlips getreten (yupp, es sind fast immer Männer), wenn andere sich für Gutes einsetzen? Wie kann es sein, dass Luisa Neubauer oder Greta Thunberg derart viel Hass entgegenschlägt? Wo liegt das Problem im Fall einer globalen Pandemie zum Schutz der anderen eine Maske zu tragen? All diese Fragen habe ich mir schon gestellt und der eine oder die andere LeserIn sicher auch.

Albig geht in seinem Plädoyer für Moral als Motor der Zivilisation weit zurück in die Vergangenheit und entlarvt die Ewiggestrigen als narzisstische Libertäre, die sich zu ihren Gunsten einen Dreck um andere scheren. Deren Rechte sind ihnen egal, Hauptsache sie können tun, was ihnen gefällt. Er verortet dieses Verhalten oft bei den Boomern und noch älteren Generationen. Aktuell für diesen Ansatz ist das Supreme Court Urteil zu Abtreibungsrechten in den USA. Überhaupt sind Frauenrechte, Minderheitenrechte, Menschenrechte vielen dieser „Kämpfer“ für ihre Ansichten ein Dorn im Auge.

Dabei ist es so einfach: „Seid nett zueinander“, leben und leben lassen und der schöne Imperativ: Was du nicht willst das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.

Ist es aber nicht, denn da gibt es jene, die Angst haben, sich weiterzuentwickeln. Die seelisch und moralisch versehrten (manchmal auch eingebildeten oder populistisch eingeflüsterten) Verlierer, die sich an der Vergangenheit festkrallen und der Zukunft keine Chance geben.

Götz von Berlichingen war so einer. Ein unsympathischer Zeitgenosse, der mit seinem Machtverlust und der sich wandelnden Welt nicht klarkam. Der Marquis de Sade, ein elendes Würstchen, auch an Gestalt, der den Feudalismus einzig um seinetwillen verteidigte und in eine widerwärtige Form der Machtausübung kanalisierte.

Ein weiteres Beispiel in „Moralophobia“ ist der Aufstand der amerikanischen Südstaaten gegen die Ansichten der fortschrittlichen, moralischen Zeitgenossen des Nordens, die tatsächlich die Unabhängigkeitserklärung umsetzen möchte: „That all men are created equal“. Ein Kampf, der den gesamten Süden, ungeachtet persönlicher Klasse, vereint. Bereits 1807 wurde in Großbritannien der Sklavenhandel verboten und 1833 dann die Sklaverei. Gegen den Widerstand einer großen Lobby. Ein großartiger Fortschritt für die Entwicklung der Menschheit. Gleichstellung und gleiche Rechte für alle … Männer, denn Frauen hatten damals noch kein Wahlrecht. Ginge es nach Friedrich Nietzsche, gäbe es keine allgemeinen Menschenrechte. An diesem seltsamen Philosophenvogel, arbeitet Albig sich als nächstes ab. Er bescheibt ihn als dicklichen, kränklichen, armseligen Streber, der er wohl auch war. Ein Schopenhauer und Wagner Fan. Liest man seine Ergüsse: „Das Prinzip der Volkssouveränitat, das sich immer mehr ausbildet und mit seinem Gifte alles begeifert, muss ausgerottet werden.“ Er sieht sich als Übermensch, führt einen Feldzug gegen die Moral, für die Stärke gegen die Schwachen. Er ist einer der bekanntesten INCELS, keine Chancen bei den Frauen, also hasst er sie und demütigt sie in seinen Traktaten wo er kann. Ein Faschist, der andere kleinmachen muss, um sich groß zu fühlen. Etliche Irrenhäuser bewohnt er als Insasse. Nietzsche hat den Platz der gesellschaftszersetzenden Stänkerer und Zukunfstverlierer in „Moralophobia“ redlich verdient. Verwundert hat mich das Erscheinen Bertolt Brechts.

Ja, sein Umgang mit seinen Frauen war unter aller Kanone. Er benutzte sie und wrang sie aus, aber sein Werk ist noch heute in Teilen hochaktuell. Albig beschreibt ihn als „Soldat der neuen Coolness“  und nimmt dazu die Dreigroschenoper und die heilige Johanna der Schlachthöfe als Beleg. Er wirft ihm vor, den Zeitgeist darzustellen, die Spaßgesellschaft der 20er Jahre des 20 Jahrhunderts, das Bauhaus, die Varietés, besonders aber den Satz: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Eine exakte, nachvollziebare Beobachtung, meiner Ansicht nach. Wohl demnächst auch wieder einmal in Deutschland und anderen Ländern zu begutachten, wenn die Regierung(en) nicht an der Umverteilung arbeitet, die Inflation und neokapitalistische dem Gemeinwohl schadendenden Auswüchse in den Griff bekommt und viele Menschen sich ihr Leben nicht mehr leisten können. Brecht als rückwärtsgewandt und Fortschrittshemmend in die Reihe der Moralphobiker einzuordnen, habe ich nicht verstanden. Vielleicht können andere LeserInnen mir das erklären.

Arnold Gehlen, ein Antrophologe, Philosoph und Soziologe, der sich aus seiner Nazivergangenheit (1933 in die NSDAP eingetreten) hinübergerettet hat und verbissen Rechtfertigungen in die Welt blies, Funfakt, sein Cousin Reinhard, Topspion unter Hitler, Chef der antikommunistischen Spitzeltruppe Organisation Gehlen errichtete 1956 den BND, passt wieder in die Liste der Antimoralisten. Arnold Gehlen sieht den „weltumarmenden“ Humanismus als Problem. Er zersetze Hierarchien, den Begriff der Autorität, ihm ist der Sozialstaat zuwider und er fürchtete um den Patriotismus.

Aufklärung über die Ressentiments und Pseudoargumente gegen Moral bietet „Moralophobia“ zur Genüge. Allerdings weniger aus der Gegenwart als aus der Vergangenheit, doch wir können aus der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft lernen. Wenn wir moralisch genug sind, es zu wollen.

Moral, definiert als Schutz der Schwachen in einer Gesellschaft, der Minderheiten und Unterdrückten, gleicher Rechte und Einhaltung der Menschenrechte, als Sicherung der nachfolgenden Generationen sollte doch eigentlich jedem Menschen ein Anliegen sein. Jörg-Uwe Albig behauptet, „… die Vergangenheit braucht keine Moral. Was ohne Moral jedoch nicht geht, ohne Werte jenseits von Eigen-, Klassen- oder Nationalinteresse ist die Zukunft.“

Und hiermit hat er völlig Recht. Darauf zu hoffen, dass die Alten aussterben und mit ihnen die Unmoral aus egoistischer, falschverstandener Freiheitsliebe zu Ungunsten anderer, ist keine wirkliche Option mehr in diesen Zeiten.

Humanismus, gegenseitiger Respekt, Menschrechte und Gleichstellung aller Menschen sind es ebenso wert, dafür lautstark einzustehen wie die Demokratie. Und dazu passt auch ein Satz aus Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe: „Erst muss der Mensch sich ändern, bevor die Welt sich ändern kann.“  Fangen wir im kleinen doch gleich damit an. Denken wir ein wenig nach, wie wir uns verhalten, der Welt, der Natur und unseren Mitbewohnern auf diesem Planeten gegenüber. Ein Blick in die Vergangenheit ist da hilfreich und tröstlich, denn er zeigt, was die Menschheit bereits erreicht hat.

Moralophobia – Wie die Wut auf das Gute in die Welt kam von Jörg-Uwe Albig ist als Hardcover im Juni 2022 bei Klett-Cotta erschienen. Weitere Informationen bei Klick auf das Cover oder auf der Verlagsseite.

Rezension von

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