Die Lage

Der Ukrainekrieg beschwört die westliche Solidarität. Die EU, Großbritannien, vor allem aber die USA versprachen, die Ukraine zu unterstützen. Ziel ist ein Sieg der Ukraine, um sie als unabhängigen Staat zu erhalten, der sich der EU zuwendet. Die Solidarität speiste sich vordergründig aus der Empörung über den russischen Angriffskrieg und der Bereitschaft, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen. Dahinter stehen auch handfeste Interessen der USA, nämlich die Grenzen der westlichen Einflusssphäre in den Osten Europas zu verschieben und der Verkauf des durch Fracking gewonnenen Flüssiggases. Um sich im Verbund mit den USA gegen eine weitergehende Aggression Russlands zu schützen, hat die EU gemeinsam mit den USA zahlreiche Sanktionen gegen Russland verhängt, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Auswirkungen jedoch treffen die EuropäerInnen, nicht die USA. Und sie reichen nicht aus, um Russland zu einem Abbruch der Kriegshandlungen zu bewegen. Derweil zittert die EU, insbesondere Deutschland, vor einem Winter, in dem nicht ausreichend Energie zur Verfügung steht, um die Wirtschaft und die Opferbereitschaft der Bevölkerung am Laufen zu halten.

Indien, China, Iran und viele Staaten Afrikas haben aus vielen Gründen eine andere Haltung gegenüber dem Ukrainekrieg. Während große Teile Europas sich von den USA und der Nato geschützt fühlen, unterhalten sie nach wie vor wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland. Das hat zur Folge, dass Russland viele Hintertüren für die Durchsetzung seiner Interessen offenstehen, bis hin zur jüngsten Liaison Putins mit dem Iran und Lawrows Reise nach Afrika.

Wir sind an einem Stellvertreterkrieg beteiligt, in dem die Ukraine die Interessen der Nato und der USA unter Einsatz des Lebens und der Gesundheit ihrer Bevölkerung vertritt. Wenn wir Glück haben, werden damit auch unsere Interessen vertreten und wir müssen uns nicht mehr vor einer Ausweitung des inhumanen russischen Imperiums fürchten. Aber auch wenn die russische Armee offenbar in einer miserablen Verfassung ist, so ist doch davon auszugehen, dass Putin und Konsorten eher weiterhin Tausende ihrer Männer auf dem Schlachtfeld umbringen lassen, als ihre Ziele aufzugeben. Der Zermürbungskrieg fordert unendlich viele Opfer, und die Frage, ob wir, um deren Zahl zu reduzieren und einen Weg aus der Energiekrise zu finden doch auf Putin stärker eingehen müssen, wird selten gestellt – zu stark ist der Druck, sich aus den genannten Gründen mit dem Kampf der UkrainerInnen zu solidarisieren. Precht hat die Frage dennoch gestellt, und auch der sächsische Ministerpräsident. Kretschmer wurde auf seine Forderung, den Krieg einzufrieren, das Urteilsvermögen aberkannt, wobei Pöbel-Melnyk und die Süddeutsche ins gleiche Horn bliesen. Im Hinblick auf Prechts Aussagen hatte sich die Medienlandschaft schon genug über den Brief ereifert, den er mit anderen Intellektuellen zur Abwendung schwerer Waffen an den Bundeskanzler geschrieben hatte. Nach wie vor herrscht Übereinstimmung in den meisten Medien, dass der russische Vorschlag, Nord Stream 2 zu nutzen, wie es die Süddeutsche ausdrückte, „ein vergiftetes Angebot, der perfideste Köder seit Troja“ sei.

Die mediale Diskussion beschränkt sich derzeit auf die Frage, wo wir Energie herbekommen, um den kommenden Winter zu überstehen (vgl. u.a. den Presseclub vom letzten Sonntag). Wie teuer wird es, worauf müssen wir verzichten? Man könnte auch fragen, ob nicht die Angst vor der sozialen Unruhe der Armen durch eine andere Verteilung des Reichtums reduziert werden muss. Aber Politik und Medien sind sich weitgehend darin einig, diese Frage überhaupt nicht zu stellen. Und das ist nicht die einzige Leerstelle. Ich nenne nur zwei Bereiche, die zurzeit in den Diskussionen ausgeblendet werden: Unsere Energiequellen und das Verhältnis zu den USA.

Unser Freund und Helfer: Die USA

Die USA sind unsere Verbündete und Kanzler Scholz macht keinen Schritt mehr und auch keinen weniger als dem mächtigen Verbündeten genehm ist. Biden propagiert: „Wir wollen eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine, die über die Mittel zur Abschreckung und Verteidigung gegen weitere Aggressionen verfügt.“ Dafür muss die Ukraine kämpfen, dafür erhält sie schwere Waffen, primär von den USA, aber auch von Deutschland. Damit sind wir Kriegspartei, ob wir es wollen oder nicht. Niemand weiß, wie lange sich der Krieg hinziehen wird, und je länger er dauert, umso gefährdeter ist die Freundschaft mit den USA. Denn Biden und seine Partei haben in den USA nicht mehr lange etwas zu sagen. Was, wenn die Republikaner, wie zu erwarten, seine Handlungsfähigkeit nach den nächsten Wahlen zum Repräsentantenhaus weiter beschneiden? Und, schlimmer noch, was, wenn 2024 die Republikaner bei der Präsidentenwahl wieder am Ruder sind? Bleiben die US-Amerikaner mit der NATO weiterhin unsere Verbündeten, die Europa im Kampf gegen die Territorialgelüste der Russen unterstützen? Das ist eine der Fragen, die zurzeit nicht gestellt werden.

Unsere Energiequellen

Im Angesicht der Klimakatastrophe, auf die wir zusteuern, ist jeder Krieg ein noch größerer Wahnsinn, als es Kriege generell sind. Harald Welzer hat die Umweltzerstörung durch den Ukrainekrieg beschrieben, damit einher geht immer auch eine Beschleunigung des Klimawandels. Aber wen kümmert diese Frage, wenn es um unsere Energiequellen für den Winter geht?

Die Rettung soll durch das LNG kommen, das Flüssiggas, das durch „Fracking“ gewonnen wird. Es wird befürchtet, dass die Erdgasförderung durch Fracking zu unkalkulierbaren Umweltschäden führt. Dazu das Umweltbundesamt 2018: „Die Fracking-Technologie kann zu Verunreinigungen im Grundwasser führen. Besorgnisse und Unsicherheiten bestehen besonders wegen des Einsatzes von Chemikalien und der Entsorgung des anfallenden Abwassers (Flowback).“ Neue Studien lassen zudem befürchten, dass Fracking zur Produktion von Methan beiträgt, das für unsere Atmosphäre extrem schädlich ist. Da das durch Fracking gewonnene Gas aber aus den USA importiert werden soll, bestehen in Deutschland keine Einwände.

Zur problematischen Gewinnung des Flüssiggases kommt, „dass der Prozess der Verflüssigung, die Kühlung beim Transport, der Transport selbst und die Regasifizierung am Import-Terminal sehr energieaufwändig sind. All das zusammengenommen macht LNG in der Regel klimaschädlicher als Erdgas, das über Pipelines transportiert wird “ (Carstens 2022).

Im Gegensatz zu Europa waren viele Länder Asiens, Afrikas und Südamerikas schon lange vor dem Ukrainekrieg auf LNG angewiesen. Die höheren Preise, die nun die EU dafür zahlt, berauben diese Staaten der Möglichkeit, ihren BürgerInnen Gas und Strom zu erträglichen Preisen anzubieten. Die europäischen Staaten haben „ihren Flüssiggasimport vom 1. Januar bis zum 19. Juni im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 49 Prozent gesteigert; dabei nutzen sie die Tatsache aus, dass sie erheblich höhere Preise zahlen können als die Entwicklungs- und Schwellenländer etwa Südasiens.“ „Die europäische Gaskrise saugt die Welt bis aufs Blut aus“, erklärt ein Experte des auf Energie und Rohstoffe spezialisierten Beratungsunternehmens Wood Mackenzie. Die Folge unserer Jagd nach dem umweltschädlichen Rohstoff ist das Stilllegen von Industrien und Armut, bis zu Aufständen.

Was tun?

Wir haben die Wahl zwischen Skylla und Charybdis, oder zwischen Pest und Cholera. Wenn wir Nord Stream 2 aufmachen, vermeiden wir voraussichtlich soziale Aufstände und, damit einhergehend, einen Ruck nach rechts. Wir müssten uns nicht bei Erdogan bedanken, der einen Getreidekompromiss verhandelt hat und auf der anderen Seite die Kurden verfolgt und kritische JournalistInnen einsperrt. Wir würden so Millionen Menschen das Überleben ermöglichen. Gleichzeitig würden wir Russlands Ökonomie und Status im Krieg wie auch seine autokratischen Compañeros stärken, wir würden in eine EU- und Nato-Krise rasseln und die USA wären nicht mehr unser Freund. Wenn wir aber – das ist die andere Seite – in großem Maßstab umweltgefährdende Energiequellen wie LNG importieren oder die AKWs reaktivieren, gefährden wir unsere Zukunft und die unserer Kinder.

Wie auch immer wir uns verhalten, wir werden schuldig – eine klassische Tragödie unseres ganzen Volkes, nicht nur der PolitikerInnen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden