Ein Statement von und ein Interview mit Peter Schönhöffer

Sicher: Es gab und gibt stets allerlei Gründe, den jetzt wieder einsetzenden, großen Demonstrationen fernzubleiben, so etwa die Furcht vor Polizeigewalt, den Zweifeln an Sinn und Zweck, persönliche Einschränkungen, aber auch Resignation, die zu viele nach wie vor gefangen hält: „Das hat doch alles keinen Zweck. Die da oben – oder die jeweils zum Feind Erkorenen oder wahlweise der Putin oder der Trump oder die EU – machen doch sowieso, was sie wollen.“

Dem engagierten katholischen Theologen Peter Schönhöffer sind alle diese Alltagseinwände nicht fremd, doch stehen ihm andere Einsichten näher. Mit den folgenden, grundlegenden Einsichten im Rücken sieht er Ansätze, um neue bzw. verschüttete Friedenspotenziale zu heben.

Schönhöffer verbindet in seiner Analyse wie in seiner praktischen Tätigkeit Spiritualität mit sozialem Engagement sowie die strikte Zusammengehörigkeit der Themenkreise Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Wichtige Impulse für seine den „gerechten Frieden“ suchende Sozialisation erhielt er in weltumspannenden ökumenischen Gerechtigkeitsbewegungen, insbesondere bei der Stiftung Ökumene, pax christi und Kairos Europa.

Schönhöffer konstatiert „ungeniert manipulierte und vollkommen wahrnehmungsgestörte Öffentlichkeiten sowie eine immer offenkundiger werdende, breit sich entwickelnde Zukunftsvernichtung“. „Vielleicht“, vermutet er, „nimmt die Anzahl und Eindrücklichkeit der Friedensdemonstrationen deswegen so schlagartig zu.“ Doch buchstäblich alles, was jetzt not-wendend werden könnte, geschehe noch immer nahezu unbemerkt von der Einheitslinie des veröffentlichten Meinungskorridors.

Im Folgenden also sein Statement und dann das Interview mit ihm.

Bobby Langer

Ein klarer Blick: Kompromisslos für Frieden – ein Statement von Peter Schönhöffer

Festzuhalten ist: Von den realen Basis-Notwendigkeiten einer internationalen Friedenskoalition zur Beendigung aktueller Kriege kommt in den Top-Themen der Leitmedien noch immer kaum etwas vor. Was zum Frieden ohne Waffengewalt führen könnte, gilt als indiskutabel. Vielmehr richtet sich die Grundwahrnehmung der Situationen in der Ukraine und im Gaza-Streifen auf strukturelle und situative Eskalation oder De-Eskalation bei völkerrechtswidrig und absolut menschenverachtend fortgeschriebener Apartheid (Trump-Plan für Gaza). Für eine echte Debatte um eine grundsätzlich notwendige Neuorientierung und praktische Perspektivenauslotung bleibt immer weniger Raum. Eines ist gewiss: dass wir damit die Wahrscheinlichkeit, die Welt zugrunde zu richten, dramatisch erhöhen. Damit aber muss jetzt und hier Schluss sein.

Angesichts der im Raum stehenden Vernichtungspotenziale gegen Menschen und Mitwelt bei gleichzeitiger Wahrnehmungsverweigerung müssen Friedensrationalitäten formuliert und Friedenspotenziale entschieden gehoben werden.

Immerhin: Nach Mobilisierung von 15.000 bis 20.000 Menschen durch BSW plus Dieter Hallervorden, TV-Moderatoren sowie einschlägigen Musik- und Rapper-Promis gingen am 3. Oktober in Berlin 60.000 bis 100.000 Menschen gegen den jede Menschlichkeit verloren habenden Gaza-Krieg auf die Straße. In Barcelona versammelten sich bei Friedensdemonstrationen mehrere zehntausend Menschen, in ganz Italien waren es über eineinhalb Millionen. Auch Stuttgart war groß dabei. In New York organisierten über 1.000 Rabbiner und jüdische Friedensaktivist/innen eine Demonstration, in der sie eine dauerhafte Waffenruhe in Gaza forderten. Eines wird immer deutlicher: Nicht nur die Anzahl und die in wichtigen Ansätzen und weiten Teilen geteilten Grundsatzüberzeugungen, sondern auch die Nachdrücklichkeit der Demonstrationen und mobilisierbaren „Friedensbewegten“ lässt sich nun kaum mehr stoppen. Wann aber werden sie zu mehr als punktuellen Befriedungen bei ungelösten ökonomisch-ökologischen Zangenkrisen beitragen?

Einige wesentliche Anteile öffentlicher deutscher Kräfte sollten die Gunst der geballten herbstlichen Friedensdemonstrationen schnellstmöglich nutzen und zu ernsthaften Friedensverhandlungen drängen: dass es gilt, auf den anderen zuzugehen und die Positionen des anderen verstehen zu wollen; und dass konsequentes und lösungsorientiertes, kleinteiliges Verhandeln reichere Ausbeute hervorbringen wird als europäische Bewegungslosigkeit oder amerikanische Clownerien. Wann, wenn nicht jetzt auf dem Hintergrund des Rückhaltes der Friedensdemonstrationen im Herbst 2025 kann dies öffentlichkeitswirksam ausgesprochen und allgemein gehört werden?

Und die spezifische Rolle der Friedensbewegung? Den jetzt überall aufgepeitschten Eskalationslogiken ist vehement Einhalt zu gebieten. Die sich in der neuen Friedensbewegung plural und nicht faschistisch versammelnden Strömungen sollten orchestriert, klug, nüchtern, eindeutig und eindrücklich, verlässlich und mitvollziehbar vorgehen. Das bedeutet,

  • dem politisch zum Feind Gewordenen gut überlegte und nach Verlässlichkeit und Wechselseitigkeit rufende ökonomische und diplomatische Angebote zu machen (grüner Wasserstoff plus vertrauensbildende OSZE-Verhandlungen plus Wiedereinsetzung eines mehrheitlich von den USA Schritt für Schritt aufgekündigten UN-Waffenkontrollsystems);
  • den Frieden zu proklamieren und auf den jeweiligen Gegenseiten Kräfte zu finden, die dies auch wollen, und dann in Verhandlungen zu gehen, die die Eskalations- und Grausamkeitsdynamik unterbrechen und unterbinden;
  • die Kriegstrommler und Eskalations-Falken in den eigenen wie in den fremden Reihen abzuwehren und das Wagnis eines umfassenden und vor allem ökonomisch bestandsfähigen Friedens einzuläuten.

Biblisch würde man sagen: Von jetzt und hier an weitermachen, ohne noch einmal zurückzuschauen, vorwärtsgehen ohne inneres Wanken. Es ist kein Zufall, dass einem dazu tiefreichende biblische Wegmarken in den Sinn kommen. Sie werden gebraucht werden. Und ihre Zeit wird kommen. Es gilt, wie das Neue Testament schon wusste, nicht nur „arglos wie die (Friedens-)Tauben“ vorzugehen, sondern zugleich auch „klug wie die Schlangen“.

Jetzt, wo die Not übergroß wird, wächst langsam das stille Heer derjenigen, die zuerst tief in sich, später auch nach außen gewandt, das Potenzial der Feindesliebe erkennen werden. Mit ihr kann der dauerhaft fortbestehende Kriegsgrund von vollkommen gespaltenen Öffentlichkeiten in Ost und West doch noch überwunden werden. Möglicherweise erst aus einer solch tiefen Klarheit werden das Potenzial und die Strategiefähigkeit derjenigen kommen, die zuverlässig wissen: Eine realistische Friedensfähigkeit kann die Lagergrenzen zunächst durchlöchern und dann überschreitbar machen. Eine solche Friedensfähigkeit ist die einzige, noch erreichbare Chance für die Menschheit, ohne dass die Ökosysteme vollends sterben und die Migrationswellen aus unzumutbaren Lebenswirklichkeiten vollends über die privilegierten Zonen hereinbrechen.

DAS INTERVIEW: Die Frechheit, uns selbst zu trauen!

Bobby Langer (BL): „Friedenspotenzial“, das ist ein schöner, ein hoffnungsvoller Begriff. Stammt er von dir? Und kannst du ihn ein wenig erläutern?

Peter Schönhöffer (Sch): Alles andere als das, aber er fühlt sich richtig an, denn Frieden kann „nur gewagt werden“, wie der unvergessene Dietrich Bonhoeffer 1934 aus Anlass der weltweiten, erdumspannenden Ökumene in Fanö (Norwegen) formuliert hat. Frieden sei das einzige große Wagnis. Man komme zu keinem Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Eine solche entschiedene Klarheit gewinnt man erst, wenn man auf das große Ganze schaut und vom Blick auf die gesamte Erde durchdrungen ist. Potenzialentfaltung ist etwas, was in den letzten Jahren unzweifelhaft als Begriff und als Praxis einige Herzen zu erobern begonnen hat. Friedenspotenziale wieder zu heben in uns selber, im Dialog der Generationen, im Aufweichen der sich gerade unglaublich verfestigenden, tief gespaltenen Öffentlichkeiten in Ost und West, die verstörenderweise kaum mehr Berührungspunkte aufweisen.

Und ich sehe es als unsere historische Aufgabe, das Wissen der Friedensbewegung aus den 1980er Jahren zu reaktivieren, das verloren zu gehen droht; hinzu kommen die Erfahrungen der Katastrophe zweier Weltkriege und der Beendigung des Kalten Krieges. Potenzial zeigt sich erst nach und nach. Es will in Mikro-Dosen in und um uns kommunikativ fein und klar gehoben werden – gemeinschaftlich plausibilisiert und zu entfalten im öffentlichen Raum der immer enger abgesteckten Grenzen politischen Denkens und Fühlens. Danach ruft unsere Zeit, um eine berühmte Formulierung von Ernst Bloch wieder in Erinnerung zu rufen. Denn wenn wir nicht öffentlich um Perspektiven ringen, die uns in neue, wechselseitig geteilte Logiken hineinführen, dann schreien buchstäblich die Steine, um noch einmal ein Bibelwort – dieses Mal aus dem Alten Testament – anklingen zu lassen.

BL: Was hat dich bewogen, dich ausgerechnet mit der Frage der Friedenspotenziale zu beschäftigen? Frieden, so das gängige Narrativ, sei gar nicht möglich ohne Krieg.

Sch.: Letztlich kam bei mir die Frage auf: Wie können wir uns in Ost und West neu verbünden und in den unendlichen Traumasümpfen des Nahen Ostens ein verlässlich einschreitender Sicherheitsgarant gegen den fortlaufenden Terror von beiden Seiten sein; und zwar zwingend auf der Basis von Völkerrecht, Rückbau der illegalen Siedlungen und weitestgehender Auseinanderhaltung lebensfähiger Landkorridore. Dazu aber gilt es, nicht nur Empörungs- oder Einzelaktivismus zu kultivieren, sondern breite Mehrheiten zu organisieren.

Notwendige Voraussetzung dafür ist es, so viel wie möglich Fühllosigkeit, Ressentiment und die Leitplanken unserer Vorurteile in uns selber auf- und abzuräumen. So können wir einander zur Hoffnung werden. Mit Friedensdemonstrationen in kurzen Abfolgen, mit dem Hören auf Friedensforschung und Friedensbewegung sowie durch beständigen Druck auf die politisch Handelnden vermögen wir vielleicht, den beispiellos fugendichten öffentlichen Diskursraum zu öffnen, zu kultivieren und eine Friedenslogik (Hanne Bickenbach) zu halten; so können wir jene „Hoffnung schaffen und verkörpern“, wozu Norbert Copray einmal ein schönes Buch geschrieben hat, die in immer weitere Ferne gerückt erschien.

Fugendicht: Das bedeutete u. a., dass Matthias Platzeck, Harald Welzer und Richard David Precht (mit ihrem Buch über die vierte Gewalt), der Erhard-Eppler-Kreis, aber auch Positionen von Gabriele Krone-Schmalz oder Sarah Wagenknecht allesamt für nicht mehr diskussionswürdig erachtet und moralisch abqualifiziert wurden. Da ist mir schlagartig etwas Grundsätzliches klar geworden. Die Kontrolle des öffentlichen Raumes mit einer reichlich einseitigen, wenig informierten, über die Expertise von Bundeswehrhistorikern (Sönke Neitzel) und Bundeswehrpolitologen (Carlo Masala) gesteuerten Stoßrichtung droht komplett versiegelt zu werden, zumal sie durch von langer Hand voreingerichtete Osteuropa-Forschungs-Expert/innen fortlaufend untermauert wird. Einwände der Friedensbewegten wie Andreas Zumach, Clemens Ronnefeldt, Fernando Enns oder Wolfgang Palaver werden systematisch gar nicht mehr erst öffentlich zugelassen.

Nun braucht es in erster Linie klare und realisierbare Perspektiven. Denn noch immer kann jederzeit wieder aufploppen, was historisch, wenn es hervorkam, fast immer verheerend gewesen ist: Siegeslogiken, Auslöschungsfantasien, selbstverständlich auch von Seiten Russlands oder der Hamas, Eskalationslogiken aus der Position wirtschaftspolitischer Ignoranz und ökologisch-weltgesellschaftlicher „Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität“, gespeist aus unerlöst-selbstherrlichem Nato-Siegestaumel oder fehlender historischer Klugheit und aus vermeintlicher moralischer Gewissheit oder im Gaza-Konflikt auch aufgrund unlösbarer Dilemmata: Die Alternativen, die unbedingt erzwungen werden müssen, werden gar nicht erst im Diskurs zugelassen.

BL: Was vermisst du im öffentlichen Krieg-Frieden-Diskurs?

Sch.: Am 26. Januar 2017 warnte Ex-Präsident Gorbatschow in einem Gastbeitrag für das Magazin Time: „Immer mehr Truppen und Panzer werden in Europa in Stellung gebracht.“ Als ob er den jetzt gerade massiv vorangetriebenen Ausbau der zentralen US-amerikanischen Basis für Europa im pfälzischen Ramstein und das deutsche Bataillon in Litauen vor Augen gehabt hätte. Die Nato und die russische Armee, so warnte er, rückten immer näher aufeinander zu, sie stünden sich inzwischen in Schlagdistanz gegenüber.

„In den Staatshaushalten, die kaum noch ihre sozialen Aufgaben bewältigen, wachsen die Militärausgaben“, befand Gorbatschow. Für moderne Waffen, manche mit der Schlagkraft früherer Massenvernichtungswaffen, sitze hingegen das Geld locker. „Es sieht aus, als ob sich die Welt auf einen Krieg vorbereitet.“

Heute erscheint diese Ansage wie eine frühe Prophetie, die jetzige Lage wirkt allerdings um ein Vielfaches angespannter, besonders wenn man mit hinzuzieht, dass das exorbitante Aufblähen des deutschen Rüstungsetats, das den Haushalt und mit ihm den sozialen Frieden im Land innerhalb nur sehr weniger Jahre mit übergroßer Wahrscheinlichkeit in Stücke reißen wird, jetzt schon durch eine wohlfeile, selbstgefällige, breitflächig betriebene oder ahnungslos übernommene Polemik gegen Bürgergeldempfänger, gegen Faule oder gegen „Kriegsmüde“ bei weiterer Ausklammerung der „Superreichen“ orchestriert wird.

BL: Gibt es bestimmte Zielgruppen, an die du dich besonders wendest, und wo du noch Hoffnung siehst?

Sch.: Zielgruppen werden nicht reichen. Wir brauchen umfassende Programme und tiefgreifende Basis-Veränderungen, wenn wir noch eine Chance haben wollen. So etwa, wie Adelheid Biesecker, eine der großen Vordenkerinnen feministischen Wirtschaftens, immer wieder betont hat, einen Dreiklang aus Care-Revolution, Reproduktionsverschiebungen und eine darauf aufbauende friedensfähige Ökonomie. Der Weg dahin ist weit und steinig. Ohne dass wir ihn sehr real und sehr umfassend und umsichtig mit kommunikativer Klugheit begehen, werden unsere Friedensbotschaften verklingen. Sie werden in den Ohren der sozial-emotional taub gemachten Mehrheiten als idealistisch oder naiv erscheinende Friedensappelle wahrgenommen. Deswegen gehört es zum notwendigen Überlebensprogramm, Seelenkräfte aufbauende Resonanz-Räume und Resonanz-Zeiten zu erschaffen, horizontal, vertikal und diagonal (Hartmut Risa), und zwar vielfältig, freundschaftlich, Verbundenheit stiftend.

Was wir wirklich brauchen, ist mehr als zielgruppengerechte Ansprache, wir benötigen vielmehr gut informierte, historisch versierte und abrüstungstechnisch auf der Höhe der Zeit befindliche Journalist/innen, die neue Diskursräume allererst eröffnen und dauerhafte Friedenslogiken plausibel begründen können – und zwar für die nachwachsende Generation so passend, dass sie in den dortigen Rezeptionsmustern von Influencer/innen verarbeitet werden können. Ganz wichtig auch: reale Friedensperspektiven, gekoppelt mit Aussöhnung und wirtschaftlichen Entfeindungs-Angeboten.

BL: Wenn du von „Friedenspotenzialen“ sprichst, steht im Hintergrund die Idee der „Kriegspotenziale“. Wer treibt diese voran und warum? Gibt es gar eine Zielgruppe, wo „Hopfen und Malz verloren“ sind?

Sch.: Nun, es gibt die TV-Experten und Welterklärer/innen, die nun immer wieder aufs Neue herangezogen werden, egal ob die vollständig in Lobbyismus verstrickte FDP-Expertin Strack-Zimmermann, der Bundeswehr-Hochschul-Wissenschaftler Carlo Masala, die Generalität oder die von interessierter Seite von langer Hand aufgebauten Osteuropa-Studien-Experten an den Universitäten. Sie haben nichts anderes zu tun, als den absolut (nicht relativ!) verhängnisvollen Pfad der weitergeführten gegenseitigen Eskalation aus Panik, historischer und sachlicher Unkenntnis oder welchen Motiven auch immer ins Extrem zu führen und die öffentliche Meinung dadurch entscheidend zu beeinflussen. Auch die Auswahl der zugelassenen Gesprächspartner in den wichtigen Talkshows lässt gar keinen anderen Schluss mehr zu, als dass man Sprecherpositionen in der Öffentlichkeit (fast) nur noch an handverlesene Bellizisten vergibt. Besonders fatal: An ökonomische Analysen internationaler Beziehungen traut man sich gar nicht mehr heran. Die durchaus vorhandenen, wirklich kontroversen Sachmeinungen sind schon lange vorab als nicht publizierbar ausgeschieden und fugendicht für indiskutabel erklärt, wenn nötig öffentlich ehrabschneidend ausgegrenzt worden.

Was in unserer jetzigen historisch zu werden drohenden Situation wirklich zu denken gibt: All dies geschieht nicht orchestriert oder aufoktroyiert, sondern smart und freiwillig, aufgrund eingeengter Gesichtsfelder der entscheidenden Gremien, Quotendruck, nicht mehr vorhandener klarer Horizonte bei Berater/innen und handelnden Personen in Parteipolitik und Medienlandschaft und ja, auch einem ganz allgemein verloren gegangenen historisch-politischen Bewusstsein und den entsprechenden Wissensschätzen. Man muss auch das einmal nüchtern aussprechen: Ja, wir haben auch ein Journalisten- und ein Netzwerkproblem. Und zu allem Überfluss auch noch ein Uneinigkeitsproblem in der Friedensbewegung, das wir erst im Zuge der Demonstrationen vom 3.10.2025 jetzt wieder zu überwinden uns anschicken.

BL: Du sprichst von einer Verengung des Denkens, ja geradezu einer „Verblendung“. Kannst du das näher ausführen?

Sch.: Was als Schlüsselbegriff der Frankfurter Schule einmal „Verblendung“ hieß, lässt sich nun wirklich exemplarisch mit Händen greifen. Die Scharfmacher auf beiden Seiten des neuen Kalten Krieges und der sie verschlimmernden „cultural wars“ wetzen wie gewohnt ihre Messer, Demagogen wie Trump, Bolsonaro, Erdogan, früher Duterte und heute Bukele greifen mit immer rabiateren und unappetitlicheren Mitteln in ein ideologisches Vakuum, und zunehmend ist nicht nur den Putins, Orbans und Ficos dieser Welt jedes noch so demokratieverachtende Mittel recht, bedienen sie sich immer abenteuerlicherer und niederträchtigerer Vorgehensweisen. Die Zivilgesellschaften werden zu „shrinking spaces“. Die sie bislang aufhaltenden weitblickenden Beobachter und Berater, gut ausgebildete Konfliktbearbeiter, das Fachpersonal für die OSZE- und UN-Verhandlungsarenen – alle diese Personengruppen wachsen in den jüngeren Generationen nicht mehr nach, auch die politischen Entscheidungsträger verlieren sichtbar an Kontur und vor allem an intellektuellem Format. Folglich wittern die einfacher gestrickten Rüstungsbauer und ihre Verkäufer ihre Chance, bringen sich in Stellung und verzwanzigfachen binnen der Jahre des Russland-Ukraine-Krieges ihre Aktienwerte (Rheinmetall). Auch die Berufsgruppen der Politikberater/innen, Journalist/innen und Influencer/innen nutzen ihre Spielräume nicht, weil sie sich geistig nicht breit und ausgewogen genug ernährt haben. Den Gesamtzusammenhang davon kann man mit Fug und Recht „Verblendung“ nennen.

BL: Bellizisten unterstellen Friedensfreunden regelmäßig Naivität bzw. mangelnden Realismus. Welche realistischen Friedensperspektiven haben eine Chance, zu umsetzbaren Friedenspotenzialen zu werden?

Sch.: Der Kern wird immer sein, das Leid des jeweils anderen anzuerkennen, seine Lesart der Geschichte miteinzubeziehen; ökonomisch und ohne Gesichtsverlust muss es für beide einen Weg nach vorne geben. Ohne das geht es nicht. Man muss die Beweislogik umkehren. Nicht die Friedensbewegten haben eine Nachweispflicht, nicht naiv zu sein, sondern die systematisch und jahrzehntelang Herrschaftsverliebten und Terrorbefürworter, die Aufrüster und Kriegspropheten. Wie viel Leid haben sie jetzt schon verursacht, welche Perspektiven sollen nach dem Zeitalter der angekündigten Kriege, Geißelnahmen und Vernichtungsfeldzüge noch möglich sein? Vielleicht geht es jetzt wirklich um die schrittweise Abschaffung der Institution des Krieges. Und zwar auf breiter Linie: von gewaltfreier Kommunikation als verpflichtendem Schulfach, einer Erinnerungskultur, die das Eingedenken fremden Leids obenan stellt, verbindlichen Streitschlichterprogrammen schon in früher Jugend, in Deutschland aufbauend auf den ökumenischen Erfahrungen von „Schritte gegen Tritte“, Bündnissen wie „Nein zur Wehrplicht“ bis hin zur rechtlichen Abschaffung der Institution des Krieges. Die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, die Unesco, fördert bereits seit einiger Zeit Programme und Projekte zu umfassenderen Kulturen des Friedens. Das wäre jetzt dran. Denn das ist auch kulturgeschichtlich in der großen Entwicklungsrichtung.

Die interreligiös geweitete ökumenische Bewegung koordinierte Aufrufe von Leonardo Boff und anderen und bildete Erdcharta-Botschafter/innen aus. Einige Jahrzehnte später erblickten die „Peace for future“-Aktivist/innen das Licht der Welt, wiederum junge Menschen, die von einer ökumenisch-christlichen Initiative, nämlich Ralf Beckers „Sicherheit neu denken“, ausgebildet worden waren. Wir brauchen jetzt das Zusammenschnüren all dieser Aufbrüche zu einem Gesamtprogramm. So wie Kairos Europa immer eine neue Zivilisation gefordert und gefördert hat, die ökonomisch, ökologisch und kulturell-spirituell aufbauend unterwegs ist. Die „old player“ – GEW, DFGVK, Stadtschüler/innenräte, pax christi – sind mit den „new playern“ der neuen kulturellen Bewegungen, der „Together for future“-Familie, den „scientist und christian rebellions“ zu vernetzen. Nur so kann ein Umdenken breit und tief Raum greifen und mehrheitsfähig werden.

Es braucht jetzt Weitblick, Vorausblick, Scharfblick, Einblick und feinfühliges Mehrebenendenken. Und dazu die Nutzung neuer interkulturell validierter Kulturtechniken wie „art of hosting“, „interbeing“, „emergent dialogues“ sowie weitgreifender global bereits im „pocket project“ Traumaheilungsbewegungen.

BL: Demgegenüber steht die notwendige Weitung im Geist, nicht wahr?

Sch.: Auch auf einer individuellen Ebene muss gearbeitet werden. Hier gilt: Alles, was wir in Bewegung bringen, kann sich transformieren. Was wir festhalten, bleibt fest und macht fest. Im Denken, im Fühlen. In den denkbaren, fühlbaren Perspektiven. Erlauben wir dem Stress, den die Kriegssituationen und der Verlust an Anstand in uns auslösen, durch uns hindurchzufließen. Es darf uns bewegen. Die Aufrechten schüttelt er eh bereits von innen durch. Kannst du das erlauben? Lass diesen Stress zu als ein Schütteln von innen. Nutze ihn. Geh ihm nicht aus dem Weg, bleib dran! Und schüttle dich mal so in diesen Stress rein, bis es anfängt, dir Spaß zu machen. Öffne dich körperlich für das Erleben von Stress, von Angst, von Sorgen. Fall nicht aus dir selbst raus. Die Welt darf dich sehen. Du verlierst keine Energie. Und du bleibst dieses strömende, pulsierende Körper-Tier. Alles an dir ist wichtig, lebendig. Bleib da, bleib präsent. Solange du etwas spürst, ist das eine gute Nachricht. Was wir wirklich zu fürchten haben, ist die Hölle des Nicht-Spürens. Weil wir nicht mehr spüren, dass wir nicht spüren. Ilan Stephanie spurt hier die Wege für neue kulturelle Substanzbildung.

Wenn wir das alles nicht tun und uns verkriechen, uns in Ideologien oder Fundamentalismus oder Selbsthass einbuddeln, kostet uns dies Kraft, Lebensfreude und mit ihr „soziale Fantasie“, wie Oskar Negt nie müde wurde zu betonen. Auf diese Weise einen „gamechanger“ einzubauen, damit wir interkulturell beziehungsfähig und beweglich werden, das wird möglicherweise unerlässlich werden in diesen Vor-Kollaps-Situationen, die, sich verstärkend, auf vielerlei Ebenen abgleiten. Geist und Wahrheit kommen selten wie von Zauberhand. Der Mensch muss sich darauf vorbereiten, damit er sie empfangen und kultivieren kann. Körperarbeit und Traumaheilung verbinden wirklich. Das bedeutet, er muss zu einer Einstellung finden in der Art: Die Herausforderungen meines Lebens machen mich energetischer, geben so Kraft, statt sie zu rauben.

BL: Welches Friedenspotenzial billigst du jungen Leuten zu? In Sachen Ökologie haben sie in den letzten Jahren die Politik ja schon mal ordentlich aufgemischt.

Sch.: Das Friedenspotenzial junger Leute müssen die jungen Leute selbst in sich freilegen. „Peace for future“ ist von der mittleren Generation aus „Sicherheit neu denken“ ausgebildet worden, steht aber jetzt zunehmend vor eigenen Projekten und arbeitet auch methodisch auf ganz eigenen Füßen. So könnte die Weitergabe von Know-how, Haltungen und Kenntnissen funktionieren. Inklusive des Loslassens und Freilassens der Jüngeren, wenn sie so weit sind. Aber sie müssen unbedingt den Kontakt und Austausch zwischen den Generationen halten.

Und ja, die Fridays haben unendlich viel bewirkt, vordergründig und hintergründig. Aus ihnen ist die „Together for future“-Familie hervorgegangen, mit allein über 20.000 Scientists for Future. Einen Moment lang schienen wir in der CO2-Frage als Gesamtgesellschaft einigermaßen gleichauf mit der drastischen Notwendigkeit schnellen und systematischen Umsteuerns zu kommen. Das alles ist Hoffnung erweckend, dass es gehen kann, mit globalem Horizont und Ausläufern weltweit. Unfassbare Massenmobilisierungen für die richtige Sache sind möglich. Es bleibt ja wahr: Auch der Frieden braucht junge Protagonist/innen, jugendgemäße Mobilisierungen. Sein Themenfeld ist freilich weniger sexy – und, was die Shell-Studien verraten, auch weniger greifbar. Doch das kann sich ändern, wenn noch klarer wird, was auf dem Spiel steht – und wenn die Pionierleistungen der letzten Wochen zügig wahr- und aufgenommen, verstärkt und multipliziert werden.

BL: Wie schätzt du die Initiative „Criminalize War“ des ehemaligen malaysischen Ministerpräsidenten Mahathir bin Mohamad ein? Den Gedanken, dass Mord grundsätzlich eine abscheuliche Handlung darstellt, haben alle großen Religionen gemeinsam – auch wenn gerne mal, nicht nur im Christentum, Ausnahmen zugelassen werden. Könnten nicht Christen sich auf dieser Basis für den Frieden engagieren – ganz unabhängig von Konfession oder obrigkeitlichen Vorgaben

Sch.: Alles, was den geistigen Raum öffnet und materiell-spirituelle Doppelstrategien hervorgehen lässt, muss, so gut es geht, genutzt werden. Daran wird kein Weg vorbeigehen. Wer immer solche Ansätze erkennt, möge sie ausbuchstabieren und mithelfen, sie groß zu machen.

BL: Bei allem, was du sagst, schwingt – gefühlt – Hoffnung mit. Richtig? Aber vielleicht braucht es ja noch mehr als „Hoffnung“?

Sch.: Menschen sind nicht nennenswert glücklich und ausbalanciert, wenn sie genügend von allem haben und sich mit Unwesentlichem abschießen. Menschliches Sich-lebendig-Fühlen, frei und stark, individuell und kollektiv auf ein paar Lösungen kommen, hängt von ganz anderen Dingen ab: ein spürendes, pulsierendes Nervensystem, das sich entlang seiner Sinne und seines Körpers orientieren darf. Dann entfaltet sich das Gefühlsleben gesund, ohne Drama, ohne Kollaps … Wellen von Durchflutet-Werden, das Kraft gibt. Im wirklichen Sinne intelligent sein, geht über das hinaus, was nur still sitzt und im Kopf klug wird. Wirkliches menschliches Potenzial schaltet sich nur frei, wenn Menschen körperlich sind, ihre Grenzen kennen. Unkörperlichkeit drückt auf alle Lebensbereiche die Bremse. „Wenn wir wieder wahrnehmen“, hat uns Heike Pourian ins Stammbuch geschrieben …

Unser Potenzial zu öffnen, hängt nicht nur von Selbstbildern, Glaubenssätzen, Überzeugungen aus Kindheit oder Traumata ab. Die Ebene, die das Ganze zementiert oder eben verändern kann, ist und bleibt der Körper. Früh schon erkannte der Soziologe Vester, wie die sozialen Schichten im gesellschaftlichen Strukturwandel auf Welt und Weltveränderung eingestellt sind, nämlich zu 60 Prozent apathisch und passiv-aggressiv. Auch Hartmut Rosa erkannte 20 Jahre später die Bedeutsamkeit ablehnender Muster von Weltbegegnung. Wenn wir da nicht herauskommen, kommen wir nicht auf Friedensperspektiven – und erreichen sie erst recht nicht gesellschaftlich. Mittlerweile wissen wir: In Aufrichtung, offener Atmung und Freiheit der Gelenke (als seien wir kostbar, lebendig, liebenswert!), wird mit viermal größerer Wucht vom Körpergehirn zum Kopfgehirn gefunkt als umgekehrt: Wir sind ekstatisch, lebensvoll etc. Es geht also darum, Bewegungsmuster, Körpermuster umzustülpen, damit sie etwas anderes glauben als an die eigene Wertlosigkeit. Kollaps, das heißt, die Arme sind schlapp und leer und meine Beine spüre ich gar nicht mehr so richtig. Der Kollaps der Körper geht dem Kollaps des Geistes und der Kriegsangst voraus.

Geh in die älteste Sprache der Welt: das Vibrieren. Wenn uns das gelingt, dann werden wir das auch glauben. Und fast wie von allein Friedenspotenziale heben. Der neue Weg in die Verkörperung ist nicht gebahnt, oft vernachlässigt. „Die Menschen können es der Wahrheit nicht verzeihen, dass sie so einfach ist“, wusste noch Meister Johann Wolfgang Goethe. Jede Zelle unseres Körpers ist intelligent. Auch wenn das Vibrieren zunächst Angstsignale in unserem bisherigen Wahrnehmungssystem auslöst. Die Welle im Nervensystem wird sich aufbauen und wieder kleiner werden – wie eine Welle sich eben aufbaut. Die meisten Menschen verbringen ihr ganzes Leben mehr oder weniger im Kollaps: „Mein Leben ist mir zu viel. Ich bin erschöpft. Ich kann nicht mehr.“ Den Kollaps zu spüren und aufzulösen, ist aber eine Goldgrube, weil in diesem Zustand Energien gespeichert und Gefühle zurückgehalten sind. Das Spüren ist die Basis für ein gesundes Spüren. Ausatmen, Parasympaticus: Jetzt kann sich etwas integrieren. Also: Her mit den Triggern!

BL: Von Bonhoeffer und Heribert Prantls neuem Buch „Den Frieden gewinnen“ nimmst du den wichtigen Satz „Frieden sei ein Wagnis“. Ist es erforderlich, dem Wagnis des Friedens das Wagnis des Krieges gegenüberzustellen?

Sch.: Ich bleibe überzeugt davon: Dass die Fundamente der Welt anders aufgestellt werden, ist nötig und möglich. In Zeiten voller Unsicherheit, Selbstrückzug und Energieverlust brauchen wir mehr denn je Klarheit und Orientierung. Das aber entsteht nicht allein im Kopf. Orientierung wächst wieder, wenn wir uns verbinden, aber womit? Wo sind wir abgeschnitten von uns selbst, wo nur noch eine leere Hülle, eine trügerische Art von Stille und Isolation? Also womit? Mit uns selbst, mit unserem inneren Kompass, mit dem Größeren, das uns trägt. Es geht um den Moment, in dem dein Nervensystem neu lernt. Bleib dabei! Die Intensität verbrennt das Alte und bringt dich neu auf die Welt! Überall bricht das Niedergehaltene auf! Flügelschläge in die richtige Richtung. Die Themen lösen sich nicht, wenn wir wohltemperiert isoliert bleiben. Ohne kulturellen Tiefenwandel keine Friedenspotenziale.

Also spür einen Moment hinein in die Kostbarkeit deines Herzens. Etwas in deinen Zellen ist immer intakt geblieben. Dein Leben ist von großem Wert. Dich selber abzulehnen, ist pure Zeitverschwendung. Damit hören wir jetzt gemeinsam auf. Und unterstützen uns dabei. Mit Seelsorge und Körpersorge zur wechselseitig geteilten Wirklichkeitswahrnehmung. Das ermöglicht Friedenstüchtigkeit. Über die Füße geben wir diesen Rhythmus des Friedens in die Welt, tragend mit uns selbst und mit denen, die so komplett anders geworden sind als wir; das Menschsein ist uns allen gemeinsam. Der Raum nach vorne ist groß und leuchtend, und er ist offen. Aber er wird nicht gegeneinander zu gewinnen sein, mit brachial gespaltenen Öffentlichkeiten in Ost und West schon gar nicht, die nichts aber auch gar nichts mehr miteinander zu tun haben und auf krasse Kriegstüchtigkeit getrimmt werden auf beiden Seiten des neuen eisernen Vorhangs – und im Ausagieren von Vernichtungsfantasien im Nahen Osten auch nicht.

Besinnen wir uns auf unsere ganze, wiedergewonnene Würde, den Tortenboden der wechselseitigen echten Wahrnehmung, die Demut vor dem eigenen und dem fremden Herzen, die Selbst- und Fremdliebe, die entparadoxierende Feindesliebe, die Frechheit, uns selbst zu trauen: dem, was wir tief in uns fühlen, erfahren haben und spürbar halten müssen.

Das Gespräch führte Bobby Langer von der Internetplattform Ökoligenta.de


Peter Schönhöffer ist im Vorstand von Kairos Europa Deutschland e.V.
(https://kairoseuropa.de)