Ja, auch ich habe eine Netflix-Serie gesehen und das ist überaus unspektakulär. Zunächst wollte ich damit einfach abschalten.

Abschaltung durch Anspannung – eine bezeichnende Paradoxie der Gegenwartsgesellschaft. Seit meiner Kindheit stehe ich auf Gangstergeschichten und das ist einer der Hauptgründe, warum mich er Plot von Haus des Geldes angesprochen hat.

Zumal die Serie in einem Land produziert wurde, in dem einerseits nach wie vor die Nachwirkungen der europäischen Wirtschaftskrise und Sparpolitik seit 2008 verarbeitet werden müssen. Und in welchem es andererseits eine lange Tradition militanten, populären Widerstands gibt, denken wir etwa an Francesc „Quico“ Sabaté Llopart oder Lucia Urtubia. Die Gruppe „Los Soldiarios“, um Buenaventura Durutti überfiel 1923 mutmasslich auch die spanische Zentralbank. Insofern baut die Delinquenz des 21. Jahrhunderts auf einer langen Tradition auf und kann auf ihren radikalen politischen Gehalt hin diskutiert werden.

Warum kulturindustrielle Erzeugnisse hier einer Besprechung wert sind

Nach dem Ende der fünften Staffel (erschienen am 3.12.21) wurde mir bewusst, dass in er Serie allerlei explizit anarchistische Motive verarbeitet wurden. Weil es sich zugleich um eine der am meist gesehenen Serien überhaupt handelte, lohnt sich ihre Betrachtung. Zumindest wenn wir den Anspruch haben, uns mit zeitgenössischen kulturellen Phänomenen zu beschäftigen, um zu verstehen, was Leute bewegt. Tatsache ist, dass viele Millionen Menschen die Motive von Haus des Geldes aufgriffen und sich davon offenbar inspiriert fühlten.

Deutlich wird dies beispielsweise an der Wiederaneignung des italienischen Partisanenlieds „Bella Ciao“ durch die Sendung. Gerade weil sie auf ein massenkulturelles Erzeugnis ist, trug die Serie zur Verbreitung anarchistischen Fühlens und Denkens weit mehr bei, als ich es in meinem ganzen Leben werde tun können. (Ob sie es auch qualitativ vertieft, steht dabei allerdings auf einem anderen Blatt…) Vielleicht ist es allein schon mein damit verbundener Neid, der mich zur Frage führt, was die Popularität dieser Heist-Erzählung über die bestehende Gesellschaftsform aussagt.

Der Handlungsrahmen

In Haus des Geldes dringt eine Gruppe von zunächst acht Bankräubern in die spanische Notendruckerei und weiteren Verlauf (ab Staffel 3) in die spanische Zentralbank ein. Statt lediglich Geld mitzunehmen, drucken sie über Tage selber welches beziehungsweise schmelzen die staatlichen Goldreserven ein, um sie zu ergaunern. Um dies umzusetzen, nehmen sie die in den Prestige-trächtigen Gebäuden jeweils Anwesenden als Geiseln. Dabei haben die Räuber, deren Decknamen nach Hauptstädten vergeben wurden, Funkkontakt zum „Professor“, der von einem verborgenen Versteck aus agiert und den Überblick behält. Das Mastermind hinter dem Coup hat den detaillierten Raub mit Unterstützung seines Bruders „Berlin“ und dem Anführer „Palermo“ zwei Jahrzehnte lang ausgetüftelt und die Ganoven schliesslich rekrutiert und vorbereitet.

Neben der aufregenden Hintergrundmusik sorgt der nahtlose Übergang der verschiedenen Szenen, sowie die Offenheit des Handlungsverlaufs für Spannung. Interessant sind die eingefügten Rückblenden zur Vorbereitung der Aktion, sowie den Hintergründen der jeweiligen Charaktere. Verständlicherweise ist der ganze Aktionsverlauf in Abhängigkeit der Handlungen der Gegenseite her zu denken: Verschiedenen Ermittlern, Polizeiführern, Geheimdienstchefs und Soldaten mit ihren jeweils eigenen Beweggründen und Widersprüchen.

Integere Ethik und inspirierender Populismus

Das Kriminalität und Anarchismus im bürgerlichen Bewusstsein miteinander assoziiert werden, ist allgemein bekannt. Doch nicht das Übertreten von Gesetzen macht die Bankräuber*innen in Haus des Geldes zu Anarchist*innen. Vielmehr versuchen sie strikt nach ihren eigenen Regeln zu handeln. Dabei verstricken sie sich unweigerlich in zahlreiche Widersprüche. Dies verwundert auch nicht, denn immerhin begeben sie sich in eine hochgradig lebensbedrohliche Situation, die sie selbst geschaffen haben und nur die Androhung von Gewalt aufrechterhalten können.

Dabei sind sie von Sicherheitskräften umzingelt, denen der Tod der Beteiligten wie auch der Geiseln zunehmend legitim erscheint, um die Kontrolle wieder zu erlangen. Dagegen ist die oberste Regel der Gangster, dass keine Geisel sterben darf. Dass sie mit diesem höchsten Grundsatz in der Ausnahmesituation immer wieder in Konflikt kommen, zeigt ihr Ringen um ethische Integrität mit welcher die Kälte der staatlichen Militärmaschine und ihrer Logik kontrastiert werden kann.

Und damit sind die Bankräuber*innen erfolgreicher, als ihnen möglicherweise selbst bewusst ist. Sie bewegen ihre Gegner*innen und sogar Feind*innen zur Mässigung und sogar zum Überlaufen: So wechselt die leitende Ermittlerin Raquel Murillo Fuentes die Fronten und beteiligt sich ab Staffel 3 als „Lissabon“ am zweiten Überfall. Ebenso die Geisel „Mónica Gaztambide“ welche sich als „Stockholm“ anschliesst, um mit ihrem alten Leben zu brechen. Selbst die grausame Polizeichefin Alicia Sierra Montes, welche „Rio“ foltert, lässt schliesslich in der fünften Staffel die Waffen fallen. Von ihren eigenen Leuten verraten, erweisen sich die „Kriminellen“ letztendlich als die rechtschaffeneren Menschen, die sogar ihr vergeben können. Trotzdem sie bewaffnet sind, setzen die Anarchist*innen auf Überzeugung und Verführung, welche neben ihrer Entschlossenheit, ihre eigentlichen Stärken bilden.

Dieses Handeln geschieht aber nicht aus einer rein humanistischen Einstellung, sondern ist Teil der Strategie. Denn als wesentliche Voraussetzung für den Erfolg des Bankraubs gilt, dass die Bevölkerung mit den Bankräuber*innen sympathisieren muss. Die moderne Robin Hood Geschichte findet offenbar immer noch Anhänger*innen, welche den demokratischen Schutz der Öffentlichkeit ermöglicht. – Einem „Volk“, dass sich sehr wohl für Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit interessiert und zurecht auch vom Rachebedürfnis gegenüber den privilegierten Klassen geprägt ist, mit dem es einen emanzipatorischen Umgang zu finden gilt.

Hinzu kommt, dass die Gangster in der Öffentlichkeit stets Masken tragen. Statt der berühmten Anonymous-Gesichter ist für Polizei und Bevölkerung das immer gleiche Zerrbild eines Gesichts von Dalí zu sehen. Niemand oder jede*r könnte also die Gangster sein. Was zählt, sind nicht sie als Personen, sondern, wie sie handeln und was sie verkörpern: Mut, Entschlossenheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeitsstreben und Rache. Das Verhältnis der anarchoiden Aktivist*innen zum Volk ist damit keines der Führung und Bevormundung, sondern eines der Inspiration und Ermutigung. So werden die Zuschauenden zu Teilnehmenden, die aufgefordert sind, ihre eigenen Lebensumstände zu verändern und eine kämpferische Haltung einzunehmen.

Die Affinitätsgruppe der Verstossenen ihre leidenschaftliche Genossenschaftlichkeit

Die Gangster selbst bilden mehr als ein Team. Durch zahlreiche schwerwiegende Konflikte hindurch entwickelt eine Affinitätsgruppe, die stärker noch von Freundschaft, dem gemeinsamen Ziel und der gemeinsam gewählten Zwangslage, von genossenschaftlichen Beziehungen geprägt ist. Dieses Gemeinsame entwickeln die Einzelnen erst durch ihre Auseinandersetzungen. Ihre Klassenhintergrund reicht dabei von Proletariern („Denver“ und „Moskau“), über den Ingenieur „Bogotá“ hin zum Möchtegern-Aristokraten „Berlin“. „Palermo“ und „Helsinki“ sind schwul, „Manila“, die später zum Geschehen dazu kommt, ist eine Transfrau. „Tokio“, eine der Hauptfiguren, die auch die Hintergrunderzählstimme spricht, ist trotz ihrer in Szene gesetzten Attraktivität und Scharfsinnigkeit von tiefen Selbstzweifeln geplagt.

Letztendlich handelt es sich bei allen um Anti-Helden, die zum Teil durchaus problematische Verhaltensweisen an den Tag legen. Was sie vereint ist, dass sie sich als Verstossene fühlen, Ausgrenzungserfahrungen gemacht – aber dagegen strukturell vorgehen und somit um ihre Würde kämpfen wollen.

Dass die Auseinandersetzung darum stets auch in den eigenen Reihen zu führen ist, wird durch zahlreiche Konflikte um Geschlechterrollen verdeutlicht. So ruft „Nairobi“ gegen die mackerige Befehlsgewalt in Staffel 2 beispielsweise das Matriarchat aus und übernimmt die Führung. „Palermo“ lässt sich dies nicht bieten, kann aber seinen patriarchalen Führungsstil nicht langfristig durchsetzen, weil er sich schlichtweg nicht mehr als zeitgemäss erweist.

In jedem Fall sind es gerade die Widersprüche in den Charakteren selbst, welche nicht nur den Stoff für eine fesselnde Erzählung geben, sondern eine intensive Identifikation mit ihnen ermöglichen. Ermächtigung und Handlungsfähigkeit können nur von der Widersprüchlichkeit und Gebrochenheit, aber auch von den Sehnsüchten und Hoffnungen aus gelingen, von welcher wir in der bestehenden Gesellschaftsform geprägt sind.

Wenn von Bezugsgruppen und Gruppendynamiken die Rede ist, bleibt die Leidenschaft selbstverständlich nicht aus. Doch mehr als das: In der Erzählung nimmt die Liebe eine herausragende Stellung ein. Für meinen Geschmack fast übertrieben, wird damit nicht vorrangig ein mediterranes „Temperament“ darstellt. Vielmehr steht der Eros als spürbarstes und intensivstes Zeichen dafür, dass Emotionalität in sozialer Revolte eine wichtige Rolle spielen kann und darf.

Die Begegnung zwischen dem Professor und „Lissabon“/Raquel, zwischen „Tokio“ und „Rio“, zwischen „Denver“ und „Stockholm“; die Spannungen zwischen „Helsinki“ und „Palermo“, von Letzterem und „Berlin“; die Irritation zwischen „Denver“ und „Manila“, sowie wiederum zwischen „Stockholm“ und ihrem früheren Geliebten Arturo, als auch das unerfüllte Begehren des Polizisten Ángel Rubio seiner Kollegin Raquel gegenüber.

Mir persönlich sind die Techtelmechtel und Pärchengeschichten zu viel. Doch völlig überzogen ist die Serie ohnehin an allen Ecken und Enden, insbesondere in den Baller-Szenen. Worum es geht ist: Die Rebellion selbst geschieht aus Leidenschaft, um der Leidenschaft willen. Und zwar, weil mit ihr um das Leben selbst gerungen und gekämpft wird, was sich nur eine erotische Dimension hat, sondern sich durch diese auch am intensivsten erzählen lässt.

Jonathan

Haus des Geldes – La casa de papel

Spanien

2017-2021-70 min.

Regie: Jesús Colmenar

Darsteller: Álvaro Morte, Pedro Alonso, Úrsula Corberó

Musik: Iván Martínez Lacámara, Manel Santisteban

Kamera: Migue Amoedo

Der Originalartikel kann hier besucht werden