Die Übernahme von Berg-Karabach durch Aserbaidschan ist ein lang ersehnter Erfolg für die Führung in Baku und eine Katastrophe für Armenien. Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan macht inzwischen Russland für diesen Misserfolg verantwortlich. In Moskau zeigt man sich über die Aussagen von Paschinjan indes empört.

Von Alexander Männer

Mit der Übernahme von Berg-Karabach am 20. September hat Aserbaidschan offenbar eine Entscheidung in dem Konflikt zwischen der separatistischen Enklave und aserbaidschanischen Zentralgewalt herbeigeführt, der noch auf den Zerfall der Sowjetunion zurückgeht. Die Provinz gehört zu Aserbaidschan, ist aber historisch von Armeniern bewohnt.

Damals, Anfang der 1990er Jahre, kostete der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach rund 30.000 Menschen das Leben und hatte auch ethnische Säuberungen zur Folge. Etwa 400.000 Armenier Aserbaidschans wurden durch blutige Pogrome und Massaker zur Flucht gezwungen. Aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden auch die 200.000 Aserbaidschaner, die seit Generationen nur Armenien als Heimat kannten. Als der Krieg 1992 seinen Höhepunkt erreichte, kamen nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation weitere 580.000 aserbaidschanische Flüchtlinge noch hinzu – die aus den von den Armeniern nun besetzten Provinzen Aserbaidschans rund um Berg-Karabach vertrieben worden waren. Von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen, zog Anfang der 1990er Jahre in Transkaukasien fast eine Million Menschen, entrechtet, entwurzelt und ohne Perspektive, in die Randgebiete der Großstädte, in vergessene Flüchtlingslager oder in vom Krieg zerstörte Geisterstädte.

Im Jahr 1994 vermittelte Russland einen Waffenstillstand, der die militärische Lage vor Ort zementierte. Der Waffenstillstand verkam allmählich zu einem Zustand, der bezeichnet werden könnte als „weder Krieg noch Frieden“. Dieser Umstand veränderte sich erst im Herbst 2020, als es auf Initiative Aserbaidschans zur massiven Konfrontation in der Region kam. Dabei hatte Baku mit der militärischen und politischen Unterstützung der Türkei und zahlreichen Waffenlieferungen einen Sieg errungen.

Im Grunde ist die aktuelle Entwicklung in diesem Konflikt eine Folge davon. Für die aserbaidschanische Führung, die immer wieder betont hatte, Berg-Karabach und die umliegenden Provinzen in sein Territorium so schnell wie möglich wieder eingliedern zu wollen – und vor allem in den letzten Jahren immer wieder versucht hat, mit militärischen Offensiven Teile Berg-Karabachs zurückzugewinnen – ist das ein lang ersehnter Erfolg. Für die Armenier hingegen ist der Verlust der Provinz, die in Armenien auch als Wiege der armenischen Kultur bezeichnet wird, eine regelrechte Katastrophe.

Angesichts dieser Lage hat der armenische Premierminister Nikol Paschinjan am Sonntag eine Botschaft an die Bürger seines Landes gerichtet, in der er laut der Agentur Reuters betonte, dass Aserbaidschans Militäroperation in Bergkarabach die Notwendigkeit einer Umgestaltung der inneren und äußeren Sicherheitsstrukturen des Landes aufzeige.

In seiner Rede behauptete Paschinjan auch, dass die Verantwortung für eine mögliche ethnische Säuberung der Armenier in Berg-Karabach unter anderem auf das russische Friedenskontingent fallen würde, und betonte, dass die Instrumente der armenisch-russischen Partnerschaft nicht ausreichten, um die äußere Sicherheit Armeniens zu gewährleisten.

In Moskau sieht man die Dinge jedoch anders. Das russische Außenministerium zeigt sich empört über die von Paschinjan gemachten Aussagen, in denen Russland für Armeniens politische Misserfolge verantwortlich gemacht wird. In der entsprechenden Erklärung, die auf der Webseite des Außenamts veröffentlicht wurde, heißt es:“Es wird versucht, von der eigenen Verantwortung für Fehler in der Innen- und Außenpolitik abzulenken, indem die Schuld auf Moskau geschoben wird.“

Zugleich betont man in Moskau, dass Russland seinen Bündnisverpflichtungen „immer treu geblieben ist“ und dass man die armenische Staatlichkeit respektiert habe. In diesem Zusammenhang weisen die Russen Reuters zufolge außerdem darauf hin, dass der armenische Regierungschef mit seinen Aussagen anerkenne, dass sein Land die ganze Zeit bewusst darauf vorbereitet gewesen sei, sich von Russland abzuwenden. So seien die Schritte, die darauf abzielten, die Entwicklung Armeniens nach Westen zu lenken, durch angebliche Fehler Russlands und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) gerechtfertigt worden. Allerdings seien die Versuche der Führung in Jerewan, die jahrhundertealten Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu zerstören, ein großer Fehler, der Armenien zu einer Geisel der geopolitischen Spiele des Westens mache.

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