Gewissen ist ein altmodisches Wort. Wenn es einst um die Frage ging: „Soll ich bzw. darf ich oder darf ich nicht?“, dann nannte man solch eine Überlegung eine „Gewissenserforschung“. Voraussetzung dafür war, dass man zwischen „richtig“ und „falsch“ schwankte; dass man wusste, dass beide Begriffe keinen Punkt darstellen, sondern vielmehr Felder, die sich im schlimmsten Fall sogar überschneiden konnten, die Entscheidung also fehleranfällig war. Schritt man endlich zur Tat, dann machte man sich dabei ein Gewissen. Anschließend hatte man dann, hoffentlich, ein gutes Gewissen.
von Bobby Langer
Ich fürchte, heute belächelt man Menschen, die das Gewissen als Grundlage ökonomischer, ökologischer und politischer Entscheidungen fordern. Sie werden mit dem Schimpfwort „Gutmensch“ abgetan, anschließend geht man zur gewissensliberalen Tagesordnung über. Albert Schweitzer mit seinem Dictum „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ erginge es da nicht anders. Nicht nur wird Gewissen als Handlungsgrundlage verunglimpft, es ist schlimmer. Denn Gewissen wird sogar vorgeschützt, um gewissenloses Handeln zu rechtfertigen, etwa so: Ein Vater, der – verdienstvoll – seine Kinder über Wasser halten will, darf bei der Herstellung oder dem Vertrieb von Zyklon B* (Drohnen, Napalm oder Atombomben) schon mal ein Auge zudrücken.
Der böse Abteilungsleiter
Aber darum geht es im Moment nicht. Wenn wir schon einmal bei Gift sind, dann überlegen wir uns Folgendes. Nehmen wir an, ich würde planen, den Kollegen P. zu vergiften. Er steht mir auf der Karriereleiter im Pharmaunternehmen im Weg und hat mich in der Vergangenheit schofelig behandelt; ein Charakterschwein, genau genommen. Als strategisch planender Mensch habe ich meine Frau in meine Pläne miteinbezogen, denn Frauen sind in solchen Dingen klüger als Männer. Sie ist eine leidenschaftliche Reiterin, kann sich aber ihr Traumpferd – noch – nicht leisten. Nach sorgfältiger Recherche haben wir ein Gift gefunden – es gibt mehr Gifte, als sich die Schulweisheit des gemeinen Mannes träumen lässt –, das langsam, sehr langsam wirkt und im Morgenkaffee des Kollegen nicht vorschmeckt. Seine im Lauf weniger Wochen abnehmende Gesundheit werde ich mit ostentativem Mitgefühl begleiten und ihm nun „kollegial“ seinen Kaffee an den Platz bringen. Auch werde ich seine Tasse wieder in die Kaffeeküche zurücktragen – er ist inzwischen doch etwas hinfällig – und dort sorgfältig auswaschen. Selbstverständlich habe ich alle Spuren verwischt, indem ich das „Mittel“ aus verschiedenen, einfach zu besorgenden Substanzen selbst herstelle.
Der Plan geht auf
Als Abteilungsleiter habe ich ein mir ergebenes Team, das von der geplanten „Flurbereinigung“ ebenfalls profitieren wird. Mein Monatsgehalt würde dann um 24.000 Euro steigen, das „meiner Leute“ um je 9.000 Euro. Und wer weiß, ob da nicht noch Luft nach oben wäre. Aber man ist ja bescheiden. Ich werde nun meine Kollegen bitten, mir in der Firma die „Zutaten“ für mein Rezept „unter der Hand“ zu besorgen. Sie sind Pharmazeuten wie ich; also werden sie sich Gedanken machen, aber sie werden die peinliche Frage nach dem Warum nicht stellen. Die Ahnung, die sie vielleicht beschleicht, werden die meisten von ihnen unter den Karriereteppich kehren. Manche werden sich mit ihrem Partner austauschen, der ihnen eventuelle Gewissensbisse ausredet. Was soll ich sagen? Mein Plan geht auf. Zwar hält P. länger durch, als kalkuliert, so dass ich eine größere Investition verschieben muss, aber endlich scheidet er friedlich dahin. Er hat schon immer ein wenig gekränkelt. Die ganze Abteilung nimmt Abschied, ich drücke der Witwe die Hand. Und werde befördert. Was will man mehr.
Wenn man doch von nichts gewusst hat …
Bestimmt konnten Sie mitempfinden, wie das Thema Gewissen in meinem Beispiel als Unterströmung ständig zugegen war. Auch am simplifizierendsten Stammtisch dürfte die Gewissenlosigkeit des mörderischen Abteilungsleiters nicht bestritten werden. Doch wie steht es mit dem Gewissen der Frau? Jeder Staatsanwalt, sofern er der Sache auf die Schliche käme, müsste ihr nachweisen können, dass sie um die finalen Pläne ihres Gatten wusste. Nur dann könnte er sie wegen „Beihilfe zum Mord“ verklagen. Aber sind wir nicht alle Meister darin, unliebsame Gedanken gar nicht erst zu denken? Nicht auf ihr Gewissen hat ihr Mann gesetzt, sondern auf ihre Gier, wohl wissend, welch starker „Treiber“ diese Todsünde ist. Und schließlich sind da die Mitarbeiter des Abteilungsleiters, die ihm die „Zutaten“ besorgt haben. Schon die Tatsache, dass sie die fragliche Chemikalie „unter der Hand“ besorgen sollten, musste sie misstrauisch machen. Andererseits sind sie dankbar, so einen loyalen Chef zu haben und schließlich macht einen ja nicht heiß, was man nicht weiß. Gewissen kommt schließlich von Wissen. Von ihren Partnerinnen wurden sie jedenfalls nicht gedrängt, einen Skandal zu riskieren. Wer ist also nun tatsächlicher Mittäter bzw. „Beihelfer“? Jeder Mitarbeiter, alle? Oder nur derjenige, der die letzte Substanz besorgte, ohne die alle anderen Zutaten harmlos gewesen wären? Das vermutlich entscheidende Merkmal für die Gewissenlosigkeit ist das Wissen um die Dimension des eigenen Handelns und damit die Verantwortung.
11 Tote pro Minute
Aber zurück zur Praxis, diesmal kein erfundenes Beispiel, sondern etwas Handfestes, nämlich die Waffenindustrie. Ich bleibe mal bei dem einfachen und relativ harmlosen Beispiel „Maschinengewehr“, etwa dem RPL-7 von Kalaschnikow, dem NEGEV von Israel Weapon Industries oder dem MG4 von Heckler & Koch. Das RPL-7 bringt es auf bis zu 600 Schuss pro Minute, das NEGEV auf bis zu 1150 Schuss und das deutsche MG4 (nur) auf bis zu 950. Gehen wir davon aus, dass nur jeder 100. Schuss ein ordentlicher Treffer ist, dann wären das je nach Modell zwischen sechs und elf Tote pro Minute; die später Versehrten und Schwerbehinderten zählen in diesem Fall nicht. Jede dieser „Mähmaschinen“ ist also um Potenzen gefährlicher als das Gift unseres Abteilungsleiters.
Doch interessant wird es erst jetzt. Nehmen wir einmal vorsichtig an, bei Heckler & Koch, um bei der mustergültigen deutschen Firma zu bleiben, würden nur 100 Mitarbeiter im Stammwerk in Oberndorf am Neckar an der Herstellung der MGs beteiligt sein. Jeder dieser Mitarbeiter wüsste zwangsläufig über die Zweckbestimmung des Mordgeräts Bescheid. Wäre er dann im Fall des Falles Mittäter oder wenigstens Beihelfer? Nein, natürlich nicht. Andernfalls würden ja weltweit Millionen von Mittätern oder Beihelfern frei und ungeschoren herumlaufen.
Die Moleküle der Verantwortung
Lassen wir sie also in Frieden. Sie haben gute Gründe, sich kein Gewissen zu machen. Schließlich tragen ihre Arbeitgeber zum Gemeinwohl bei. Heckler & Koch zahlte offiziell im Jahr 2023 28,7 Millionen Euro Steuern. Über den Panzerhersteller Krauss-Maffei Wegmann weiß man nichts Genaues, außer dass er aus seiner Portokasse einmal in Zusammenhang mit Schmiergeldzahlungen ein Bußgeld von 175.000 Euro zahlen musste. Und keiner der Fabrikarbeiter, das geben wir gerne zu, baut ja die Maschinengewehre von Hand zusammen; das tun Maschinen mit hoher Präzision. Genau genommen würden also diese Maschinen zu Beihelfern oder Mittätern werden. Da aber Maschinen keine Verantwortung tragen können, lösen sich die letzten Gewissensmoleküle in Luft auf. Letztlich sind alle die Einzelkomponenten – Gehäuse, Rohr, Verschluss, Zuführeinheit, Griffstück, Schulterstütze, Zweibein, Spannhebel, Ladeanzeige, Munition etc. – mit den Zutaten unseres Abteilungsleiters zu vergleichen. Keine dieser Zutaten ist für sich genommen schuld, sondern erst in ihrem Zusammenwirken entsteht die perfekte deutsche, israelische oder russische Mordmaschine.
Und jetzt, da Sie vielleicht denken: „Was kann jetzt noch kommen in diesem Text?“, stellt sich die entscheidende Frage: Was wäre, wenn sich all die Hunderttausenden von Mitarbeitern der Waffen- und Rüstungsindustrie ein Gewissen machten? Was, wenn diese vom Tod von Millionen Mitmenschen profitierenden Firmen keine Mitarbeiter fänden, weil diesen auf geheimnisvolle (!) Weise ihre Mitschuld an Mord und Totschlag bewusst werden würde? Nun, zum Wohl unseres Bruttosozialprodukts geschieht das Gott sei Dank nicht.
Deutsche Rüstungsunternehmen steigerten ihre Umsätze 2023 um 7,5 Prozent auf insgesamt 10,7 Milliarden US-Dollar, 2024 und Anfang 2025 setzte sich diese volkswirtschaftlich wünschenswerte, sprich positive Entwicklung fort. 2022 beschäftigte Rheinmetall 25.486 Mitarbeiter, im Jahr 2024 waren es schon 28.539; inzwischen träumt die Firma von 40.000 Mitarbeitern. Frauen und Männer mit Gewissen wären da nur Gift für den Umsatz.
* Das Gas, mit dem unter anderem in Auschwitz gemordet wurde.









