Der todkranke Whistleblower Daniel Ellsberg wünscht sich mehr Nachahmer und ist besorgt wegen der atomaren Drohungen.

Redaktion der Onlinezeitung Infosperber

Mitten im Vietnam-Krieg im Jahr 1971 hatte Daniel Ellsberg geheime Militärpapiere der New York Times und der Washington Post zugespielt. Sie wurden als «Pentagon Papers» bekannt. Die Dokumente deckten auf, dass die US-Regierung unter Lyndon B. Johnson sowohl die Öffentlichkeit als auch den Kongress über den Vietnamkrieg jahrelang systematisch belogen hatten. Nach der Weitergabe der 7000 Seiten starken «Pentagon Papers» wurde Ellsberg 1971 mit zahlreichen Anklagen konfrontiert, unter anderem aufgrund des Spionagegesetzes von 1917. Doch die Klagen wurden 1973 wegen Fehlverhaltens der Regierung fallengelassen.

Erst im Jahr 2021 enthüllte Ellsberg, dass die US-Regierung während einer Krise in der Strasse von Taiwan im Jahr 1958 Pläne für einen Angriff auf China mit Atomwaffen ausgearbeitet hatte.

Der heute 91-Jährige ist nach eigenen Angaben an einem tödlichen Krebs der Bauchspeicheldrüse erkrankt. Am 24. März gab er der New York Times wohl sein letztes Interview. Infosperber dokumentiert einige seiner Aussagen.

Angst, ins Gefängnis zu kommen

«Ich verlasse eine Welt, die sich in einem schrecklichen Zustand befindet, und zwar in jeder Hinsicht. Wir sind seit der Kubakrise einem Atomkrieg noch sie so nahe gewesen. Ich glaube auch nicht, dass die Welt mit der Klimakrise fertig wird. Wir wissen spärestens seit dem Pariser Abkommen von 2016, dass die USA ihre Emissionen bis 2030 um die Hälfte reduzieren müssen. Das wird nicht geschehen.

Warum gibt es nicht mehr Whistleblower ausser etwa Edward Snowden und Chelsea Manning? Viele Menschen, die Whistleblower informieren könnten, wissen um die Falschheit vieler Informationen, aber sie halten den Mund. Wie Snowden zu mir sagte: ‹Jeder, mit dem ich zu tun hatte, war sich bewusst, dass das, was die Geheimdienste tun, falsch und verfassungswidrig ist. Wir sammeln hier Informationen über US-Bürger, die wir nicht sammeln sollten.›

Doch seit der Obama-Regierung machen sich Whistleblower Sorgen, ins Gefängnis zu kommen. Abgesehen davon fürchten sie den Verlust ihres Arbeitsplatzes, ihrer Karriere, die Gefährdung der Geheimhaltungsstufe, von der ihre Arbeit abhängt.

Alle Staaten sollten sich verpflichten, auf einen Ersteinsatz von atomaren Waffen zu verzichten

Heute mache ich mir Sorgen wegen eines Atomkriegs. Ich wollte ihn immer verhindern helfen und undenkbar machen. Denn ein Atomkrieg würde die Welt zerstören.

Gerade jetzt in der Ukraine werden die Atomwaffen von beiden Seiten als Drohung eingesetzt, so wie ein Bankräuber eine Waffe benutzt, auch wenn er nicht abdrückt. Man kann von Glück reden, wenn man etwas durchsetzen kann, ohne den Abzug zu betätigen. Und das haben wir schon dutzende Male getan. Aber wie jeder Glücksspieler weiss, hat man irgendwann kein Glück mehr.

Seit siebzig Jahren drohten die USA häufig mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen, wie es Putin jetzt in der Ukraine tut. Wir hätten das nie tun dürfen, und Putin sollte es auch jetzt nicht tun. Ich befürchte, dass seine ungeheuerliche Drohung mit einem Atomkrieg, um die russische Kontrolle über die Krim zu behalten, kein Bluff ist.

Präsident Biden versprach im Wahlkampf 2020, eine Politik des Verzichts auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verkünden. Er sollte dieses Versprechen einhalten, und die Welt sollte die gleiche Verpflichtung von Putin einfordern.

Mit meiner Arbeit der letzten 40 Jahre wollte ich dazu beitragen, einen Atomkrieg zu verhindern. Ich konnte mir keine bessere Art und Weise vorstellen, meine Zeit zu nutzen. Allerdings habe ich wenig erreicht. Angesichts des Endes meines Lebens möchte ich meine beiden Söhne ermutigen, die Arbeit für den Frieden und die Sorge um den Planeten fortzusetzen.»

«Atomgefahr sollte nicht leichtsinnig weggewischt werden»

Der langjährige «New York Times»-Redaktor und Pulitzer-Preis-Gewinner Serge Schmemann warnt davor, die Gefahr eines Atomkrieges nicht ernst zu nehmen: «Es ist zwar befriedigend zu sehen, dass Putins Drohung mit Atomwaffen im Westen keine Panik auslöst. Doch die Gefahr sollte nicht einfach leichtfertigt abgetan werden.»

Die Angst vor einer atomaren Auslöschung sei unter Amerikanern nicht gross. Laut einer Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2022 würden Cyberangriffe heute als die grösste globale Bedrohung angesehen, gefolgt von Fake News, China, Russland, der Weltwirtschaft, Infektionskrankheiten und dem Klimawandel.

Doch die Atomwaffenarsenale Russlands und der USA würden immer noch ausreichen, um einen Grossteil der Erde auszulöschen. China dränge darauf, die dritte nukleare Supermacht zu werden. Und mindestens sechs weitere Länder, darunter die Diktaturen in Nordkorea und Pakistan, verfügten über Atomwaffen. Die anderen sind Grossbritannien, Frankreich, Israel und Indien.

Perverserweise habe die Komplexität der heutigen Welt «sogar so etwas wie eine Nostalgie für eine Zeit hervorgerufen, in der es nur zwei Supermächte gab und die Stabilität von einer gegenseitig zugesicherten Zerstörung abhing».

Schmemann hält nukleare Rüstungskontrollen heute so notwendig wie eh und je, und zwar nicht nur gegenüber Moskau.

Quelle: NYT, 13.3.2023

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