Was wir heute brauchen, ist nicht mehr Kontrolle über einzelne Bereiche, sondern mehr Verständnis für das große Ganze. Wir brauchen eine Politik der Fürsorge statt der Herrschaft. Wir brauchen eine Lebensweise, die nicht trennt, sondern verbindet. Denn letztendlich sind wir keine einzelnen Teile. Wir sind Teil eines Netzwerks, das uns trägt, auch wenn wir es oft nicht sehen. Und genau dieses Netzwerk, dieses lebendige Ganze, gilt es zu verteidigen.

Von Fernando Salinas

Wir leben in einer Welt, deren Struktur seit Jahrhunderten in Teilbereichen gedacht wird. Beispiele dafür sind Körperteile, Bestandteile der Natur, Wissensbereiche, Landesteile und Machtbereiche. Diese Sichtweise war für die Entwicklung der Wissenschaft, die Bildung von Regierungen und die technologische Entwicklung nützlich. Doch dadurch haben wir auch etwas Grundlegendes aus den Augen verloren: dass die Realität nicht aus isolierten Teilen, sondern aus Beziehungen, Netzwerken und einem lebendigen Ganzen besteht.

Die Betonung einzelner Teile hat ihren philosophischen Ursprung in den Gedanken René Descartes’, der vorschlug, komplexe Dinge in einfachere Teile zu zerlegen, um sie besser verstehen zu können. Diese analytische Methode ermöglichte zwar große wissenschaftliche Fortschritte, führte aber auch zu einer fragmentierten Sichtweise der Welt. Vor diesem Hintergrund behaupteten Strömungen wie die Gestaltpsychologie, dass „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“ und erinnerten uns daran, dass es Strukturen und Bedeutungen gibt, die sich nicht erschließen, wenn wir nur die einzelnen Elemente betrachten.

Wenn wir einen Fluss als „Wasser“, einen Wald als ‚Biomasse‘ oder eine Gemeinschaft als „Bevölkerung“ analysieren, bedienen wir uns einer Denkweise, die trennt, um zu verstehen. Die Griechen fassten dies unter dem Begriff ‚Logos‘ zusammen – Vernunft, Sprache, Logik. Logos hilft uns, Modelle, Theorien und Konzepte zu entwickeln, mit denen wir die Welt erklären können. Aber das hat seine Grenzen: Logos kann nicht das Ganze erfassen, wie es ist. Er kann Fragmente analysieren, aber er kann nicht die Gesamtheit des Realen erleben.

Vielen philosophischen Traditionen haben schon oft darauf hingewiesen. Im Buddhismus beispielsweise heißt es, dass nichts eine eigene Existenz hat: Alles hängt von allem ab. In der ökologischen Philosophie, wie sie beispielsweise von Arne Naess oder Félix Guattari vertreten wird, wird betont, dass der Mensch Teil eines Beziehungsgeflechts ist – mit der Erde, mit Menschen und mit sich selbst – und nicht als separate Einheit gedacht werden kann. Die Vorstellung, dass wir autarke Individuen sind, ist eine moderne Illusion, die uns nicht mehr weiterhilft.

Dies ist nicht nur ein theoretisches Problem. Es hat direkte Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir unsere Gesellschaften organisieren. Die Politik behandelt Themen oft isoliert. Gesundheit, Umwelt, Wirtschaft, Sicherheit. In der Praxis hängen jedoch alle Bereiche miteinander zusammen. Wenn beispielsweise ein Fluss verschmutzt wird, hat dies Auswirkungen auf die Gesundheit, die lokale Wirtschaft, die Artenvielfalt und sogar auf die Identität einer Gemeinschaft. Wenn eine Straße durch einen Wald gebaut wird, verändert sich ein ganzes Beziehungsgeflecht, das wir möglicherweise gar nicht wahrnehmen.

Aus diesem Grund zeigen Erfahrungen aus aller Welt alternative Wege auf. Der ökologische Kommunalismus schlägt beispielsweise vor, Entscheidungen auf lokaler Ebene unter direkter Beteiligung der Bevölkerung und unter Berücksichtigung der Ökologie des Gebiets zu treffen. In einigen Dörfern Europas und Lateinamerikas wird diese Organisationsform bereits praktiziert. Dabei steht nicht die Macht von oben, sondern die Fürsorge von unten im Vordergrund.

In Südamerika haben indigene Völker neue Paradigmen vorgeschlagen: eine Lebensweise, die auf dem Gleichgewicht mit der Natur, der Gemeinschaft und der Spiritualität basiert. Hier ist die Erde keine Ressource, sondern eine Mutter: „Ñuke Mapu” (Mapuche) und „Pachamama” (Anden). Politik beschränkt sich nicht auf Wahlen und Gesetze, sondern zeigt sich in der Art und Weise, wie man sät, teilt, miteinander spricht und sich an die Vorfahren erinnert.

Die Menschen kämpfen nicht nur um Land, sondern auch um Lebensweisen, die das Territorium als lebendiges Wesen betrachten und nicht als Eigentum. In diesen Kämpfen steckt eine Weisheit, die die moderne Welt dringend benötigt. Nicht alles lässt sich messen, aufteilen oder verwalten. Manche Dinge kann man nur pflegen.

Der Philosoph Edgar Morin, einer der einflussreichsten Vertreter des komplexen Denkens, ist der Ansicht, dass wir eine neue Form der Politik benötigen. Eine Politik, die versteht, dass alles miteinander verbunden ist: der Geist mit dem Körper, der Einzelne mit der Gesellschaft und der Mensch mit der Erde. Es geht nicht darum, die Vernunft abzulehnen, sondern sie durch Sensibilität, Intuition und Beziehungsbewusstsein zu ergänzen.

Was wir heute brauchen, ist nicht mehr Kontrolle über Teilbereiche, sondern mehr Verständnis für das große Ganze. Wir brauchen eine Politik der Fürsorge statt der Herrschaft. Eine Lebensweise, die nicht trennt, sondern verbindet. Denn letztendlich sind wir keine Einzelteile. Denn letztlich sind wir nicht voneinander getrennte Teile, sondern eingebettet in ein Netzwerk, das uns trägt – auch wenn es oft unsichtbar bleibt. Und genau dieses Netzwerk, dieses lebendige Ganze, gilt es zu verteidigen.

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Angela Becker vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!