Die EU wird künftig den Großteil ihrer Erdgasimporte aus NATO-Staaten beziehen. Berlin dringt auf Flüssiggas aus Kanada – gegen den Widerstand von Klimaaktivisten und den First Nations.

Die EU wird ihr Erdgas künftig weitestgehend aus NATO-Staaten beziehen. Dies geht aus einer aktuellen Untersuchung des Verbandes Zukunft Gas und des Energiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Köln hervor. Demnach wird die Union im Jahr 2030 mehr Gas aus den USA importieren als bis zum vergangenen Jahr aus Russland. Lieferant Nummer zwei bleibt mit deutlichem Abstand Norwegen. Damit entsteht ein transatlantischer Energieblock, der bei seiner Gasversorgung im Falle eskalierender Kriege keinerlei Rücksichten mehr auf Drittstaaten nehmen muss. Eventuelle Flüssiggaslieferungen aus dem NATO-Staat Kanada wurden bei dem gestern zu Ende gegangenen Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz sowie Wirtschaftsminister Robert Habeck in Montréal sowie in Toronto diskutiert. Kanada exportiert bislang noch kein Flüssiggas, nicht zuletzt aufgrund des Widerstands von Klimaaktivisten und Organisationen der First Nations. Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges dringt Berlin darauf, Ottawa solle alle Widerstände überwinden und erste Exportterminals an der kanadischen Ostküste bauen. Die Bundesregierung hat konkrete Projekte im Visier.

Indirekt beliefert

Indirekt trägt Kanada schon dazu bei, die EU-Versorgung mit Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) auszuweiten und damit russisches Erdgas zu ersetzen. Zwar verfügt das Land bislang noch nicht über eigene LNG-Exportterminals; lediglich eins befindet sich aktuell im Bau – an der Westküste, und es soll künftig Länder in Asien beliefern. Allerdings hat Kanada seine Erdgasexporte in die Vereinigten Staaten erheblich aufgestockt; schon im Juni lagen sie laut Branchenangaben fast doppelt so hoch wie bei Beginn des Ukraine-Krieges im Februar. Die gestiegenen kanadischen Lieferungen in die USA setzen dort zusätzliche Mengen für die US-amerikanische LNG-Ausfuhr in europäische Länder frei.

Druck aus Berlin

Berlin macht sich dessen ungeachtet dafür stark, kanadisches Gas auch direkt zu verflüssigen und nach Europa bzw. nach Deutschland zu liefern. Damit stärkt es Öl- und Gaskonzernen den Rücken, die schon seit Jahren den Bau von Exportterminals an der kanadischen Ostküste nach dem Modell von US-Exportterminals planen, bislang allerdings nicht zum Zuge kamen. Bereits unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte Berlin Fühler nach Kanada ausgestreckt; Verhandlungen waren beim Besuch des kanadischen Industrieministers François-Philippe Champagne Mitte Mai in der deutschen Hauptstadt geführt [1] und unter anderem von Kanzler Scholz am Rande des G7-Gipfels im Juni in Elmau fortgesetzt worden. Auch bei der aktuellen Kanada-Reise von Scholz und Wirtschaftsminister Habeck stand Flüssiggas auf der Tagesordnung. Als aussichtsreich gilt vor allem der Plan, ein vorhandenes Importterminal auszubauen. Das Terminal Saint John LNG gehört dem spanischen Konzern Repsol; es liegt unweit der Kleinstadt Saint John in der kanadischen Provinz New Brunswick und versorgt Kanadas Ostküste wie auch den angrenzenden Nordosten der Vereinigten Staaten.[2] Die Erweiterung der Anlage um Exportvorrichtungen gilt als die unaufwendigste Option für den Aufbau einer kanadischen LNG-Ausfuhr.

Unterstützung aus Kiew

Die deutschen Bemühungen um kanadisches Flüssiggas werden aktuell von der Ukraine unterstützt. Dies betrifft ein LNG-Projekt bei Saguenay, einer Stadt in der Provinz Québec einige hundert Kilometer nordöstlich von Montréal. Dort will die kanadische Firma Symbio für mehr als zehn Milliarden Euro eine Verflüssigungsanlage und ein Exportterminal errichten; das benötigte Erdgas soll über eine 780 Kilometer lange Pipeline aus dem Westen des Landes herangeführt werden. Das Projekt ist schon im vergangenen Jahr von der Provinzregierung in Montréal abgelehnt worden, nicht zuletzt aufgrund der befürchteten Umweltschäden sowie aufgrund des entschlossenen Widerstandes von Organisationen der First Nations, der indigenen Bevölkerung Kanadas.[3] In diesem Frühjahr hat Symbio seine Pläne für Saguenay wieder aufgenommen – dies mit Rückendeckung aus Berlin. Zudem hat das Unternehmen eine Absichtserklärung mit dem ukrainischen Öl- und Gaskonzern Naftogaz über die Lieferung kanadischen Flüssiggases an die Ukraine geschlossen.[4] Der Schritt ist nicht zuletzt innenpolitisch motiviert: Er soll den Druck der ukrainischstämmigen Community in Kanada auf die Regierung erhöhen. Die Community geht zum guten Teil auf die Flucht von Anhängern des NS-Kollaborateurs Stepan Bandera am Ende des Zweiten Weltkriegs zurück.

Gegen Klimaaktivisten und First Nations

Bei der aktuellen Reise von Scholz und Habeck stand am Montag auch ein Treffen mit dem Premierminister der Provinz Québec, François Legault, auf dem Programm; die Entscheidung über das LNG-Projekt in Saguenay fällt im Wesentlichen in Legaults Zuständigkeit. Kanadas Premierminister Justin Trudeau, dessen Regierung das LNG-Exportterminal in Saguenay gleichfalls ablehnt, teilte nach den Gesprächen mit Scholz mit, er sehe für das Vorhaben auch weiterhin keine Perspektive.[5] Ursache sind die immensen Kosten. Zwar erhöht der massiv gestiegene Erdgaspreis die Aussichten, in Saguenay Profite erzielen zu können. Allerdings lohnt sich der Bau des Exportterminals nur, wenn von dort lange genug Flüssiggas ausgeführt werden kann, um die Bau- und Betriebskosten wieder einzuspielen. Laut offiziellem Stand will die Bundesregierung zu einem Zeitpunkt aus der Nutzung von Erdgas aussteigen, zu dem das noch nicht gewährleistet ist. Ob ein mögliches Abnahmeversprechen von Naftogaz die Lücke füllen kann, ist völlig ungewiss. Dessen ungeachtet hat Berlin neben Saint John LNG auch das Projekt in Saguenay weiterhin im Visier – gegen den entschiedenen Widerstand von Klimaaktivisten und Organisationen der First Nations.

Der transatlantische Energieblock

Unabhängig von den Berliner Bemühungen um kanadisches Flüssiggas zeichnet sich schon jetzt deutlich ab, dass die Erdgasversorgung Deutschlands und der EU künftig weitestgehend von NATO-Staaten geleistet werden wird. Dies ergibt sich aus einer aktuellen Studie des Verbandes Zukunft Gas und des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln.[6] Die Autoren des Papiers gehen davon aus, dass die EU im Jahr 2030 überhaupt kein Erdgas mehr aus Russland beziehen wird. Mit erheblichem Abstand größter Lieferant werden dann laut der Untersuchung die Vereinigten Staaten sein, die 2030 gut 170 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas jährlich in die EU liefern werden – mehr als Russland im vergangenen Jahr (155 Milliarden Kubikmeter). Die Erdgasabhängigkeit von Moskau wird demnach durch eine Erdgasabhängigkeit von Washington ersetzt. Zweitgrößter Lieferant wird der Studie zufolge Norwegen bleiben – mit einem Liefervolumen von knapp 120 Milliarden Kubikmetern Erdgas im Jahr. Größter Lieferant jenseits des westlichen Militärbündnisses wäre 2030 Qatar – mit rund 40 Milliarden Kubikmetern Flüssiggas. Der transatlantische Block hätte damit seine Abhängigkeit von Drittstaaten in hohem Maße reduziert und wäre im Fall von eskalierenden Kriegen zumindest mit Blick auf Erdgas keinerlei Zwängen zur Rücksichtnahme mehr ausgesetzt.

 

[1] S. dazu Der Erdgaspoker der EU (IV).

[2] Sanja Pekic: Repsol names Canaport LNG as Saint John LNG terminal. offshore-energy.biz 16.11.2021.

[3] Josh Grant: Ottawa rejection likely final blow for Quebec LNG plant. cbc.ca 09.02.2022.

[4] Ukraine und Deutschland werben um kanadisches LNG-Gas. fundscene.com 21.08.2022.

[5] Olivier Bourque: Douche froide pour GNL Québec. journaldemontreal.com 23.08.2022.

[6] Christian Geinitz: Die große Drift von Ost nach West. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.08.2022.

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