Bundesregierung legt Nationale Sicherheitsstrategie vor, verortet Deutschland im globalen Machtkampf gegen Russland und China und verordnet der gesamten Bevölkerung „Wehrhaftigkeit“.

Die am gestrigen Mittwoch offiziell vorgelegte Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung verortet Deutschland fest im Machtkampf gegen Russland und gegen China und unterwirft die gesamte Gesellschaft einem alles umfassenden Begriff angeblicher Sicherheit. Wie es in dem Papier heißt, befinde sich die Welt aktuell „in einem Zeitalter wachsender Multipolarität“, in dem neue Mächte aufstiegen. Während China „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ zugleich sei, sei Russland dagegen „auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum“. Entsprechend bekräftigt die Sicherheitsstrategie, es gelte nun, die Bundeswehr umfassend aufzurüsten, sie „zu einer der leistungsfähigsten konventionellen Streitkräfte in Europa“ zu machen und Deutschland zudem zur militärischen Drehscheibe für die NATO zuzurichten. Spezielle Bedeutung misst das unter Federführung von Außenministerin Annalena Baerbock erstellte Papier der Fähigkeit der Bevölkerung bei, im „Konfliktfall“ jederzeit „die nötige Widerstandskraft … zu entwickeln“; dazu müsse „jede und jeder Einzelne“ beitragen. „Wehrhaftigkeit“ wird zum alles dominierenden, im Kern totalitären Imperativ.

Globale Umbrüche

Die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung wird in einer Zeit vorgelegt, in der tiefe Umbrüche die internationale Politik umwälzen. Der globale Einfluss Deutschlands, der EU und des transatlantischen Westens wird erkennbar schwächer. China steigt weiter auf und bietet sich zahlreichen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas als Alternative zur alleinigen Orientierung auf die ehemaligen westlichen Kolonialmächte an. Auch Russland ist in einigen Ländern und Regionen, insbesondere in Syrien und in Westafrika, durchaus mit Erfolg dabei, die westlichen Mächte abzudrängen, und es hat zudem mit seinem Angriff auf die Ukraine das westliche Gewaltmonopol sogar in Europa herausgefordert. Neue Bündnisse wie die BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), sämtlich aufstrebende Schwellenländer, oder die bislang um China, Russland und Zentralasien zentrierte Shanghai Cooperation Organisation (SCO) erhalten Zulauf. Die Rede von einer Weltordnung, die multipolar geprägt ist, also keine dominierende Supermacht wie die Vereinigten Staaten und keinen alles beherrschenden Machtblock wie den um die NATO zentrierten Westen mehr kennt, ist keine gehaltlose Phrase mehr, sondern entspricht immer klarer der Realität.

„Elemente der Rivalität“

Die Bundesregierung erkennt das in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie im Grundsatz an: „Wir leben“, heißt es in dem Papier, „in einem Zeitalter wachsender Multipolarität.“ Dabei bezieht Berlin vor allem gegen Russland und China Position. Über China heißt es in Übernahme der seit einigen Jahren genutzten Standardformel, es sei „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ zugleich.[1] „Partner“ bezieht sich darauf, dass wichtige deutsche Konzerne auf das Chinageschäft angewiesen sind.[2] „Wettbewerber“ zielt darauf, dass es chinesischen Unternehmen immer öfter gelingt, mit Erfolg als Konkurrenten deutscher Firmen aufzutreten. „Systemischer Rivale“ nimmt den Umstand aufs Korn, dass die Volksrepublik ihren Aufstieg in Weltwirtschaft und -politik fortsetzt und dabei mittlerweile auf allen Kontinenten erheblich an Einfluss gewinnt; in der westlichen PR wird die sich daraus ergebende Rivalität mit dem Westen gerne als ein „systemischer“ Gegensatz („Demokratie versus Autoritarismus“) verbrämt. Eine ausführlichere Darstellung der neuen Chinapolitik der Bundesregierung wird erst in einigen Wochen oder Monaten mit der seit langem angekündigten neuen Berliner Chinastrategie präsentiert. Schon jetzt heißt es aber, „Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs“ nähmen inzwischen zu.

„Die größte Bedrohung“

Hauptgegner ist aus Sicht der Bundesregierung allerdings nicht China, sondern Russland. „Das heutige Russland“, so heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie, „ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum.“ Auch um sich gegen Moskau durchsetzen zu können, schreibt das Berliner Strategiepapier die massive Aufrüstung der Bundeswehr fest, die „ihre militärische Präsenz im Bündnisgebiet … weiter ausbauen und verstetigen“ und zugleich „zu einer der leistungsfähigsten konventionellen Streitkräfte in Europa“ werden soll; Ziel sei es, „schnell und dauerhaft reaktions- und handlungsfähig“ zu sein. Dabei soll Deutschlands Funktion „als logistische Drehscheibe im Zentrum der Allianz“, die seit 2020 im Rahmen der „Defender“-Manöver eingeübt wird – aktuell: Air Defender 23 [3] –, gestärkt werden; es gehe, erläutert die Bundesregierung, nicht nur um Maßnahmen zum „Schutz der Verbündeten bei ihrem Aufenthalt in Deutschland“, sondern insbesondere um den Aufbau weiterer „Fähigkeiten zur logistischen Unterstützung, Gesundheitsversorgung, Fähigkeiten der Verkehrsführung“. Nicht zuletzt bekennt sich die Regierung zur sogenannten nuklearen Teilhabe; dies gelte, heißt es explizit, „solange es Nuklearwaffen gibt“.

Krieg und Wirtschaftskrieg

Sind Berlin und Brüssel im Machtkampf gegen Moskau zur Zeit noch klar auf die NATO angewiesen, so hält die Bundesregierung auf lange Sicht an dem Ziel fest, „die Europäische Union zu einer geopolitisch handlungsfähigen Akteurin [zu] machen“, die „ihre Sicherheit und Souveränität“ eigenständig gewährleisten kann. Dazu will sie in einem ersten Schritt „den europäischen Pfeiler“ der NATO stärken; dies verschaffe „eigenständige europäische Handlungsfähigkeit“. In diesem Kontext führt die Nationale Sicherheitsstrategie „moderne, leistungsfähige Streitkräfte der EU-Mitgliedstaaten“ ebenso auf wie „eine leistungs- und international wettbewerbsfähige europäische Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“. Das Berliner Strategiepapier insistiert zudem auf einer breiten wirtschaftlichen Unabhängigkeit, die insbesondere auch die „technologische und digitale Souveränität“ der EU umfasst. In Zukunft soll das europäische Staatenkartell dabei wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen noch umfassender nutzen als bisher: „Die Bundesregierung“, heißt es, „setzt sich für einen zielgerichteten und flexiblen Einsatz von Sanktionen der EU ein und stellt eine effektive Sanktionsdurchsetzung auf nationaler Ebene sicher.“ Internationale Kooperation, etwa mit den G7, soll „Effektivität und Effizienz“ der Sanktionen erhöhen.

„Die Sicherheitsstrategie leben“

Besondere Bedeutung misst die Bundesregierung nicht zuletzt der „Resilienz“ bei – der Fähigkeit der gesamten Bevölkerung, im „Konfliktfall“ stets „die nötige Widerstandskraft … zu entwickeln“. Um die gewünschte Resilienz zu gewährleisten, müsse man nicht nur über „gut ausgebildete Sicherheitsbehörden“, über „Organisationen der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr“, „eine starke Wirtschaft“ und eine fähige „Sicherheitsforschung“ verfügen, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Es gelte nicht nur, „den Schutz und die Versorgung der Bevölkerung mit essenziellen Gütern und Dienstleistungen“ und „die zivile, auch logistische, Unterstützung für die Streitkräfte [zu] sichern“. „Unverzichtbare Grundlage unserer Wehrhaftigkeit sind Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, ihren Beitrag hierzu zu leisten“, heißt es weiter in dem Papier: „Zivilgesellschaftliche Organisationen“, aber auch „jede und jeder Einzelne … können und sollen hierzu beitragen.“ „Wehrhaftigkeit“ wird zum alles dominierenden, im Kern totalitären Imperativ für die gesamte Gesellschaft. „Die Herausforderungen für unsere Sicherheit ziehen sich durch alle Lebensbereiche“, bekräftigte Außenministerin Annalena Baerbock am gestrigen Mittwoch [4]; das von ihr geführte Auswärtige Amt forderte auf Twitter: „Jetzt kommt es darauf an, die Nationale Sicherheitsstrategie in der gesamten Gesellschaft zu leben.“

 

[1] Zitate hier und im Folgenden: Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland. Nationale Sicherheitsstrategie. Berlin, Juni 2023.

[2] S. dazu Schäden im Wirtschaftskrieg.

[3] S. dazu Am Rande des Krieges (II).

[4] Simon Cleven: „Frieden und Freiheit fallen nicht vom Himmel“: Regierung stellt Nationale Sicherheitsstrategie vor. rnd.de 14.06.2023.

Der Originalartikel kann hier besucht werden